Seit nun bald einer Woche geistert ein neuer Kalauer durch die Kantinen, Büros und Stuben unseres Standorts. Wer ihn noch nicht kennt, gilt als Hinterwäldler, die wenigsten wissen jedoch, welche Geschichte sich dahinter verbirgt. Der Witz ist leicht zu merken, denn er besteht nur aus einem einzigen Wort: vorsichtshalber.
›Vorsichtshalber‹ ist die Antwort auf alle Fragen und das letzte Wort in jedem Streitgespräch. Wenn man für etwas zur Rechenschaft gezogen wird und keinen guten Grund für sein Handeln vorweisen kann, sagt man einfach: »Vorsichtshalber.« Wer in der Kantine um einen Nachschlag bittet, fügt hinzu: »Vorsichtshalber.« Verbraucht man im Vorstieg unnötig viel Material, entschuldigt man sich bei seinem Kletterpartner mit: »Vorsichtshalber«, und alles ist wieder im Lot.
Es ist inzwischen mehr als nur ein Scherz. Es ist eine Mode. Eine strenge Mode. Eine Pflicht. Ein Muss. Vorsichtshalber bindet man sich in die Sicherungskette ein, vorsichtshalber schnallt man sich im Auto an, vorsichtshalber führt man während einer Sitzung Protokoll und vorsichtshalber trinkt man noch ein Glas Bier, bevor man aufbricht. Sogar am Kondomautomaten im Keller der Offiziersmesse klebt seit gestern der Hinweis: »Vorsichtshalber!« Ich würde dieser Mode wahrscheinlich nicht die geringste Aufmerksamkeit schenken, wenn es sich bei dem Schöpfer des geflügelten Worts nicht um Heinrich Eliot Luv handeln würde.
Dass ich Eliot das letzte Mal gesehen hatte, war auf den Tag genau einen Monat her, als vergangenen Montag das Telefon meiner Dienststube klingelte. Es war um die Mittagszeit. Da das Geschäftszimmer meiner Stabsabteilung zurzeit nicht besetzt ist, muss ich sämtliche Gespräche selbst entgegennehmen. Ich erkannte sofort die Nummer von Heidts Sekretariat und meldete mich mit einem entspannten Hallo. Gudruns Stimme hingegen war ein aufgeregtes Flüstern: »Ich habe gerade einem gewissen Herrn Oberfeldwebel Luv erklärt, wo er Dein Büro findet. Ich dachte, ich warne Dich besser vor. Letzte Chance, Dein Hemd in die Hosen zu stecken und Dir einen ordentlichen Scheitel zu ziehen. Alles klar?«
»Alles klar«, bestätigte ich überrascht und legte nach einem kurz angebundenen Abschiedsgruß den Hörer zurück auf die Gabel. Wenngleich mir auf ewig schleierhaft bleiben wird, was Gudrun ständig an meiner Garderobe und meiner Frisur auszusetzen hat, empfinde ich es nachträglich doch als recht nützlich und sogar ein wenig erleichternd, sie eingeweiht zu haben. Nicht dass sie mir eine Wahl gelassen hätte.
Ich schaute auf die Uhr: Mir blieben ungefähr drei Minuten, um mich in Szene zu setzen. Schnell breitete ich auf meinem niedrigen Teetisch ein paar Karten aus, legte einen Kompass, ein Lineal, zwei Zirkel und mein Tourenbuch dazu und zeichnete zurückgelehnt an einer alten Bleistiftskizze weiter. Ich wollte unbedingt vermeiden, dass meine Arbeit langweilig aussah. Als es schließlich klopfte, rief ich »Herein« und tat ganz überrascht: »Eliot, was machst Du hier?« Ich legte meine Bleistiftzeichnung beiseite, gab ihm die Hand und bat ihn, Platz zu nehmen.
»Pragen ist heute zu Besuch bei Eurem Bataillonskommandeur und hat mich in Schlepptau genommen. Aber da die beiden über Mittag unter sich sein wollen, habe ich die nächsten eins, zwei Stunden nichts zu tun, außer Essen zu fassen und auf Abruf bereitzustehen.« Nachdem Eliot auf einem der Sofas neben dem kleinen Tisch Platz genommen hatte, stieß er mit seinen Knien fast an seine Nasenspitze. Ich habe die Sofas und den Tisch in einer alten Abstellkammer gefunden und zu mir ins Büro gestellt. Für Gäste und für lange Nächte. Die Möbel sind vollkommen in Ordnung, sie sind allerdings für Winzlinge gebaut. Die Tischplatte schwebt nur etwa dreißig Zentimeter über dem Fußboden und die Sitzflächen der beiden Sofas sind so niedrig und so tief, dass man darin nur lungern kann, aber nicht wirklich darauf sitzen. Eliot hielt seine Beine umschlungen, um nicht der Schwerkraft nachgeben müssen. Die verkrampfte Sitzhaltung, mit der er sich dagegen wehrte, tiefer in die Kissen zu sinken, erinnerte an ein halbaufgeklapptes Offiziersmesser. Um sein Schicksal nicht zu teilen, kniete ich mich einfach auf den Boden, um die Karten und die anderen auf dem Tisch verstreuten Utensilien beiseite zu räumen: »Tee?«, fragte ich.
Anstatt mir zu antworten, strich Elli über das abgewetzten Einband meines Tourenbuchs: »Was ist das?«, fragte er: »Es sieht ein bisschen so aus wie die Laborjournale meines Vaters. Darf ich es mir ansehen?«
»Nein«, sagte ich vermutlich eine Spur zu hektisch, da seine Hand erschrocken zurückzuckte.
»Es ist schon ganz aus dem Leim gegangen«, fügte ich deshalb erklärend hinzu und nahm mein Tourenbuch an mich.
»Verstehe«, sagte Eliot. Er hob kurz beide Hände, um mich zu beruhigen. Er musste seine Arme jedoch sofort wieder um seine Beine schlingen, um nicht nach hinten umzukippen.
Mein Tourenbuch sieht in der Tat ziemlich mitgenommen aus. Der Leinenüberzug ist an den Rändern vollkommen zerschlissen, manche Seiten sind lose und die Buchdeckel klaffen weit auseinander, weil es voller Erinnerungen steckt: Ansichtskarten, Werbeaufkleber, abgelaufene Skipässe, ausgeschnittene Zeitungsartikel und anderer Krimskrams. Der wahre Grund, warum Eliot das Buch nicht in die Finger bekommen sollte, waren allerdings die Fotos die ich mir von unserer gemeinsamen Bergtour habe nachmachen lassen und die ich ebenfalls in meinem Tourenbuch aufbewahrte. Ich habe mir allerdings nur diejenigen nachmachen lassen, auf denen Eliot zu sehen war. Eine merkwürdige Zusammmenstellung, wenn man nicht weiß, nach welchem Kriterium ich bei der Auswahl vorgegangen bin. Eliot würde jedoch vermutlich sofort dahinterkommen, einerseits in seiner Funktion als wachsames Auge des Ministeriums, andererseits einfach als er selbst. Deswegen nahm ich ein breites Gummiband, um die Buchdeckel meines Tourenbuchs zusammenzuhalten, und stellte zusätzlich meinen Zirkelkasten darauf.
Eliot war inzwischen aufgestanden und schaute sich das Alpenmodell an, das in letzter Zeit regelmäßig bei Einsatzplanungen Verwendung findet: In den Fluten der Isar trieb gerade ein Ertrinkender und von einem quer über die Schlucht gespannten Seil baumelte ein Bergretter, der den Verunglückten bergen sollte. Ich wollte Elli gerade das Szenario erklären, als eine Handvoll Kiesel und Dreck gegen die Fensterscheibe meines Büros hagelte. Ich öffnete das Fenster, um zu sehen, was es gab. Es war Gunnar, der mich zum Essen abholen wollte.
Da es seinen Angaben zufolge in der Kantine an diesem Tag nichts Gescheites zu essen gab, fragte er, ob ich nicht Lust hätte, zusammen mit ihm und den anderen zum Chinesen zu fahren. Eigentlich habe ich für solche Fälle immer ein paar gute Ausreden parat, doch ich kam nicht dazu, etwas aus meinem Repertoire zum Besten zu geben, da Gunnar plötzlich fröhlich winkte. Er schaute dabei jedoch nicht mich an: »Eliot, Eliot, wie geht’s? Beruflich hier? Hat sich Wilhelm was geleistet? Sieht ihm ähnlich. Aber sag, Du hast doch sicherlich Lust auf asiatische Küche. Das kann ich an Deinen Augen sehen.« Er zog seine Augenwinkel mit den Fingern zu den Schläfen und lachte. Gunnar verhält sich nüchtern nicht viel anders als im angeheiterten Zustand. Er ist dann nur nicht ganz so anhänglich und sentimental.
Ich drehte mich nach Eliot um, um mich für Gunnars Auftritt zu entschuldigen, doch Eliot schien der Spott nichts auszumachen: »Wenn Du wirklich wüsstest, was in meinen Augen geschrieben steht, würdest Du nicht lachen«, entgegnete er und trat ans Fenster: »Aber Hunger habe ich schon. Was gibt es für Alternativen?«
»Nur die mit weiblichen Geschlechtshormonen versetzte Pasta der Mannschaftsküche, die für Harmonie und Ruhe in den Stuben sorgen soll, und die fettigen Bratspieße in der Offiziersmesse, die hauptsächlich zur Steigerung des Schlaganfallrisikos dienen. Wo kämen wir denn hin, wenn die Offiziere nach ihrem Ausscheiden ewig Pension kassieren würden? Besser Du kommst mit uns zum Chinesen. Du muss dann nur aufpassen, dass Dich die Gäste dort nicht für einen Kellner halten.« Gunnar lachte und zeigte schließlich mit dem Finger auf mich: »Vielleicht kannst Du auch den ungekämmten Fürsten hinter Dir überzeugen. Er hat sich bestimmt schon eine faule Ausrede überlegt. Das macht er immer so.« Eliot drehte sich mit einem fragenden Blick zu mir um. Ich zuckte jedoch nur mit den Achseln. Ich hatte das Gefühl, dass ihm nach Gesellschaft zumute war.
Trotz seiner Schweigsamkeit ist Eliot kein missmutiger Eigenbrötler, wie ich es bin, sondern besitzt die Gabe, Teil von etwas zu sein, ohne jedoch wirklich dazuzugehören. Seine Ernsthaftigkeit und seine Ruhe inmitten einer ausgelassenen und angeheiterten Runde machen ihn zu dem Sonderling, den ich liebe. Er hört jedem zu, verschenkt sein Lächeln großzügig und ist trotzdem immer er selbst. Seine Art scheint auch bei den anderen gut anzukommen. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob mir seine Beliebtheit behagt.
»Wir kommen mit«, rief Eliot und trat vom Fenster zurück. Er sah nicht, wie ich heimlich das Gesicht verzog.
Um jederzeit zum Standort zurückkehren zu können, fuhr Eliot selbst und brachte mich in den erneuten Genuss, in Oberstleutnant Pragens Wagen durch die Gegend kutschiert zu werden. Allerdings war die Fahrt dieses Mal wesentlich entspannter als drei Monate zuvor. Eliot stellte einen Heimatsender im Radio ein und lachte über die Liedtexte, während ich die verschiedenen Sonnenbrillen ausprobierte, die ich im Handschuhfach fand …
…
…
…
… Nachdem Eliot, Gunnar und alle anderen ihre Glückssprüche vorgelesen hatten, stand nur noch meiner aus. Auf Eliots Drängen hin las ich den Spruch auf dem kleinen Zettel schließlich laut vor: »Versuchen Sie nicht, es festzuhalten, sondern lernen Sie, zu verlieren.« Der Spruch war gleich in vier Sprachen abgedruckt, die jedoch auch nichts daran änderten, dass ich als Einziger ein schlechtes Omen erwischt hatte. Meine Kameraden amüsierten sich jedenfalls köstlich über mein Unglück. Gunnar lachte am lautesten von allen und heizte die ausgelassene Stimmung weiter an, indem er nicht müde wurde, Mutmaßungen darüber anzustellen, was ich wohl zu verlieren hätte: meinen Ruf, mein Herz, meinen Verstand, meine Unschuld und so weiter. Er kam jedoch zu dem Schluss, dass man nicht verlieren konnte, was man nicht besaß, und brachte damit wieder alle zum Lachen. Eliot lachte ebenfalls, aber er schenkte mir auch einen kurzen, mitfühlenden Blick. Ich warf den Zettel in die leere Schale, in der die Glückskekse serviert worden waren, und bat den Kellner, die Rechnung zu bringen.
Auf dem Weg zurück zum Parkplatz blieb Eliot plötzlich an einem Baum stehen, dessen Zweige über die niedrige Mauer des Friedhofs zu uns auf die Straße hinausragten. Als ich ihn fragte, was los war, sah ich, dass er meinen Glücksspruch – oder Unglücksspruch – in der Hand hielt.
»Was willst Du damit?«, fragte ich irritiert. Ich hatte nicht bemerkt, dass er ihn mitgenommen hatte. Eliot antwortete mir jedoch nicht, da er gerade damit beschäftig war, mit einem kräftigen Sprung nach einem Zweig zu greifen und ihn zu sich herunterzuziehen. Nachdem ihm das gelungen war, knotete er den Zettel daran fest und ließ den Zweig wieder nach oben schnellen. Während sich der Baum mit einem kurzen Blütenregen für die Papierschleife bedankte, sprach Eliot ein paar leise Worte und verbeugte sich leicht. Erst dann wandte er sich mir zu. Er kam jedoch wieder nicht dazu, mir zu antworten, weil sich Gunnar plötzlich zwischen uns drängte: »Was war das denn gerade?«, wollte nun auch er wissen und er hatte auch schon einen Verdacht: »Etwa eine Geisterbeschwörung?«
»Meine Großmutter hat das auch immer so mit bösen Omikuji gemacht«, antwortete Eliot.
»Deine Omi hat was?«, fragte Gunnar mit einem spöttischen Lächeln.
»Es ist ein Ritual, um das böse Omen aus dem Glückskeks abzuwenden.«
»Und wie soll das genau funktionieren?«, fragte Gunnar kritisch und schaute in den Baum. Man konnte den kleinen Papierschnipsel kaum erkennen. Er war hoch über unseren Köpfen hinter grünen Blättern und weißen Blüten versteckt. Man musste schon wissen, wonach man suchte, um sein Versteck auszumachen.
»Die guten Geister des Baums neutralisieren den bösen Fluch«, erklärte Eliot geduldig, als wäre es das Normalste auf der Welt und Gunnar einfach nur uninformiert.
»Also doch eine Art Geisterbeschwörung«, sagte Gunnar und verschränkte seine Arme: »Hab’ ich mir’s doch gleich gedacht. Glaubst Du etwa ernsthaft an Geister?«
»Nein«, sagte Eliot: »Aber vorsichtshalber.«
»Nein, aber vorsichtshalber?«, wiederholte Gunnar so laut, dass es jeder hörte und sofort wissen wollte, um was es ging.
»Ja, vorsichtshalber«, bestätigte Eliot und machte sich in diesem Moment unsterblich. Denn das war der magische Moment, in dem die Redewendung ›vorsichtshalber‹ geboren wurde. Sie verbreitete sich daraufhin wie ein Lauffeuer und war bald in aller Munde. Noch am selben Abend traf ich auf eine Gruppe junger Rekruten, die darüber diskutierten, ob sie die letzte Stunde vor Zapfenstreich für eine kleine Tour durchs Dorf nutzen sollten. Nach einem unvermittelten einstimmigen ›Vorsichtshalber‹ lachten plötzlich alle los und machten sich ohne weitere Diskussionen auf den Weg, um ein letztes Bier zu trinken. Ich bin mir sicher, dass sie weder von meinem Unglückskeks noch von Eliots Geisterbeschwörung wussten. Trotzdem hatte sie das geflügelte Wort erreicht.
Als mich jedoch Eliot auf dem Weg zurück zum Standort zu einem Scharfschützenlehrgang einlud, ahnte noch niemand, dass er gerade einen Kalauer geschaffen hatte. Der zweiwöchige Lehrgang, von dem mir Eliot voller Begeisterung erzählte, wurde von einem amerikanischen Infanterieregiment ausgerichtet. Ein renommierter Elitekämpferausbilder reiste eigens aus den Staaten an, um eine vierzig Mann starke Truppe aus amerikanischen und deutschen Soldaten zu trainieren. Der Kommandant von Eliots früherer Fernspähereinheit hatte ihm und einer weiteren Person seiner freien Wahl die Teilnahme ermöglicht. Als mir Eliot schließlich erzählte, er hätte dabei gleich an mich gedacht und mich wegen dieser Sache schon anrufen wollen, glaubte ich ihm kein Wort. Ich konnte unmöglich seine erste Wahl sein. Bestenfalls war ich nach einer langen Reihe von Absagen vom letzten auf den ersten Platz gerückt. Ich wusste auch, wieso alle vor mir abgesagt hatten: der gleiche Grund, aus dem ich auch absagen würde. Denn ich hatte ebenfalls keine Lust, mich auf Kommando eines amerikanischen Feldwebels bäuchlings in den Dreck zu werfen und mit einer Zahnbürste zwischen den Zähnen seine Stiefel zu putzen.
Es ist kein Geheimnis, dass der wahre Zweck dieser Drillcamps nicht darin besteht, die Teilnehmer zu schulen, sondern sie zu brechen. Am Eingangstor muss man unter dem Motto ›Alle sind gleich‹ sämtliche Rangabzeichen ablegen, um sich anschließend vierundzwanzig Stunden am Tag schikanieren und demütigen zu lassen. Die begehrten Leistungsabzeichen dieser Drillcamps sind im Prinzip nichts weiter als ein Zeichen vollkommener Kapitulation. Wenn die Schulung für vierzig Personen ausgelegt ist, kann man davon ausgehen, dass nur für zwanzig Mann Waffen, Munition und Verpflegung bereitstehen, da die Ausbilder bereits einkalkulieren, dass die Hälfte der Truppe noch während des ersten Schulungstags – entweder unter Tränen oder mit der Drohung, wegen Menschenrechtsverletzungen Beschwerde einzulegen – die Segel streichen wird. Sollten wider Erwarten mehr als die Hälfte der Teilnehmer durchhalten, wird einfach der Schmerzfaktor erhöht.
Elli gab sich alle Mühe, meine Bedenken auszuräumen und mich zur Teilnahme zu überreden, was mich jedoch nur in meinem Glauben bestärkte, dass ich wirklich der Letzte auf seiner Liste sein musste. Als er seinen Kampf gegen meine Dickköpfigkeit schließlich aufgab, schüttelte er den Kopf und sagte: »Dann frage ich eben Jan.«
»Was?«, fragte ich entsetzt. Doch mein Entsetzen wurde von dem sägenden Geräusch der Handbremse übertönt. Wir waren wieder am Standort. Eliot löste seinen Sicherheitsgurt, zog den Zündschlüssel und stieg aus. Für ihn war das Thema erledigt. Er hatte mich gefragt, ich hatte nein gesagt und er hatte meine Entscheidung akzeptiert. So machen das erwachsene Leute. Ich versuche zwar noch immer, mir einzureden, dass es richtig war, die Einladung zu dem amerikanischen Drillcamp auszuschlagen, aber es funktioniert nicht.
Als ich aus dem Auto stieg, bot mir Jost ein Bonbon an. Da ich jedoch noch immer wegen der vermasselten Sache ein säuerliches Gesicht machte, fügte er aufmunternd hinzu: »Vorsichtshalber.« Die scherzhafte Anspielung auf Eliots Geisterbeschwörung, mit der er den bösen Fluch von mir hatte nehmen wollen, schaffte es tatsächlich, mich ein wenig aufzuheitern. Ich lachte sogar und nahm mir vorsichtshalber zwei Bonbons. Gunnar rauchte noch vorsichtshalber eine Zigarette, bevor er sich – ebenfalls vorsichtshalber – wieder an die Arbeit machen wollte. Auch die anderen gingen einer nach dem anderen vorsichtshalber ihrer Wege, und nachdem sich die Gruppe zerstreut hatte, waren nur noch Eliot und ich übrig.
Wir waren etwa eine Stunde weg gewesen, aber da Pragen und Heidt offenbar noch immer anderweitig beschäftigt waren, lud ich Eliot zu einem Spaziergang entlang der Isar ein. Sie fließt mitten durch unsere Kaserne und teilt den Standort in zwei ungleiche Hälften westlich und östlich des Flusses. Eliot gefiel das laute Rauschen des Wassers und das bunte Krabbeln und Schwirren in den hohen Gräsern entlang des Ufers besser als der ruhige See zwischen den Gebäuden seiner Münchner Dienststelle, der bis auf wenige Mittagsstunden immer im Schatten lag. Ihm taten plötzlich die beiden Schwäne leid, die dort ihr Dasein fristeten.
Wie Tomo musste auch Eliot jeden Käfer in die Hand nehmen, jeden Grashüpfer über seinen Arm laufen lassen und jede Spinne, die sich in seinem Anzug verirrt hatte, vorsichtig an einem sicheren Ort absetzen. Ansonsten machte er sich wenig Sorgen um seinen Anzug, wenn er über die aus dem Wasser ragenden Baumwurzeln kletterte, um dem Quaken eines Frosches nachzugehen, oder wenn der schlammige Boden unter ihm nach allen Seiten wegspritzte, während er eine Libelle verfolgte. Ich hatte mir unseren Spaziergang eigentlich etwas ruhiger vorgestellt und war froh, als er sich schließlich ins hohe Gras fallen ließ und sein Gesicht mit geschlossenen Augen Richtung Sonne reckte. Ich setzte ich mich neben ihn. Allerdings erst, nachdem ich das Gras rundherum flachgetreten hatte und sicher war, dass ich mich nicht in ein Insektennest setzen würde – und mit angezogenen Beinen, um der Tierwelt keine unnötig große Angriffsfläche zu bieten.
Der Standort war an diesem Tag angenehm ruhig, keine Hubschrauber, keine Manöver, keine quer über den Kasernenhof gebrüllten Kommandos. Wir hatten den Himmel, das Gras und den Fluss ganz für uns allein. In dem am anderen Ufer emporragenden Kompaniegebäude, in dem sich außer meiner Wohnung nur die Seminarräume der Sanis befanden, war niemand, und über die Brücke, die etwa zweihundert Meter flussaufwärts die beiden Kasernenhälften miteinander verband, eilten nur vereinzelte Soldaten, die meisten davon zu Fuß, manche auch auf dem Fahrrad. Manchmal beobachte ich dieses Nadelöhr und zähle die Dinge, doch dieses Mal schaute ich lieber Eliot beim Schlafen zu. Er lag jedenfalls so still da, als ob er schlafen würde. Selbst die Insekten, die sich ab und zu neugierig auf seine Hand setzten, um kurz darauf wieder weiterzufliegen, konnten seiner Ruhe nichts anhaben.
Ich nahm meine Mütze ab und struwwelte mir mit beiden Händen durchs Haar, bis ich das Gefühl loswurde, die Mütze noch immer auf dem Kopf zu tragen. Auch das störte ihn nicht. Nur als ich meine Mütze zwischen uns ablegte, blinzelte er kurz zu mir herüber, bevor er sich wieder schlafend stellte. Um ihn nicht zu stören, suchte ich mir ebenfalls eine lautlose Beschäftigung: Ich lauschte dem Plätschern der Isar und beobachtete die Sonnenstrahlen auf seinem schwarzem Haar. In dem hypnotischen Hin und Her zwischen den Farben des Flusses und den Farben der Sonne bemerkte ich plötzlich einen Wirbel. Er kam jedoch nicht von den Geräuschen und Lichtspiegelungen um mich herum, sondern von Eliots Aura, die ihn ansonsten wie ein sanftes Grießeln umgab. Der Wirbel war winzig klein und nur sichtbar, weil Eliot fast vollkommen reglos dalag und sogar seinen Herzschlag gedrosselt zu haben schien.
Ich streckte vorsichtig meine Hand nach seinem Kopf aus, führte die Bewegung jedoch nicht zu Ende, da gerade in diesem Moment eine Haarsträhne verrutschte und alle Aurapartikel in Aufruhr versetzte. Als sich das Chaos wieder gelegt hatte, formte sich sogleich wieder der wirbelförmige Energieabdruck. Meine Hand verharrte noch immer reglos in der Luft und auch meine Aura war ruhig.
›Vektoren‹ hatte es der Professor damals genannt, als ich ihm die Bilder beschrieb, die ich mit den Augen hinter meinen Augen sehen kann. Das schwache Vibrieren, das alles umgibt, das Lebendige mehr als Tote, weil es die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft als knisterndes Energiemuster abbildet. ›Geister‹ war hingegen Tomos Erklärung gewesen. Was die Sache jedoch meines Erachtens viel treffender beschreibt, ist der Begriff, den Oheim manchmal im Zusammenhang mit der Seele des Menschen erwähnt hat: ›Aura‹. Ich habe Oheim zwar nie vollends folgen können, aber seine Idee von einer für das normale Auge unsichtbaren Astralhülle, die den menschlichen Körper wie ein lodernder Kranz umgibt, schien mir plausibel.
Oheim hatte den Begriff jedoch zu stark an das Leben und das Menschsein gekoppelt. Wenn ich mir bewegte Dinge – belebt oder nicht, Mensch oder nicht – anschaue, sehe ich eine Bewegungsspur, die sie wie einen Schweif hinter sich herziehen. Außerdem antizipiere ich ein Bild der nahen Zukunft, so als würde die Bewegung ihre Schatten vorauswerfen. Ich sehe also drei Bilder: einen Abdruck der unmittelbaren Vergangenheit, das Objekt selbst und eine Antizipation des Ortes, an dem sich das Objekt im nächsten Augenblick befinden wird. Die Spur ist eher dunkel und verwaschen, das Objekt selbst farbig und die Vorausahnung leuchtend hell. Je heftiger der Bewegungsimpuls, desto greller das Leuchten. Bei kleinen Dingen entsteht dabei eine Art Pfeil, der aus der Vergangenheit in die Zukunft zeigt. Größere Objekte schieben hingegen eine breite Bugwelle aus weißem Rauschen vor sich her und hinterlassen eine Spur aus trübem Flimmern.
Während die Erwachsenen zeitweise ein immenses Aufheben darum gemacht hatten, war für Tomo meine Gabe immer selbstverständlich gewesen. Er half mir dabei, meine Fähigkeit gegenüber dem gewöhnlichen Sehen überhaupt erst zu begreifen, sie zu nutzen und später sogar sie zu unterdrücken. Tomo selbst besaß jedoch keine Aura. Denn Schatten und Licht haben nie eine Aura, alles andere hingegen schon. Das Volumen der Aura entspricht dabei dem Impuls der Bewegung, mit der sich das Objekt fortbewegt. Wie bei einer zu lang belichteten Fotografie, bei der Wasserrauschen zu Zuckerwatte, Sternschnuppen zu feinen Linien, Autos zu bunten Schlangen und Menschen zu transparenten Geistern werden.
Wenn man mit den Augen hinter den Augen sieht, erkennt man, dass sich alles bewegt, sei die Bewegung auch noch so klein. Selbst die Berge bewegen sich. Die aufgeworfenen Gesteinsplatten drücken mit ihrem ungeheuren Gewicht auf die Erde und halten sich aneinander fest, um nicht ins Tal abzurutschen. Bei genauerer Betrachtung wirken die Berge wie ein riesiger lebendiger Organismus. Lose Felsbrocken arbeiten sich durch die Kare nach unten, der Wind schmirgelt über die rauen Oberflächen, Sand rieselt aus den Ritzen und Kaminen, Flechten klettern an den Hängen hinauf Richtung Sonne, Gletscherwasser spült ins Tal hinab, Regen sickert durch die Gesteinsschichten, eine endlose Liste. Und dabei habe ich noch nicht einmal die Tiere aufgezählt: die Vögel, Lurche und Fellknäuel, die Käfer, Fliegen und Spinnen. Sie sind die Lebensadern der scheinbar reglos in den Himmel aufragenden Steinkolosse.
Bevor ich das Unterdrücken der Vektoren erlernte, machten mir schnelle und ausladende Bewegungen wie von aufgerissenen Türen, fahrenden Autos oder wehenden Vorhängen Angst. Wenn zum Beispiel ein Ball nach mir geworfen wurde, machte ich die Augen zu, weil ich von der leuchtenden Bugwelle geblendet wurde. Da sich mit geschlossenen Augen jedoch schlecht Ball spielen lässt, bot ich immer ein leicht abzuwerfendes Ziel.
Meine Gabe oder mein Defekt – wie auch immer man es nennen mag – blieben lange Zeit unbemerkt, bis mich der Professor fragte, warum die Gegenstände und Personen auf den Bildern, die ich malte, immer brennen würden. Mein Versuch, ihm zu beschreiben, was ich sah, wenn ich die Dinge betrachtete, bildete den Auftakt zu einer langen Versuchsreihe, die meine optische Wahrnehmung analysieren sollte. Das Schlimmste an diesen Experimenten war immer das lange Stillsitzen, während meine Pupillenweitung, Muskelspannung und Gehirnaktivität gemessen wurden. Doch ich lernte dabei, mich an die grelle Lichtentwicklung bei raschen Bewegungen zu gewöhnen und sie sogar ein klein wenig zu meinem Vorteil zu nutzen. Der Professor verlor allerdings recht schnell wieder sein Interesse daran. Seiner Meinung nach waren die Vektoren lediglich das Resultat einer fehlerhaften Verarbeitung meines Gehirns von Sinneseindrücken und somit zu nichts zu gebrauchen, doch für mich erweisen sie sich noch heute als nützlich. Einen unsicheren Mauerhaken erkenne ich auf einen Blick am glühenden Vibrieren beim Seilschlag und einen gut sitzenden Klemmkeil an seiner hauchdünnen, aber soliden Aura.
Das Unterdrücken von Vektoren ist lediglich eine Frage von Muskelarbeit und Konzentration, um die Bewegungsspur mit dem Objekt, das sie verursacht, zusammenfallen zu lassen und dadurch ein unverrauschtes Bild zu erzeugen. Es fühlt sich allerdings jedes Mal so an, als würde man die Wirklichkeit mit einem Hammer flachklopfen. Der dabei entstehende Realitätsverlust ist vergleichbar mit dem Effekt, der auftritt, wenn man etwas fotografiert. Ein Bild macht keine Geräusche und man kann darin nicht mehr um die Ecke schauen oder die Perspektive ändern. Das Spiel von Licht und Schatten geht verloren. Spiegelnde Oberflächen werden stumpf und Farben blass. Wenn ich die Augen hinter meinen Augen schließe, befinde ich mich plötzlich in einem Stummfilm und die Welt steht scheinbar still, obwohl sich alles darin wie gewohnt bewegt. Dennoch unterdrücke ich das Bewegungsrauschen die meiste Zeit. Eine schon beinahe unbewusste Augenübung, die mir nur dann nicht gelingt, wenn ich extrem müde oder extrem entspannt bin, was jedoch beides selten vorkommt.
Als ich mit Eliot auf der Wiese saß, fühlte ich weder müde noch besonders entspannt, dennoch hatten sich die Augen hinter meinen Augen geöffnet und den seltsamen Energiewirbel auf seinem Kopf entdeckt. Die Unebenheit in Eliots Aura erinnerte mich an eine Wunde oder vielmehr eine Narbe. Denn auch wenn es widersprüchlich erscheint, sprühen Wunden im Gegensatz zu gesundem Gewebe geradezu vor Lebendigkeit, während man eine Narbe an ihrem schwachen Puls erkennt. So schwach, als wäre der Mensch an dieser Stelle schon ein ganz klein wenig gestorben.
»Was ist los?« Eliot setzte sich auf und rieb sich die Stelle, als ob er meinen Blick gespürt hätte. Als er sah, wie mein halb ausgestreckter Arm über ihm in der Luft verharrte, fragte er erneut, was los war. Ich zog jedoch nur meine Hand zurück. Eliot schaute einen Moment nachdenklich in den Fluss, bevor er sich wieder rücklings ins Gras fallen ließ und seine Armbeuge über seine Augen legte, als ob er damit etwas abwehren oder sich darin verstecken wollte.
»Früher«, begann er plötzlich zu erzählen, ohne den Arm herunterzunehmen, »waren meine Alpträume schlimmer als heute. Viel schlimmer, denn sie waren real. Jedenfalls für mich. Meine Gehirnaktivität sank nur selten unter das für einen erholsamen Schlaf notwendige Niveau und meine Träume setzten mich nicht selten unter solch enormen Stress, dass ich mitten in der Nacht mit Nasenbluten aufwachte.«
»Wann früher?«, fragte ich leise, doch er erzählte einfach weiter, als hätte er mich nicht gehört. Es schien beinahe so, als spräche er nicht mit mir, sondern mit sich selbst. Seine Schlafstörungen hätten seit eh und je zu seiner Natur gehört, murmelte er vor sich hin. Wie sein Atem, sein Herzschlag und sein Denken, fügte er hinzu. Dennoch habe ihn sein Vater stets mit vorwurfsvollen Blicken bestraft, wenn er wieder einmal sein Laken vollgeblutet hatte oder nach mehreren schlaflosen Nächten zu spät zum Sonntagsfrühstück erschienen war. Im Wohnheim seiner Schule hatte man sich hingegen längst an seine nächtlichen Anfälle und das damit einhergehende morgendliche Fiasko gewöhnt, und da er nicht der einzige Junge war, der regelmäßig während des Unterrichts einschlief, fiel er auch im alltäglichen Schulbetrieb nicht weiter auf.
Aber eines Nachts sei er schreiend aus einem Alptraum erwacht, der schlimmer gewesen sei als alle Schrecken der Welt zusammengenommen. Ein Traum von einem endlosen Sterben und von stummen Kreaturen, die ihm dabei zusahen, anstatt ihm zu helfen. Da er damals nicht mehr zu beruhigen gewesen sei, habe man zunächst den Aufseher, dann einen Arzt und zuletzt sogar seinen Vater alarmiert, der wenige Stunden darauf tatsächlich im Internat erschienen war. Nachdem er für den Transport medikamentös ruhiggestellt worden war, hatte man ihn ohne weitere Umwege in ein Genfer Sanatorium gebracht, wo ein Freund seines Vaters im experimentellen Klinikbetrieb tätig war.
»Die Reise nach Genf war schön«, erzählte er fast ein wenig nostalgisch: »Trotz der Beruhigungsmittel, die mich benommen und nahezu bewegungsunfähig machten, nahm ich meine Umgebung wahr. Ich wurde in mehrere warme Decken gewickelt und auf den Rücksitz einer geräumigen Limousine verfrachtet, wo mich mein Vater in den Armen hielt. Es war keine zärtliche Umarmung, sondern lediglich ein improvisierter Krankentransport. In meinem linken Arm steckte eine Infusionsnadel, und wenn ich mich bewegte oder wimmerte, sagte mein Vater: ›Sch, sch, was machst Du mir denn für eine Mühe‹, tupfte mir den Schweiß von der Stirn und hielt mir ein feuchtes Tuch an die Lippen, um meinen Durst zu stillen. Die Fahrt dauerte die ganze restliche Nacht und den ganzen nächsten Morgen. Es war schön, so viel Zeit mit meinem Vater verbringen zu können, obwohl ich die meiste Zeit schlief. Doch wenn ich kurz aufwachte, war er da und seine Umarmung und seine Stimme beruhigten mich. Dann nickte ich tapfer, saugte ein wenig Flüssigkeit aus dem Tuch und schlief wieder ein. Um die Mittagszeit erreichten wir das Sanatorium.«
Eliot sah kurz auf und blinzelte mich an, als wollte er sich vergewissern, dass ich noch da war, bevor er mit seiner Erzählung fortfuhr: »Kaum war unser Auto vor dem riesigen Sanatoriumsgebäude vorgefahren, wurde ich von mehreren helfenden Händen aus dem Wagen gehoben und auf ein schmales fahrbares Patientenbett gehievt. Die Stimmen um mich herum sprachen Französisch. Ich musste mich erst wieder an den Singsang gewöhnen, um überhaupt ein Wort zu verstehen. Mein Tropf wurde an einem dafür vorgesehenen Stahlgestell aufgehängt und zwei Pfleger rollten mich über eine flache Rampe ins Innere des Gebäudes. Ich wollte mich aufrappeln, um nach meinem Vater zu rufen. Als ich jedoch bemerkte, dass ich mit straffen Riemen an das Bett gefesselt war, wurde ich panisch und begann, wie am Spieß zu schreien. Die Pfleger versuchten vergebens, mich zu beruhigen. Erst als sich ein älterer Herr über mich beugte und mit gebrochenem Deutsch sprach, hörte ich kurzzeitig, zu zappeln und zu schreien auf: ›Dein Vater lässt Dir ausrichten‹, sagte er, ›dass Du uns keine Mühe machen sollst. Wenn es Dir besser geht, wird er Dich abholen und ins Internat zurückbringen.‹ Er wandte sich an einen der Pfleger und sagte auf Französisch: ›Lassen Sie den Kleinen schlafen.‹ Ich kann mich nur deswegen so gut an diesen Wortlaut erinnern, weil ich diesen Satz fortan öfter zu hören bekommen sollte. Mir entfuhr noch ein letzter kraftloser Schrei, bevor ich in ein tiefes Koma fiel.«
Eliot wollte nicht auf die Details seiner Behandlung eingehen, doch als er die Klinik wenige Wochen danach als geheilt verlassen hatte, schienen seine schlimmsten Alpträume tatsächlich besiegt zu sein. Allerdings habe die Therapie eine unangenehme Nebenwirkung gehabt: Denn nach seiner vermeintlichen Heilung habe sich eine seltsame Traurigkeit in ihm breitgemacht. So als hätte man ihm etwas weggenommen, das bis dahin zu ihm gehört hatte wie sein Atem, sein Herzschlag und sein Denken. Er habe sich von dieser tiefen Depression nie wirklich erholt, sondern leide noch heute darunter.
Eliot öffnete seine Augen, blinzelte ins Licht und lachte: »Erst machten mich die Träume krank, und als sie dann endlich bezwungen waren, wünschte ich sie mir zurück.« Er zuckte mit den Schultern: »Ich habe diese Geschichte noch niemals jemandem anvertraut. Solche Geheimnisse haben schon zu einer nachträglichen Ausmusterung geführt. Da sich das Sanatorium in der Schweiz befand, die Behandlung privat erfolgte und die Ereignisse bald zwanzig Jahre zurückliegen, stehen die Chancen gut, dass selbst die gründlichste Sicherheitsüberprüfung diese hässliche Episode aus meinem Leben niemals wieder ans Tageslicht zerren wird.« Mit einer gezielten Handbewegung teilte er seine Haare an genau der Stelle, an der ich den Wirbel entdeckt hatte, und entblößte eine kreisrunde Narbe. Sein plötzliches Zutrauen machte mich ein wenig verlegen. Zögerlich streckte ich meine Hand aus und berührte die Narbe schließlich mit der Spitze meines Zeigefingers. Die kahle Stelle war gräulich und lag tiefer als die gesunde und behaarte Kopfhaut drumherum.
Eliot zeigte mir noch drei weitere, wenngleich weniger ausgeprägte Male, zwei davon an seinem Hinterkopf und eins in der Nähe seiner rechten Schläfe. Ich nickte, erwähnte jedoch nicht, dass ich die unbequemen Feststellapparaturen, die diese Abdrücke hinterlassen, aus eigener Erfahrung kenne. Allerdings sind bei mir nie Narben zurückgeblieben, obwohl ich immer wieder und auch über längere Zeiträume hinweg in diese metallenen Fixierrahmen eingeschraubt gewesen war.
»Auf der Stirn hatte ich damals ähnliche Male«, erklärte Eliot und befühlte die unsichtbaren Stellen mit seiner Hand: »Aber dort haben sie sich mit der Zeit zurückgebildet. Nur die unter den Haaren sind für immer geblieben. Vermutlich, weil dort keine Sonne hinkommt.« Er stützte sich rücklings auf seine Ellenbogen und erzählte weiter. Nach dem Aufenthalt im Sanatorium sei er noch wochenlang mit einem Kopfverband herumgelaufen. Nicht weil er größere Verletzungen davongetragen hätte, sondern weil er die kurzgeschorenen Haare und die Narben darunter verstecken wollte. Eliot schüttelte plötzlich heftig den Kopf, als ob er die alten Geschichten damit aus seinen Gedanken vertreiben könnte: »Halte ich Dich nicht von der Arbeit ab?«, fragte er und schenkte mir ein angestrengtes Lächeln.
»Ich arbeite doch«, entgegnete ich: »Meine Aufgabe besteht darin, Dich zu beschäftigen, damit Du hier nicht herumzuschnüffelst.«
»Oh«, lachte er, nahm meine Mütze, warf sie in die Luft und fing sie wieder auf: »Dann tu Deine Pflicht und beschäftige mich. Erzähl mir auch eine Geschichte aus Deiner Kindheit.« Er ließ sich wieder ins Gras fallen, spielte mit meiner Mütze und wartete auf die versprochene Beschäftigung. Ich schaute jedoch nur auf die leere Stelle zwischen uns, an der gerade noch meine Mütze gelegen hatte.
»Erzähl mir etwas Lustiges oder etwas, das sonst niemand über Dich weiß«, forderte Eliot. Ich zögerte jedoch. Er konnte nicht ernstlich erwarten, dass ich einem MAD-Agenten meine Geheimnisse anvertrauen würde. Oder etwa doch? Aber was gab es aus meiner Kindheit schon groß zu berichten? Wohl kaum, wie ich meinen besten Freund zu Tode gequält hatte. Deswegen erzählte ich ihm von den Schulfächern, in denen ich Klassenbester gewesen war, und von den Sportwettbewerben, die ich gewonnen hatte.
»Das ist weder lustig noch in irgendeiner Hinsicht besonders«, beschwerte sich Eliot: »Erzähl mir lieber von den Fächern, in denen Du nicht der Klassenbeste gewesen bist, und von den Wettbewerben, die Du verloren hast.«
»Malen, Zeichnen und der ganze Kram fiel mir immer schwer«, erwiderte ich und erzählte ihm von meiner ersten Kunstunterrichtsstunde. Ich war damals neu an der Schule gewesen und mitten im laufenden Schuljahr zu meiner Klasse gestoßen. Die Lehrerin hatte uns mit unseren Zeichenblöcken und Bleistiften auf den Pausenhof hinausgejagt, wo wir ein Motiv zum Thema Natur suchen sollten. Die anderen Kinder machten sich zielstrebig an das Abzeichnen der Bäume oder fertigten Skizzen von Pusteblumen und Hagebuttensträuchern an. Dazu saßen sie in Trauben um die Bäume, Sträucher und Blumen herum. Da ich jedoch Angst hatte, den anderen Kindern zu nahe zu kommen, suchte ich mir mein eigenes Objekt. Die einzigen Dinge, die außer mir keinem aufgefallen zu sein schienen, waren das Moos zwischen den Pflastersteinen vor dem großen Schultor, die Schäfchenwolken in der großen Pfütze vor den Fahrradständern und ein Spinnennetz vor dem rostigen Gitter eines Kellerfensters. Ich entschied mich schließlich für das Spinnennetz und setzte mich im Schneidersitz vor das niedrige Fenster, um mit meinem frisch gespitzten Bleistift die Wirklichkeit auf ein weißes Blatt Papier zu übertragen.
Das größte Problem bestand für mich jedoch darin, dass die Wirklichkeit zunahm, je länger ich sie betrachtete. Wo zunächst nur ein verwaistes Spinnennetzes gewesen war, sah ich plötzlich winzige Tautropfen auf unterschiedlich dick gesponnenen und in allen Regenbogenfarben schillernden Seidenfäden. In den Tautropfen spiegelten die Fenster des Schulgebäudes und in den Fenstern des Schulgebäudes spiegelten sich die Wipfel der Bäume auf dem Schulhof und die Wolken oben am Himmel.
Ich begann mein Bild mit spiralförmig angeordneten Kreisen, den Tautropfen. In die unterschiedlich großen Tautropfen malte ich gekrümmte Häuser und in die gekrümmten Häuser malte ich Wolken und Bäume. Eine Heidenarbeit. Hundert Mal das Gleiche zeichnen und doch jedes Mal ein bisschen anders. Nachdem ich alle Tautropfen mit Leben gefüllt hatte, verband ich sie mit geschwungenen Linien, dicken und dünnen, den Spinnenfäden, und in die Spinnenfäden malte ich kleine Regenbögen. Zuletzt setzte ich in die leeren Zwischenräume das vergitterte Kellerfenster. Das ging schnell, denn die Fensterscheibe hinter den rostigen Eisenstäben war so schmutzig, dass sich darin nichts spiegelte.
Am Ende war mein Zeichenblatt mit ineinander verschachtelten geometrischen Formen und geschwungenen Linien übersät. Es wirkte chaotisch, aber es hatte Struktur, und obwohl meine Zeichnung zu groß geraten war, um eine originalgetreue Abbildung der Wirklichkeit sein zu können, fand ich sie gar nicht so schlecht.
Als ich jedoch das Ergebnis meiner Arbeit meiner Lehrerin zeigte, konnte sie das Spinnennetz darin nicht erkennen und sagte, ich hätte das Thema verfehlt. Je mehr ich meine Zeichnung verteidigte, desto mehr fühlte sie sich auf den Arm genommen. Sie nannte mich stur und frech und sagte, es sei schade um das verschwendete Papier. Sie drohte mir sogar mit einem Eintrag ins Klassenbuch, beließ es dann aber doch bei einer schlechten Note, weil ich neu war und man mich dem Lehrerkollegium als schwierigen Fall vorgestellt hatte.
»Gibt es das Bild noch?«, fragte Eliot: »Ich würde es gerne sehen.« Ich musste ihn jedoch enttäuschen: »Nachdem die Klasse per Handzeichen entschieden hatte, dass auf dem Bild kein Spinnennetz zu erkennen war«, erzählte ich weiter, »musste ich es – als Strafe oder erzieherische Maßnahme, wer weiß – in kleine Stücke reißen und wegwerfen.«
Eliot erschrak. Aber nicht wegen meiner Geschichte, sondern weil ein helles, hektisches Piepen aus seiner Jackentasche ertönte: »Ich muss los«, erklärte er, gab mir meine Mütze zurück und kletterte die Uferböschung hinauf. Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, klopfte er sich das Gras aus dem Anzug, polierte seine Schuhe mit einem Taschentuch und rückte seinen Krawattenknoten zurecht.
»Sehe ich gut aus?«, fragte er und schnitt dabei eine Grimasse, weil ihm die Sonne ins Gesicht schien.
»Blendend«, antwortete ich und zupfte ihm einige Blätter aus dem Haar, ein paar davon echt, die anderen imaginär. Er verabschiedete sich mit einem geradezu förmlichen Handschlag, bevor er hastig Richtung Hauptgebäude der Kommandantur davonstürzte. Auf halber Strecke drehte er sich noch einmal um und winkte. Ich sah ihm nach, bis er um die Ecke verschwand.
Ich habe zwar seither nichts mehr von ihm gehört, aber er hat etwas von sich dagelassen: das Wörtchen ›vorsichtshalber‹. Es hallt mir auf Schritt und Tritt wie ein endloses Echo entgegen und erinnerte mich an den Spott, den Eliot auf sich genommen hat, um mich von einem Fluch zu befreien. Zugleich denke ich daran, wie wir uns gegenseitig unsere Kindergeschichten anvertraut haben, um uns kurz darauf mit einem förmlichen Handschlag von einander zu verabschieden. Diese distanzierte Nähe teile ich mit niemandem sonst und sie gibt mir das Gefühl, dass wir etwas Besonderes sind. Wir – das heißt, wir beide – sind etwas Besonderes. Jeder für sich hingegen nur gewöhnlich.
~ Wilhelm Fenner