Judastee

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:13

… Nachdem ich von Kopf bis Fuß gefilzt, durchleuchtet und abgetastet worden war – sogar meine Jacke, meine Mütze und meine Stiefel hatte ich ablegen müssen – wurde ich in einen spartanisch eingerichteten, aber dennoch vornehmen Wartebereich geführt. Zwischen mannshohen Palmen und mit farnartigen Gewächsen bepflanzten Blumenkübeln standen vier dickgepolsterte Sessel auf silbernen Federkufen, die sich wippend nach hinten neigten, sobald man darauf Platz nahm. Ein weißer Adonis versteckte seine Scham hinter einem großen Palmblatt der ausladend wuchernden Zimmerbepflanzung und starrte mit verklärtem Blick zur Decke. Die Decke starrte aus zwei länglichen Augenschlitzen mit kurzen Wimpern aus spiegelnden Silberlamellen zurück und tauchte den zum Flur hin offenen Besucherbereich in gleichmäßiges grelles Neonlicht. Eine bis zum Fußboden hinunterreichende Fensterfront gewährte einerseits einen imposanten Panoramablick auf den Park im Innenhof der Anlage und andererseits die Möglichkeit, ein letztes Mal zu prüfen, ob das Hemd ordentlich in der Hose steckte.

Ich setzte mich reihum in jeden der vier Stühle und schaukelte ein wenig vor und zurück, bevor ich durch die gläserne Wand hinunter in den gänzlich von Gebäuden umschlossenen Park schaute, in dessen Mitte ein von mächtigen Bäumen bewachter See lag. Der nicht zugefrorene Teil der Wasseroberfläche war spiegelglatt und vollkommen ruhig. Selbst an der Stelle, wo die nackten dünnen Zweige einer Trauerweide den See berührten, war nicht das leiseste Wasserkräuseln festzustellen. Neben dem gelblichen Spalier aus Weideruten ragte ein offener Steinpavillon wie eine kleine Landzunge in den See und im hohen Schilf der Uferböschung schliefen zwei Schwäne. Auch der Rest des Parks war aufgrund der gänzlich entlaubten Baumkronen gut zu sehen: mit Kies gestreute Wege, zugeschneite Rasenflächen und sogar Holzbänke zum Ausruhen. Doch der Park war menschenleer. Es war wohl zu kalt oder zu früh, vielleicht auch beides. Nur ein paar tapfere Wintervögel suchten in der harten Erde nach eiweißhaltiger Nahrung oder nahmen mit dem für sie in den Bäumen aufgehängten Trockenfutter vorlieb.

Die Wetterfahne auf dem Dach des gegenüberliegenden Gebäudes zeigte nach Norden. Die Meteorologen hatten also richtig gelegen. Ich selbst habe die vergangenen Tage nur selten in den Himmel geschaut. Und wenn ich es tat, sah ich in den vorüberziehenden Wolken weder Wasser noch Nebel, Schnee oder Eis, sondern nur meine eigenen Träume. Auch als ich Anfang der Woche gemeinsam mit Falk durch die schrundigen Gletschergebiete des Tiroler Alpenlands stieg und auf dem Rückweg auf einer ausgesetzten Sonnenterrasse Rast machte, war ich so sehr in mich selbst versunken, dass mich erst das schallende Schnappen eines Karabiners aus meinen Tagträumereien riss. Dösig blinzelte ich durch den Vorhang aus strahlendem Himmelsblau und sengender Mittagssonne und stellte erschüttert fest, dass Falk weinte. So etwas habe ich bei ihm noch nie erlebt. Seine zornigen Tränen glitzerten im hellen Sonnenlicht wie Tau, doch sein Gesichtsausdruck war so finster wie die Nacht.

Er musste zuvor irgendetwas gesagt haben, was ich vermutlich besser hätte hören sollen. Ein bisschen grob vielleicht, aber mit den besten Absichten wischte ich ihm mit dem weichen Innenfutter meiner Schneehandschuhe das Wasser aus den Augen und sagte scherzhaft: »Falk, Du taust.« Doch er war ausnahmsweise einmal nicht zum Scherzen aufgelegt und schlug mir mit einer abwehrenden Geste den Fäustling aus der Hand: »Weißt Du, wer hier taut?«, presste er wutschnaubend zwischen seinen Zähnen hervor. Ich erwiderte jedoch nichts, sondern hob schweigend meinen Handschuh auf.

»Du!«, spie er plötzlich aus und deutete, um jeglichen Zweifel auszuräumen, an wen sich seine Anklage in dieser menschenleeren Gegend richtete, mit dem Finger auf mich, während ich den Schnee aus dem Futter meines Fäustlings klopfte: »Du taust!« Sein Echo gab ihm recht. Wutschnaubend band er sich aus und sagte, dass er lieber umkommen wolle, als auch nur einen Schritt weiter mit mir in einer Seilschaft unterwegs zu sein. Ich respektierte seine Entscheidung, denn Sorgen brauchte ich mir um ihn keine zu machen. Er kannte den Weg genauso gut wie ich.

»Ich dachte immer«, fuhr er mich an, »der Grund für Deine Einsamkeit und Zurückgezogenheit läge in Deiner Introvertiertheit und Deinem Hang zur Melancholie. Ich hatte sogar Mitleid mit Dir, aber jetzt weiß ich es besser: Du bist einfach nur boshaft und gemein.«

Ich zuckte mit den Schultern. Was hätte ich auch sagen sollen? Etwa dass ich nicht boshaft und gemein bin? Auf Falks Mitleid konnte ich jedenfalls verzichten, dennoch bat ich ihn, wenigstens einen Teil der Ausrüstung mit ins Tal zu nehmen. Trotzig wischte sich Falk die Tränen aus den Augen, wickelte eines der Seile um seine Brust und stopfte die große Schneeschaufel zusammen mit einem Satz Schlingen und Schrauben in seinen Rucksack, bevor er ohne weitere Worte über das weite und weiße Schneefeld davonzog. Wir schieden im Streit, und als wir uns später zufällig am Bahnhof begegneten, taten wir so, als ob wir uns nicht kennen würden, und fuhren in getrennten Abteilen nach Mittenwald zurück.

Ich riss mich von dem großen Panoramafenster los und streifte durch den Wartebereich. Der Zeitungsständer war in drei verschiedenen Sprachen sortiert. Gelangweilt las ich die Schlagzeilen und schaute mir anschließend die exotische Zimmerbepflanzung an. Doch gerade in dem Moment, als ich hinter das große grüne Palmblatt spähen wollte, hörte ich, wie sich eine Fahrstuhltür öffnete und schnelle Schritte den Gang entlang auf mich zukamen. Ich ließ das Blatt zurückschnellen und wirbelte herum.

»Habe ich Sie warten lassen? Ich hoffe, Sie hatten es nicht zu unangenehm«, entschuldigte sich Pragen sofort und nahm meine beiden Hände. Ich schüttelte den Kopf und erzählte, dass ich bis auf die Gängelei durch die Cerberuseinheiten, die den Zugang zum Hochsicherheitstrakt bewachten, wenig auszustehen gehabt hätte.

»Es freut mich«, fügte er, nachdem er meine Hände lang genug geschüttelt zu haben glaubte und mich von Kopf bis Fuß mit einem teils belustigten, teils abschätzigen Blick gemustert hatte, hinzu: »dass sie so zwanglos hier erschienen sind.« Ich schaute ebenfalls an mir herab und verstand nicht genau, worauf er anspielte. Feldbluse, Kniebundhosen und Kniestrümpfe waren tadellos in Form und Stiefel und Koppel blitzblank geputzt und poliert. Auch sämtliche Schildchen, Schnallen und Abzeichen waren ordnungsgemäß montiert und als Kopfputz trug ich meine graue Bergmütze.

Ich wollte etwas erwidern, denn ich hatte mich zwar nicht in den großen Dienstanzug gezwängt, war aber auch nicht im Sportzeug angetreten, doch Pragen kam mir zuvor und versicherte mir mit entwaffnender Freundlichkeit, wie sehr er sich über meinen Besuch freue. Alles war mir plötzlich zu viel: Die wippenden Stühle, die französischen Schlagzeilen, das Panoramafenster, der weiße Adonis und Pragens undurchschaubare Art schlugen wie haushohe Wellen über mir zusammen und rissen mich mit einem energischen Ruck unter Wasser. Ich hatte das Gefühl zu ertrinken und musste mich zusammenreißen, um brav zu nicken, als mich Pragen schließlich aufforderte, ihm die Freude einer gemeinsamen Tasse Tee zu gestatten.

Vielleicht war ich auch nur deswegen so nervös, weil mir die Sache mit Falk doch mehr Kopfzerbrechen bereitete, als ich mir eingestehen wollte. Er redet seit seinem Tag kein unnützes Wort mehr mit mir und plant sogar, seinen Feldwebelposten in meiner Stabsabteilung aufzugeben. Sein Schweigen ist zwar eine Wohltat, aber sein Zorn verletzt mich, denn ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um ihn zu retten, und ersparte ihm sogar ein böses Disziplinarverfahren. Der Leitende Beamte der Bonner Wehrdezernate wollte an ihm ein Exempel statuieren, um Nachahmer abzuschrecken: Eintrag in die Dienstakte, Degradierung und Versetzung an einen Mainzer Schreibpult. Die Strafe lag schon fest, bevor das Verfahren offiziell in die Wege gleitet worden war. Ich habe für Falks fahrlässige Flausen zwar ebenfalls kein Verständnis, bin jedoch ebenfalls kein Freund von drakonischen Strafmaßnahmen. Ich verschaffte ihm die nötige Rückendeckung durch die Bataillonsführung, nahm einen Teil der Schuld auf mich und bettelte vor dem Untersuchungsgremium des Truppendienstgerichts um Gnade vor Recht. Von diesen Bemühungen ahnt Falk allerdings nichts. Er denkt, ich hätte ihm den unvermeidlichen Zusatzdienst und Heidts Zurechtweisung eingebrockt. Meine Privataudienz beim Leiter der Münchner Geheimdienststelle trug ein Übriges zu der schlechten Stimmung zwischen uns bei.

Bevor ich Pragen jedoch in sein Büro folgte, drehte ich mich noch einmal verstohlen nach dem Palmblatt um, das noch immer vor den Hüften der weißen Statue auf und ab schaukelte …

… dass beim Ausschenken kein Tropfen daneben ging und auch die Tülle nicht kleckste. Pragen beherrschte jeden Handgriff dieser alten alchemistischen Kunst, als wäre es sein Beruf, und ich kam erneut in den Genuss, die perfekt einstudierte Choreographie zu bewundern, mit der seine linke Hand Krawatte, Ärmelsaum und Jacke zurückhielt, während die rechte die notwendigen Zauberrituale ausführte.

Dankbar nahm ich meine heiße Tasse entgegen und hielt meine Nase in den aus dem bernsteinfarbenen Kräutersee aufsteigenden Nebel. Die Wassertropfen setzten sich wie kühler Tau auf meine Stirn, meine Nase und mein Kinn, während das heiße Porzellan wie ein kleiner Ofen in meinen Händen brannte. Ich liebe es, dem Tee auf diese Weise beim Abkühlen beizuwohnen. Alle Sinne konzentrieren sich auf den Moment, wenn sich die Nebelwand verflüchtigt und der Schmerz nachlässt.

Die kühlen Tautropfen auf meiner Haut und das Hitze zwischen meinen wie zum Gebet um die Tasse gefalteten Finger ließen mich für einen kurzen Augenblick alle um mich herum vergessen, bis Pragen mich plötzlich fragte, warum ich denn nicht trinke, wo ich doch so sehr auf heißen Tee bestanden hätte. Ich fühlte mich ertappt und probierte auf Pragens amüsierten Blick hin anstandshalber einen ersten Schluck. Der Tee schmeckte köstlich, aber Pragen wollte kein Lob. Ich ließ es gut sein und genoss die Ruhe vor dem Sturm. Mir war klar, dass er mich nicht nur zum Teetrinken nach München bestellt hatte, doch zugleich spürte ich, dass er es niemals wagen würde, den heiligen Moment von Feuer, Wasser und Erde durch weltliche Angelegenheiten zu entweihen.

Pragen erkannte sofort, dass ich das Teetrinken im deutschen Norden erlernt hatte, und wollte alles über meine Erfahrungen mit der ostfriesischen Teekultur wissen. Ich selbst war zwar nur auf kurzen Ausflügen in Ostfriesland unterwegs gewesen, erzählte ihm jedoch alles, was ich von Admiral Witt über die Ostfriesen, ihren Kluntje und ihren Rohm wusste. Im Gegenzug weihte mich Pragen in die dunklen Machenschaften der Teeindustrie ein und berichtete von den Hungerlöhnen der Arbeiter auf den indischen Teeplantagen und von den überteuerten Preisen der gestreckten Schmuggelware auf dem Schwarzmarkt der hanseatischen Teekontore. Gegen Pragens Teekenntnisse wirkte selbst der alte Witt wie ein Laie und ich merkte, wie wenig ich über die Welt des Tees wusste. Der Oberstleutnant hatte in mir jedenfalls einen dankbaren Zuhörer gefunden. Auf meine neugierige Fragerei hin zeigte mir Pragen sogar das Gütesiegel und das Reinheitszertifikat der Winterernte aus dem Westen Darjeelings, die wir gerade tranken. Den Preis dieses vermutlich nicht nur edelsten, sondern wahrscheinlich auch teuersten Erzeugnisses indischer Teeware auf deutschem Boden wollte er mir allerdings nicht verraten. Über so etwas spreche man nicht bei Tisch, ermahnte er mich. Und schon gar nicht beim Tee.

Es fiel mir schwer, Pragen nicht zu mögen. Aber ich gab mir Mühe, denn ich musste mir selbst beweisen, dass Falk sich in mir geirrt hatte. Als ich mit meinen Fingern über den feinen Goldrand und das Blumenmuster meiner Tasse wandern ließ, erklärte mir Pragen, dass die Teetassen noch aus der Aussteuer seiner Mutter Margaretha Sophie Elisabeth von Alvensleben stammen würden: »Oder Greta Pragen, wie sie sich nach ihrer Heirat mit meinem Vater Kajetan-Lewin Pragen vorzustellen pflegte«, erzählte er weiter: »Sie liebte es schlicht und wählte dieses Teeservice als einzige Brautgabe aus dem beträchtlichen Familienschatz der von Alvenslebens aus. Das Andenken an meine Mutter lehrt mich Bescheidenheit.«

»Es ist einfach, bescheiden zu sein, wenn man adlig und wohlhabend ist«, erwiderte ich, und bemerkte erst, als ich mir selber zuhörte, wie idiotisch ich wieder einmal klang. Doch Pragen lachte zunächst nur, dachte einen Moment nach und stimmte mir schließlich sogar zu: »Sie haben recht, Wilhelm, und dank Ihrer Offenheit habe ich heute etwas dazugelernt. Auch nach einem halben Jahrhundert ist man immer noch Sextaner. Bescheidenheit ist kein leichtes Thema. Wie einfach ist hingegen das Aufgießen von Tee und wie vergänglich der Moment, in dem man das heiße Getränk genießen darf.« Er trank einen Schluck und nutzte die Gelegenheit, um von der Erinnerung an seine Mutter auf meine familiären Verhältnisse zu sprechen zu kommen: »Wilhelm, welches Andenken haben Sie an Ihre Familie? Es wird immer wieder fälschlicherweise angenommen, Sie wären in Russland aufgewachsen. Wenn ich Ihre Akte jedoch richtig verstehe, stand das russische Waisenhaus, in dem Sie Ihre Kindheit verbracht haben, auf lettischem Boden. Wie alt waren Sie, als Sie in das Waisenhaus aufgenommen wurden? Und wo haben Sie vorher gelebt?« Mit vor Furcht schweißnassen Händen stellte ich meine Teetasse vor mir ab. Ich war mir nicht sicher, ob Pragen mich gerade verhörte oder ob er bloß neugierig war. Dies waren genau die Fragen, die ich seit beinahe zwanzig Jahren fürchtete, doch Pragen war der Erste, der über genügend Scharfsinn verfügte, sie zu stellen. Wie Professor Meissmann …

… Bevor Pragen mich verabschiedete, füllte er eine Handvoll von dem Tee, den wir zusammen getrunken hatten, in einen kleinen durchsichtigen Beutel: »Hier«, sagte er und drückte mir den durch eine Art Reißverschluss wiederverschließbaren Plastikbeutel in die Hand: »Das reicht für gut zehn Tassen oder zwei große Kannen. Lagern Sie den Tee trocken und dunkel und möglichst luftdicht verpackt und nehmen Sie weiches Wasser und achten Sie darauf, dass die Temperatur …, aber ach«, unterbrach er sich plötzlich: »Wem sage ich das? Hören Sie nicht auf mich, sondern experimentieren Sie einfach damit.« Ich schämte mich. Trotzdem nahm ich das großzügige Geschenk an und bedankte mich. Doch wie zuvor verbat sich Pragen jeglichen Dank. Da es in seiner Dienststelle niemanden gebe, mit dem er gelegentlich eine gute Tasse trinken könne, sei er derjenige, der sich zu bedanken habe. Die Münchner Agenten tränken allesamt nur Kaffee oder Bier – je nach Tageszeit und Anlass. »Oder Limonade«, fügte er mit einem Schmunzeln hinzu und fragte, ob er mir eine Eskorte bestellen dürfe. Eine echte Wahl ließ er mir allerdings nicht: »Ich bin ihr Freund, Wilhelm, und ich meine es gut mit Ihnen. Das sollten Sie wissen«, sagte Pragen plötzlich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck und strengen Ton. Es klang fast so, als ob er mich notfalls mit Gewalt von seinen guten Absichten überzeugen würde. Unschlüssig, was ich auf diese unterschwellige Drohung erwidern sollte, nickte ich nur flüchtig und griff nach meiner Mütze, während Pagen auf dem Tastenfeld seines Telefons eine Zahlenkombination eintippte. Kurz darauf klopfte es an der Tür und Oberfeldwebel Luv meldete sich wie befohlen bei dem Herrn Oberstleutnant zur Stelle.

Obwohl er seine Gefühlsregungen hinter seiner förmlichen Meldung zu verbergen versuchte, stand ihm seine Überraschung deutlich ins Gesicht geschrieben. Auch ein Fünkchen Freude, meinte ich, zwischen seinen heruntergehaspelten Protokollphrasen wahrnehmen zu können. Ich selbst war vor allen Dingen aufgeregt und für den Bruchteil einer Sekunde sogar zu glauben bereit, dass Pragen es gut mit mir meinte.

»Die Mühe, Sie mit Oberfeldwebel Luv bekannt zu machen, kann ich mir offensichtlich ersparen«, sagte Pragen nun wieder in seiner gewohnt kameradschaftlichen und doch distanzierten Art, bevor er Eliot darum bat, mich aus dem Gebäude zu begleiten. Er formulierte seinen Befehl tatsächlich als Bitte und fügte abschließend hinzu, dass er mich durch den Park zum Hauptausgang führen solle, damit ich unterwegs die Schwäne, von denen er mir erzählte habe, kennenlernen könne. Eliot quittierte Pragens freundlichen Befehl mit einem strammen, aber nicht übertrieben militanten Jawohl und nahm an der Tür Aufstellung, um mich gemäß den ihm aufgetragenen Pflichten durch die Parkanlage nach draußen zu eskortieren. Meldung, Haltung und sogar der Blick waren ordnungsgemäß nach den formalen Regeln der Dienstvorschrift ausgeführt, wirkten aber dennoch ungezwungen und frei.

Als sich Pragen mit einem freundschaftlichen Händedruck von mir verabschiedete, versuchte ich, sein offenherziges Lächeln zu erwidern. Ich bezweifle jedoch, dass mir dies gelungen ist. Denn je mehr er sich um mich bemühte, desto elender fühlte ich mich in meiner Haut. Obwohl mir klar war, dass die Wahrheit niemals eine Option gewesen war, bereute ich es, ihn angelogen zu haben.

Kaum hatte ich sein Büro verlassen, erlitt ich eine Art Nervenzusammenbruch. So stelle ich mir jedenfalls einen Nervenzusammenbruch vor. Ich fühlte mich wie nach einem kräftezehrenden Leistungsmarsch. Es waren jedoch nicht nur alle meine Kraftreserven aufgezehrt, sondern auch meine Seele. Die seelische Entkräftung ließ sogar Eliots Anwesenheit kurzzeitig unwichtig werden. Ich hatte den geistigen Zweikampf gegen den mir in jeder Hinsicht überlegenen Gegner nur scheinbar gewonnen. In Wirklichkeit hatte mich Pragen in der Hand und spielte mit mir. Erschöpft ging ich zu einem in die Wand eingelassenen Wasserstein und trank einen Schluck. Als ich aufsah, hielt mir Eliot ein Gästehandtuch hin und machte mich auf die zum Trinken bereitgestellten Pappbecher aufmerksam. Er war nicht er selbst, sondern ein Oberfeldwebel, der geflissentlich seinen Formaldienst versah.

»Sei bitte normal«, brummte ich und wischte mir mit dem Ärmel meiner Feldbluse über die Lippen.

Eliot hängte das Handtuch an den Wandhaken zurück und nahm eine gezwungen lockere Haltung ein. Auch das Lächeln, das er daraufhin versuchte, hielt nicht lange, bevor es von einem unsicheren Stirnrunzeln abgelöst wurde. Ich verstand allerdings erst, dass ich der Grund für Eliots seltsames Verhalten war, als er mich schließlich vorsichtig fragte, was mit mir los sei. Da ich ihm jedoch schlecht erzählen konnte, dass ich gerade Pragen angelogen hatte, zog ich es vor, zu schweigen und Eliot fragte nicht weiter nach. Wortlos führte er mich durch die endlos langen Korridore und über die ausladend breiten Treppenstufen nach unten in den Park, wo uns ein kalter Wind begrüßte. Eliot zog fröstelnd seine Jacke fest um sich und ich vergrub meine Hände in meinen Hosentaschen.

Als wir über den knirschenden Kies Richtung See schlenderten, brach Eliot schließlich unser Schweigen, indem er mir die gleichen Geschichten erzählte, die Pragen bereits zum Besten gegeben hatte. Ich hörte mir die Geschichten ein zweites Mal an und zählte dabei unsere Schritte. Wir gingen im Gleichschritt. Als wir den kleinen See erreichten, blieb Eliot unvermittelt stehen und deutete auf den weißen Steinpavillon zwischen der kahlen Trauerweide und dem schneebeladenen Schilfrohr: »Von dort aus können wir die Schwäne beobachten. Der Pavillon ist so weit ins Wasser gebaut, dass man meint, man befände sich auf einem Boot. Wenn man lange genug in die gegen den Sockel schlagenden Wellen schaut, hat man irgendwann das Gefühl, dass der Boden unter den Füßen schwankt und schaukelt.« Eliot ging ein paar Schritte auf den Pavillon zu und winkte mir, ihm zu folgen: »Komm«, rief er und strich sich vergeblich seine wehenden Haare aus dem Gesicht: »Dort sind wir auch ein wenig vor dem kalten Wind geschützt.«

Ich gab mir einen Ruck und folgte ihm unter einer von Kletterranken überwucherten Laube hindurch und über einen schmalen, geländerlosen Holzsteg in das Steinhäuschen, wo der Wind genauso stark, wenn nicht sogar noch stärker wehte als auf offenem Weg. Eliot stellte den Kragen seiner Jacke und suchte hinter einem Pfeiler ein wenig Schutz. Ich stellte mich neben ihn und starrte, nachdem ich ebenfalls meinen Kragen aufgestellt und meine Hände anschließend schnell wieder in meinen Hosentaschen vergraben hatte, auf den See hinaus. Die Ränder waren größtenteils zugefroren. Nur in der Mitte sowie rund um den Pavillon herum und an den Stellen, wo die langen Weidenruten ihr eigenes Spiegelbild berührten, war das Wasser eisfrei. Das Schwanenpaar war inzwischen aufgewacht, wirkte jedoch nicht besonders munter. Vollkommen reglos saßen die beiden Tiere auf dem Wasser. Ein zweites Schwanenpaar mit dunklen Federn saß ebenso reglos, jedoch kopfüber gedreht auf der anderen Seite der spiegelnden Fläche.

Als sich Eliot, nachdem wir eine Weile ebenso reglos wie die Schwäne vor uns hingeschwiegen hatten, erneut nach meinem Wohlbefinden erkundigte, wollte ich mich zunächst wieder vor einer Antwort drücken, doch weil seine Frage aufrichtig klang und weil er Eliot war, schütte ich ihm schließlich doch mein Herz aus: »Ich habe Pragen bei dem Gespräch nicht immer die ganze Wahrheit gesagt«, sagte ich zögerlich.

»Du meinst, Du hast gelogen?« brachte Elli die Sache auf den Punkt.

»Nein, nein«, wehrte ich zunächst ab, gab es dann aber doch zu.

»Mach Dir keine Sorgen«, erwiderte Elli schlicht: »Wahrscheinlich hat Dir Pragen ohnehin nicht alles geglaubt.«

»Ändert das etwas an der Tatsache, dass ich gelogen habe?«, fragte ich mit einem skeptischen Stirnrunzeln.

»Moralisch gesehen nicht«, erwiderte Elli: »Aber vielleicht tröstet es Dich ein wenig.«

Ich brummte missmutig vor mich hin. Seine Antwort gefiel mir nicht. Sie verschlimmerte meinen Zwiespalt mehr, als sie mir half.

»Um was ging es denn?«, fragte er schließlich vorsichtig und entschuldigte sich für seine Neugier.

»Er hat mich über meine Vergangenheit und über andere Personen ausgefragt, doch ich gab vor, mich an nichts zu erinnern und nichts zu wissen«, erzählte ich. Elli seufzte und machte ein nachdenkliches Gesicht: »Ich schätze, er hat gar keine ehrliche Antwort erwartet. Manche Fragen stellt er nur, um seinem Gesprächspartner einen anderen Blick auf die Dinge zu ermöglichen oder um ihn nachdenklich zu stimmen. Es ging ihm vermutlich weniger um Wahrheiten, sondern vielmehr um Meinungen. Vielleicht war es sogar seine Absicht, Dir eine Lüge durchgehen zu lassen. Manchmal ist auch mir schleierhaft, was er mit seinen Fragen genau bezweckt.«

»So, so«, sagte ich und fragte mich, ob Pragen überhaupt auf meine Ehrlichkeit angewiesen war. Vielleicht liest er einfach alles mit, was ich in mein Tagebuch schreibe – jeden Tastenanschlag, jedes Wort, jeden geheimen Gedanken. Wäre ihm das zuzutrauen oder verfügt ein Mann wie er doch noch über einen letzten Rest Anstand? Diese Frage kann er sich selbst stellen, wenn er diese Zeilen hier liest.

Schon als Kind hegte ich die paranoide Befürchtung, dass die Ärzte mithilfe ihrer Messgeräte und Monitore meine Gedanken ausspionieren und aufzeichnen konnten. Aus Angst und vor Scham versuchte ich damals, alle bösen Fantasien aus meinem Kopf zu verbannen, denn meine Gedanken waren bisweilen von einer solch abartigen und abgrundtiefen Bösartigkeit, dass ich mich vor mir selbst fürchtete. In mir tobte eine Nacht ohne Morgen und meine Rache an der Welt war grausamer als alles, was mir je selbst angetan worden war. Ich verschonte niemanden, weder die Guten noch die Schlechten. Die Vorstellung, dass mich Pragen in eine Falle gelockt haben könnte, kränkte mich, und der Verdacht, dass er meine geheimsten Gedanken mitverfolgte, machte mir Angst. Schlimmstenfalls spielte mir sogar Eliot etwas vor. Doch an Elli durfte ich nicht zweifeln. Nicht an ihm.

»Mach nicht so ein entgeistertes Gesicht«, ermahnte mich Elli plötzlich, »sondern sieh her!« Er zeigte hinaus auf den See: »Pragen hat es uns untersagt, die Tiere zu füttern, aber ich kenne niemanden, der sich an dieses Verbot hält.« Zum Beweis seiner Worte kramte er eingepacktes Plätzchen aus seiner Jackentasche, öffnete es, zerbrach es und streute die Krümel ins Wasser. Plötzlich setzten sich die Schwäne in Bewegung. Sie kamen eilig zu unserem Pavillon, um die Kekskrümel von der Wasseroberfläche aufzupicken.

»Streng moralisch gesehen«, erklärte Eliot und machte ein kurze theatralische Pause, »ist das Füttern der Schwäne ein Verbrechen. Und jedes Mal, wenn ich Pragen in die Augen sehe, eine Lüge. Trotzdem werde ich heute Nacht ohne Gewissensbisse schlafen können.«

Ich fühlte mich durch dieses Bekenntnis jedoch nicht wirklich wohler in meiner Haut: »Ich finde, das ist nicht vergleichbar.«

»Nicht?« Eliot holte plötzlich ein zweites Keks hervor und hielt es mir hin. »Das kannst Du erst sicher sagen, wenn Du beides ausprobiert hast.«

Ich lachte nur, doch Eliots Blick sagte mir, dass er es ernst meinte. Als er mir das Keks daraufhin direkt vor die Nase hielt, nahm ich es schließlich doch. Ich machte es jedoch nicht auf, sondern hielt es einen Moment nachdenklich in der Hand.

»Du traust Dich nicht?«, fragte Eliot mit einem Triumphieren in der Stimme, als ob er damit irgendetwas bewiesen hätte.

»Ganz und gar nicht«, sagte ich und schüttelte den Kopf: »Ich frage mich nur, wie viele Du davon in Deiner Tasche hast.«

»Genug«, antwortete Eliot und klopfte auf seine Jackentasche: »Sie liegen immer Jans Kaffeegedeck bei. Da er sie nie isst, gehören sie mir. Ich hebe sie auf. Für harte Zeiten. Oder für die Schwäne.«

»Harte Zeiten«, sagte ich und aß den Keks auf. Eliot lachte und aß ebenfalls einen Keks. Auch mir bat er noch einen an. Er schien tatsächlich über einen unerschöpflichen Vorrat zu verfügen. Nachdem er ein paar nicht vorhandene Kekskrümel von seiner Uniform geklopft hatte, wurde er plötzlich ernst: »Vielleicht hatten Pragens Fragen keinen tieferen Sinn, sondern entsprangen einfach seiner angeborenen Neugier. Wenn er ein Laster hat, dann seine Neugier. Wäre es mehr als Neugier gewesen, hätte er Dich vermutlich nicht zum Tee eingeladen, sondern in ein Verhörzimmer bestellt und ich hätte daneben gegessen und Protokoll geführt. Ich glaube jedenfalls nicht, dass Dich ein geschulter Abwehrfachmann und Menschenkenner wie Pragen für einen Landesfeind oder Wehrzersetzer hält. Dafür ist Deine Biografie viel zu uneben.«

»Was weißt Du denn über meine Biografie?«, fragte ich alarmiert nach.

»Nicht viel, eigentlich gar nichts.« Eliot wedelte zur Beteuerung seiner Unwissenheit wild mit seinen Händen: »Jedenfalls nicht mehr, als man durch Deine gelegentlichen Auftritte in der Wochenzeitung der Bundeswehr oder in der Tagespresse über Dich in Erfahrung bringen kann.«

Ich schaute Eliot misstrauisch an.

»Mach Dir keine Sorgen«, sagte er, wie um mich zu beruhigen: »Jede einfache Sekretärin mit Vorzeigefamilie, Fernsehzeitungsabonnement und Bausparkredit, die langjährig für das Bundesverteidigungsministerium tätig war und somit unumgänglich in eine Vielzahl militärischer Geheimnisse eingeweiht wurde, ist verdächtiger als Du.«

»Ist das so?«, fragte ich überrascht.

Eliot nickte: »Ein ausländischer Geheimdienst hätte sich eine bessere Geschichte ausgedacht als Deine und er hätte seinen Spion zu mehr Unauffälligkeit erzogen. Du ziehst zu viel Aufmerksamkeit auf Dich, bist zu oft unbequem und sorgst für zu viele Ungereimtheiten.«

»Welche Ungereimtheiten?«, wollte ich wissen.

»Nun«, sagte Eliot und holte tief Luft: »Als Du Ende letzten Jahres bei den Osloer Patrouilleläufen aus Deinem erbitterten Zweikampf mit dem Favoriten der russischen Delegation als Sieger hervorgingst, sprachen die Zeitungsartikel davon, dass die russische Waise aus dem Schatten ihres Ziehvaters tritt.«

Ich seufzte. Vielleicht sollte ich mehr als nur die Schlagzeilen lesen: »Es war kein Zweikampf«, stellte ich richtig, »sondern ein Mannschaftslauf und es ging dabei nicht um den Sieg, sondern um den dritten Platz. Von Erbitterung kann auch keine Rede sein. Ich gab mein Bestes. So wie vermutlich alle anderen Wettkampfteilnehmer auch. Das einzig Bittere an der Sache war die Erfahrung, am Ende aller Anstrengungen zum Trotz doch zu verlieren.« Ich erzählte ihm, wie wir kurz vor unserer Abreise nach Oslo unsere Mannschaftsaufstellung komplett umgeworfen hatten, die Veranstalter des Wettbewerbs mit dieser kurzfristigen Umstellung jedoch nicht einverstanden gewesen waren und uns mit zusätzlichem Verwaltungskram und ärztlichen Untersuchungen gängelten. Ich erzählte ihm auch von unserer leeren Ersatzbank, von meinen endlosen Telefonaten mit der Auslandvertretung der Bundeswehr und davon, wie ich nach den Wettkämpfen mit meinen Kameraden in ein außerhalb gelegenes sportmedizinisches Krankenhaus fahren musste, wo wir, nachdem jeder eine Nummer gezogen hatte, darauf warteten, dass diese aufgerufen wurde, während die anderen Wettkampfteilnehmer in einer heißen Quelle ein Entspannungsbad nahmen.«

»Davon stand nichts in der Zeitung«, sagte Eliot in einem mitfühlenden und zugleich aufmunternden Ton. Ich starrte auf den See hinaus. Eliots Anteilnahme tat gut.

»Bist Du wirklich in einem russischen Waisenhaus aufgewachsen, wie es die Zeitungen schreiben?«, fragte er vorsichtig.

»Ja, das bin ich«, antwortete ich, ohne ihn anzusehen: »Zeitweilig jedenfalls«, fügte ich hinzu: »Aber ich spreche nicht gern darüber. Ich kam mit den anderen Kindern nicht zurecht und hasste die Pfleger. Außerdem schmeckte die Milch dort nach rostigem Leitungswasser und Hustensaft.« Eliot bohrte nicht weiter nach, sondern starrte ebenfalls schweigsam auf den See.

Das Gespräch mit Pragen ließ mich jedoch nicht los. Ein Lügner wie ich hatte Pragens Freundschaft nicht verdient. Mit einem Seufzen holte ich den Beutel mit dem Tee aus meiner Tasche und drehte das Päckchen in meiner Hand. Am liebsten hätte ich es Pragen zurückgegeben und mich entschuldigt. Oder es einfach weggeworfen. Als Heinrich zu mir herüberschaute, fragte ich ihn, ob er Pragen über unsere Unterhaltung Meldung machen würde.

»Möchtest Du, dass ich es tue?«, fragte er in einem nüchternen Tonfall. Ich schüttelte den Kopf.

»Dann nicht«, erklärte er: »Ich glaube ohnehin nicht, dass ich ihm etwas Überraschendes oder Interessantes zu melden hätte. Und jetzt hör auf, Dir so viele Gedanken darum zu machen.« Eliot nahm mir den Beutel aus der Hand und verstaute ihn wieder in der Seitentasche meiner Kniebundhose, als hätte er meine idiotischen Gedanken erraten.

»Einverstanden«, sagte ich.

Eliot lachte und wärmte anschließend ein paar lustige Geschichten von unserem Alpenmarsch auf. Es dauerte nicht lange, bis wir gemeinsam über die Pleiten und Pannen der Tour lachten und dabei auch auf seine Fingerfertigkeiten als professioneller Einbrecher zu sprechen kamen. Ich erzählte ihm bei dieser Gelegenheit, dass der verloren geglaubte Schlüssel nach der Tour wieder aufgetaucht war. Um ihn nicht zu verlieren, hatte Strefler ihn in einer Geheimtasche im Innenfutter seiner Jacke versteckt. Doch ich erzählte Eliot damit nichts Neues. Er wusste dies alles bereits von Anna und Falk. Verblüfft fragte ich nach, wann, wo, wie und warum er die beiden getroffen habe.

Falk habe ihn gleich nach der Bergwanderung wegen der Fotos angerufen, erklärte Eliot. Auf Falks Bitte hin habe er sich umgehend in die Dunkelkammer seiner Dienststelle verzogen und dort an die Entwicklung der Bilder gemacht und auch gleich einen ersten Satz farbiger Hochglanzabzüge erstellt, die Falk noch in derselben Woche persönlich bei ihm abgeholt habe. Falk wolle die Fotos den übrigen Marschteilnehmern zeigen und bis Anfang Februar eine Liste mit Nachbestellungen fertighaben. Eliot war verwundert, dass ich die Fotos noch nicht gesehen hatte, und bot mir an, mir die Negative im Medienlabor vorzuführen. Ich lehnte jedoch dankend ab.

Anna, fuhr Eliot unbekümmert fort, erteile ihm nun seit bald vier Wochen Privatunterricht im Skifahren und Hornschlittenrodeln und verlange nur fünfzig Mark für einen ganzen Vormittag, ein Freundschaftspreis. Schon morgens um sieben standen sie auf ihren Brettern und fuhren über Berge und durch Wälder, bis sie um ein Uhr ins Tal zurückkehrten, wo sie noch gemeinsam zu Mittag aßen. Wenn der Winter vorbei sei, wollte Anna ihm Klettern und Wiesenrodeln beibringen. Ich versuchte mir meine gekränkte Eitelkeit nicht anmerken zu lassen. Warum Falk? Warum Anna? Warum nicht ich?

Kaum hatte ich mich von den Zerwürfnissen mit meinem Gewissen erholt, machte sich auch schon ein neues unbehagliches Gefühl in mir breit. Ein Gefühl, das ich nur allzu gut kannte und das mich in der Vergangenheit schon zu den abscheulichsten Taten verleitet hat: Eifersucht. Sie ist der Feind aller guten Eigenschaften und bringt in der Regel nichts als Undankbarkeit, Hass und Zerstörungswut hervor. Das muss vielleicht nicht immer so sein, aber die mir angeborene bösartige Form der Eifersucht hat mich durch meine Unfähigkeit, mich selbst zu akzeptieren, schon unzählige Male in tiefe Depressionen gestürzt und mich sogar gegen meinen besten Freund aufgehetzt. Ich hasste Tomo dafür, dass er alles besaß, wonach ich mich vergebens sehnte, dass bei ihm alles richtig war, was bei mir schief lief, und dass seine Vollkommenheit all meine Unzulänglichkeiten, Fehler und Schwächen entlarvte. Eigentlich habe ich ihn nie genug geliebt und viel zu oft gehasst.

Eine von Tomos herausragenden, aber mir bis ins Blut verhassten Eigenschaften war seine unerschütterliche Furchtlosigkeit vor jedwedem krabbelnden Getier. Meine anfängliche Bewunderung für seinen Heldenmut, die Kriecher mit bloßer Hand zu fangen oder sie auf seinem Arm spazieren zu lassen, brachte ihn eines Nachts auf die Idee, im Keller des Instituts einen Zoo anzulegen. Leere Medikamentenschachteln und Nierenschälchen aus Pappe dienten als Gehege und in einer mit Sand und Kieselsteinen ausgestreuten Manege brachte Tomo seinen gepanzerten Gestalten, haarigen Achtbeinern und all dem anderen Ungeziefer zu meiner vermeintlichen Belustigung Kunststückchen bei. Jedenfalls versuchte er es. Denn im Gegensatz zu Meissmanns zahmen Labortierchen – Fadenwürmern, Zebrafischchen und Drosophilafliegen – waren die Tiere in Tomos Zoo allesamt wilde Bestien und schwer zu dressieren.

Obwohl ihm keine seiner Zirkusnummern je gelang, da die eigenwilligen Viecher entweder nur reglos im Sand saßen oder ihren Dompteur mit ständigen Fluchtversuchen auf Trab hielten, ließ sich Tomo durch die Sturheit seiner Monster nicht entmutigen, sondern verdoppelte seine Anstrengungen und redete ihnen gut zu. Die wenigsten Tiere wollten sich jedoch an ihr neues Zuhause gewöhnen. Die meisten bestraften Tomo, indem sie starben. Unsere gemeinsamen Stunden bestanden bald nur noch aus der Versorgung und Entsorgung von Tomos Haustierchen. Wir begruben die Toten, fütterten die Lebenden und misteten die Ställe aus. Zu guter Letzt nahm er noch eine halbverhungerte und vollkommen verängstigte Maus in Pflege, die aus einem der Labore im ersten Stock in die Kellergewölbe entkommen sein musste. Er gab ihr den einfallslosen Namen Surisuri und quartierte sie in einem mit sterilen Kompressen und Papiertüchern ausgelegten Putzeimer ein.

Ich hasste Tomo dafür, dass er mir jede Nacht durch seine Furchtlosigkeit meine eigene Feigheit unter die Nase rieb und dass er mich mit seinen neuen Freunden um seine Aufmerksamkeit buhlen ließ. Meine Eifersucht wuchs mit jedem Neuzugang, der in die Zirkusgemeinschaft aufgenommen wurde, und mit jeder Stunde, die wir mit der Pflege der Tiere zubrachten. Meine Eifersucht wurde am Ende sogar so groß, dass ich meine Angst und meinen Ekel überwand und eines Abends ohne Tomos Wissen allein in den Keller schlich.

Tomos Tierpanoptikum lag direkt gegenüber der Stiefelkammer. Dieser fensterlose Abstellraum trug seinen Namen aufgrund des Dufts, den ein gleich neben der Eingangstür aufgestellter Schuhspind verströmte. Darum hielt ich den Atem an, während ich in ein Paar schwere Stiefel stieg und eine lange Zeltstange von einem hohen Regalboden angelte. Sicherheitshalber setzte ich mir noch einen Schutzhelm auf den Kopf und eilte in den gegenüberliegenden Kellerraum. Tomo kam und ging ohne festes Muster in dem Zeitfenster zwischen Sonnenuntergang und Mitternacht. In manchen Nächten hatten wir noch nicht einmal eine einzige Stunde zusammen, während er manch anderes Mal kurz nach dem Abendessen auftauchte und bis zum anderen Tag bei mir blieb. Da es draußen bereits dunkel war und ich Tomos Erscheinen nicht auf die Stunde genau vorhersagen konnte, musste ich mich beeilen.

In meiner Eile machte ich mir noch nicht einmal die Mühe, die Tiere aus ihren engen Behausungen zu befreien, sondern zertrat sie mitsamt ihren Papphütten, auf die Tomo mit einem schwarzen Filzstift die Namen der Bewohner geschrieben hatte. Die meisten starben wehrlos unter den über ihnen zusammen stürzenden Kartonwänden und nur wenige versuchten zu fliehen, bevor ich ihnen mit der scharfen Kante der Zeltstange hinterhersetzte. Schnecken, Spinnen, Käfer, Asseln, Raupen, ich schlug sie alle tot.

Nachdem sich meine tobende Rachsucht ein wenig gelegt hatte, verwischte ich meine Fußspuren im Sand der Manege und wollte schon gehen, als mein Blick auf den Putzeimer in der Ecke des Raumes fiel. ›Surisuri‹ stand in krakeligen Runen auf dem Stück Pappe, das als Abdeckung diente. Das Wort ›Surisuri‹ bedeutete in Tomos und meiner Sprache nichts anderes als ›kleine Maus‹. Zögerlich hob ich den mit Luftlöchern perforierten Pappdeckel an und spähte hinein. Surisuri kauerte am Boden ihrer dunklen Zelle zwischen Essensresten, Mullkompressen und ihrem eignen Kot und rührte sich nicht. Mit einem beherzten Ruck trat ich den Eimer um. Laut scheppernd donnerte der Eisenkübel gegen die Wand und entlud dabei seinen Inhalt auf dem mit plattgetretenen Pappkartons übersäten Boden.

Surisuri hätte fliehen sollen, doch stattdessen beschnupperte sie seelenruhig meine Stiefel. Ich schubste sie mit der metallenen Zeltstange mehrmals beiseite, doch egal, wie grob ich dabei mit ihr umsprang, wollte sie sich nicht verscheuchen lassen. Sie vertraute mir und kam, da sie vermutlich glaubte, ich wäre gekommen, um sie zu füttern, immer wieder zu mir her.

Surisuris anhängliches Verhalten ließ mir keine andere Wahl, als mit aller Kraft, die in meinen Kinderbeinen steckte, auf den zwischen meinen Füßen umherwuselnden weißen Fellknäuel zu stampfen. Anstatt jedoch dem Tier alle Knochen zu brechen, rutschte ich auf dem weichen und pelzigen Körper aus und stolperte vornüber. Aus Furcht in den ekligen Brei aus zertretenen Insekten, Spinnen und Weichtieren zu stürzen schrie ich auf und ruderte wild mit dem Armen. Als ich mich wieder gefangen hatte, lag Surisuri blutend auf der Seite, hielt jedoch noch immer mit schnellen, kurzen Atemzügen an ihrem Leben fest. Es kostete mich einige Mühe, bis sie endlich damit aufhörte.

Ich war vollkommen außer Puste. Mehr jedoch durch die Ungeheuerlichkeit meiner Tat als durch die körperliche Anstrengung. Meine Lippen waren ausgetrocknet, von meiner Stirn tropfte der Schweiß und mein Herz schlug bis zum Hals. Eilig warf ich die Schuhe, den Helm und die Eisenstange in die Stiefelkammer, streifte mir ein frisches Nachthemd über und ließ mich in mein Bett fallen. Dort stellte ich mich schlafend und wartete auf Tomo.

Durch das wohlige Gefühl erfüllter Rachsucht versöhnlich gestimmt begrüßte ich ihn mit einer überschwänglichen Umarmung, als er mich spät in der Nacht endlich durch ein sanftes Rütteln an meiner Schulter aus meinem vermeintlichen Schlaf holte. Ich erzählte ihm natürlich sofort von dem Chaos, das die Erwachsenen im Keller angerichtet hatten. Tomo schaute mich jedoch nur ängstlich an und glaubte mir zunächst kein Wort, bis ich ihn schließlich an den Ort des Verbrechens führte, wo ihn der schreckliche Anblick von der Wahrheit meiner Worte überzeugte und er laut aufschluchzend auf den Boden sank.

Erst als ich sah, wie Tomo in Tränen aufgelöst und am ganzen Körper zitternd in den Trümmern vergebens nach Überlebenden suchte, konnte ich ihm vollends verzeihen und ihn wieder so unendlich lieben wie zuvor. Aller Zorn und aller Hass waren mit einem Mal verflogen, um einem tiefen und aufrichtigen Bedauern über sein Unglück Platz zu machen. Ich hielt ihn fest und ließ ihn seine nur hörbaren, trockenen Schattentränen in mein Nachthemd weinen.

Was mich am Ende jedoch fast in den Wahnsinn trieb, war weder der Tod der unschuldigen Tiere noch Tomos Tränen, sondern der Verdacht, dass Tomo wusste, wer ihm das angetan hatte, und dass er mich insgeheim dafür verurteilte. Doch da unsere Schicksale unzertrennlich miteinander verknüpft waren, blieb ihm keine andere Wahl, als es auch weiterhin mit mir auszuhalten. Sicher ist jedenfalls, dass ich nur zu hassen imstande bin, wen ich aus tiefstem Herzen liebe.

~ Wilhelm Fenner

Freitag, 31. Jan.. 1992
Bezugsdatum
Freitag, 31. Jan.. 1992
Kapitel
11
Dateinummer
1102