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… Auf mein Schulterzucken hin erklärte er mir, dass die gute Frau, die im Übrigen nicht nur für ihn, sondern auch für Pragen und Jan die Bügelwäsche erledigte, sich nicht nur um die Falten in seinen Hemden und Hosen kümmerte, sondern auch um den ganzen Rest. Meine Fantasielosigkeit, wenn es um Wäschewaschen, -bügeln und -stärken ging, stand mir offenbar ins Gesicht geschrieben, denn nach einer kurzen Pause folgte eine lange Liste zu dem Thema. Sie begann mit abgerissenen Knöpfen, zerschlissenen Säumen und speckigen Krägen und endete mit gefältelten Manschetten und den ausgeleierten Unterhosengummis.
Ich nickte teilnahmsvoll: »…
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… Falks Feldwebelposten ist hauptsächlich deswegen noch frei, weil ich die Besetzung der Stelle bis zu einem halben Jahr hinauszögern und den während dieser Zeit anfallenden Grundsold innerhalb der Abteilung nach Belieben umverteilen kann. Da wir immer knapp bei Kasse sind, kommt uns dieser außerplanmäßige Zuschuss von der Bundesverwaltung sehr gelegen. Allerdings hatte ich auch einen Posten für einen Mannschaftsdienstgrad zu vergeben, den ich nicht unbesetzt lassen wollte. Auf der Suche nach geeigneten Kandidaten hatte ich den Obergefreiten Strefler für Dienstag Morgen in mein Büro bestellt. Etwas schien ihn aufgehalten zu haben. Er erwischte mich gerade noch vor der Mittagspause und er sah aus, als wäre er kurz zuvor um sein Leben gerannt. Nachdem er kurzatmig und schwitzend Meldung vorgebracht hatte, eröffnete ich das Gespräch mit der Frage, ob er wisse, warum ich ihn eingeladen hatte.
»Weil Falk ein gutes Wort für mich eingelegt hat?«, fragte er zögerlich. Ich nickte und bat ihn Platz zu nehmen: »Was machen Sie zurzeit und könnten Sie sich eine Verwendung innerhalb der Stabsabteilung für Sicherheit im Gebirge vorstellen?«
Nachdem er seine Mütze abgenommen hatte, setzte er sich so ungeschickt auf die vordere Kante des Besucherstuhls, dass dieser gefährlich nach vorne kippte. Nach einem halblauten Schrei, fing sich Strefler jedoch und antwortete hektisch: »Auf jeden Fall, auf jeden Fall. Die Abteilung für Sicherheit in Fels, Eis und Schnee war schon immer meine Wunscheinheit. Zurzeit bin ich der Fernmeldegruppe zugeteilt.«
»Die Abteilung ist klein und ihre Mittel begrenzt. Ihre Kompetenz und ihr Erfolg gründen maßgeblich auf der Expertise und dem Einsatz der Soldaten. Wir haben Experten für Hochgebirgstouren und Gletscherbegehungen, für Eisklettern und Vorstiegssicherung, für Materialtests und Iglubau, für Kartographie, Mathematik und Meteorologie. Jeder trägt seinen Teil dazu bei. Was sind Ihre Stärken, Hobbys oder besonderen Interessen?«, fragte ich weiter.
»Nichts«, sagte er, dachte dann jedoch einen Moment nach. »Wenn ich in Ihre Stabsabteilung wechseln würde, würde ich jedoch zweihundert Prozent geben«, fügte er schließlich hinzu.
»Zweihundert Prozent von nichts?« Ich hob erstaunt die Augenbrauen, doch er korrigierte mich mit einem entschiedenen Kopfschütteln: »Zweihundert Prozent von allem! Mit ›nichts‹ meinte ich, dass ich in nichts besonders gut bin, aber auch in nichts besonders schlecht.« Er schenkte mir ein unsicheres, aber zugleich ehrliches Lächeln: »Ich bin bereit, dazulernen und mich verbessern. Das meinte ich mit zweihundert Prozent.«
»Das heißt also, dass Sie bisher nur fünfzig Prozent Ihrer Möglichkeiten ausgeschöpft haben, und nun bereit wären, alles zu geben?«, fasste ich seine Rechnung in einfachen Worten zusammen.
»Ich habe schon immer alles gegeben«, wehrte er sich: »Aber ich würde meine Anstrengungen verdoppeln.«
Da uns diese Rechenspielchen nicht weiterhalfen, ließ ich das Thema gut sein und versuchte, unser Gespräch in unverfänglichere Bahnen zu lenken, indem ich auf zurückliegende Touren zu sprechen kam. Da er von sich aus wenig dazu sagte, stellte ich ihm ein paar Fragen. Als ich jedoch wissen wollte, ob er sich noch immer nach jeder Fahrt in einem Truppentransporter oder mit einem Sessellift übergebe, fuhr er von seinem Stuhl hoch und erklärte mit entschlossener Miene: »Nein, meistens wird mir nur schlecht.« Als er merkte, dass er mitten im Raum stand, setzte sich wieder hin, wobei der Stuhl erneut gefährlich nach vorne kippte. Es gelang ihm jedoch, seine Balance wiederzufinden, bevor es zu einem größeren Unglück kam.
Es war Falks letzter Wunsch an mich gewesen, Strefler eine Chance zu geben. Ich konnte den jungen Gefreiten unmöglich wegschicken. Deswegen versuchte ich, seinen emotionalen Ausbruch zu ignorieren, und nahm, obwohl der bisherige Verlauf des Gesprächs davon abriet, einen Versetzungsantrag aus der Schublade. Falk hatte vorgesorgt und einen ganzen Stoß davon ausgedruckt und die Daten unserer Abteilung in die dafür vorgesehenen Felder und Kästchen eingetragen. Ich überflog kurz das mit einer Schreibmaschine ausgefüllte Formular und stockte, als ich in dem harten Anschlag Falks Handschrift erkannte und mir wieder einmal klar wurde, wie sehr ich seinen Fortgang bedauerte.
»Soll ich wegtreten?« fragte Strefler, der offenbar dachte, dass ich ihn vergessen hatte. Ich schüttelte den Kopf und legte das Formular vor mir ab. Als ich aufschaute, sah ich in Streflers deprimiertes Gesicht, wenngleich er darum bemüht war, seine Niedergeschlagenheit hinter einem Lächeln zu verbergen. Ich seufzte und fragte ihn nach Fortbildungsmaßnahmen und Turnieren, denn auch dafür gab es auf dem Formular ein Feld.
»Ich habe gelernt, wie man Iglus baut. Und im Iglubauen bin ich ziemlich gut«, presste er hektisch heraus, als ob es einen Preis für schnelles Antworten gäbe.
»Iglubauen?« Ich runzelte die Stirn. »Sie meinen Schneeschippen und Wände glattstreichen?«
Strefler überlegte: »Ich habe auch an verschiedenen Sonderlehrgängen und Turnieren teilgenommen. Für Einzelkämpfer, Scharfschützen und Kampfschwimmer.«
»Und?« Ich schaute ihn erwartungsvoll an, um ihm die Gelegenheit zu bieten, mir von seinen errungenen Sigen und erworbenen Abzeichen zu berichten. Als nichts dergleichen kam, brach ich das Schweigen mit einem nachdenklichen ›Hm–‹, und schob den Versetzungsantrag auf meiner Schreibtischunterlage hin und her. Eine Weile hörte man nur das Kratzen des Papiers, das in gleichförmigen Bewegungen von links nach rechts und von rechts nach links über den Schreibtisch wanderte, bis mir auf dem Formular das Kästchen für temporäre Versetzungen im Rahmen von bataillonsinternen Fortbildungsmaßnahmen in die Augen sprang. Ich überlegte kurz, wie ich das Heidt erklären würde, und machte Strefler schließlich den Vorschlag, ihn einen Monat lang zur Probe zu übernehmen. Danach würden wir weitersehen. Seine Miene hellte sich schlagartig auf und es schien fast, als wäre er von einem Augenblick auf den nächsten um zwei Zentimeter gewachsen. Er quittierte jede meiner Fragen mit einem schmetternden ›Jawohl!‹ und diktierte mir mit lauter Stimme seinen Namen, seine Truppennummer und die Daten seiner derzeitigen Dienststelle, damit ich die noch leeren Formularfelder ausfüllen konnte.
Nachdem der bürokratische Akt erledigt war, bat ich ihn, sich unverzüglich in der Standortverwaltung mit der nötigen Ausrüstung einzudecken und sich bei seinem neuen Gruppenführer vorzustellen, damit dieser ihm ein Quartier im Gebäude des Hochgebirgsjägerzugs zuweisen konnte. Ich wollte, dass er gleich am nächsten Tag einsatzbereit war. Ich würde unterdessen den Zugführer seiner derzeitigen Einheit über die kurzfristig anstehende Personalverschiebung informieren. Strefler wuchs weitere zwei Zentimeter in die Höhe und sagte immer wieder: »Jawohl, jawohl, jawohl!«
Bevor er ging, überhäufte er mich mit überschwänglichem Dank. »Danken Sie mir nicht zu früh«, bremste ich ihn. »Ich überlasse die Entscheidung über Ihre weitere Verwendung Ihnen selbst und den Gruppenführern meiner Stabsabteilung. Wenn Sie es sich binnen eines Monats nicht anders überlegt haben und die Gruppenführer einverstanden sind, werde ich Ihre dauerhafte Versetzung in die Wege leiten.«
»Ach, und noch etwas«, fügte ich hinzu, als er bereits mit einem Fuß in der Tür stand: »Nur damit Sie es auch von mir persönlich gehört haben: Sollten Sie sich bewähren, gilt ab dem Tag Ihrer offiziellen Übernahme die Anrede per Du und Vornamen. Jedenfalls, wenn wir unter uns sind. Ihr Gruppenführer wird Ihnen das alles noch genauer erklären. Mein Name lautet, egal welche Uznamen man sich in den Heimen und Stuben für mich ausgedacht haben mag, Wilhelm.«
»Jawohl, Wilhelm. Ich meine: Jawohl, ich habe verstanden, dass Ihr Name Wilhelm lautet, Hauptmann Fenner. Und mein Name lautet Ferdinand«, erwiderte Strefler zuversichtlich und zog sachte die Tür hinter sich ins Schloss. Danach hörte ich, wie seine quietschenden Gummisohlen mit ihm durch den langen Gang davonstürzten …
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… den alten, dunkelgrauen Wollmantel hingegen wollte der Trödler nicht annehmen, weil er zu ramponiert und zudem schmutzig war. Deswegen nahm ich ihn wieder mit nach Hause. Erst dort fiel mir auf, wie sehr dieses Kleidungsstück gelitten hatte. An der Stelle, wo ungefähr das Herz des ursprünglichen Trägers geschlagen haben musste, befand sich ein kleines, rundes Loch mit versengtem Rand. Offenbar ein Einschussloch, denn auf der Innenseite des Mantels befand sich an dieser Stelle großer, brauner Fleck auf dem seidigen, aber altersbrüchigen Stoff, mit dem der Mantel ausgeschlagen war. Der Einschussloch-Theorie zufolge ein Blutfleck. Der Mantel hatte vermutlich einem Wehrmachtssoldaten gehört, der in diesem Kleidungsstück durch eine Kugel verwundet worden war. Ohne Abzeichen, Koppel und Waffe konnte der Mantel jedoch keinen Schrecken verbreiten. Er bot vielmehr einen traurigen Anblick.
Ich nahm mich dem alten Veteranen aus Wolle und Seide an und richtete ihn wieder her. Ich trennte das vermoderte Futter heraus, ließ das Obermaterial reinigen, ersetzte die fehlenden Knöpfe, nähte eine Sportweste aus leichtem Synthetikgewebe als neues Innenfutter hinein und verschloss damit nicht nur das Loch über der Brust, sondern auch den Schlitz für den Offiziersdolch.
Trotz seines stattlichen Gewichts und plumpen Schnitts ist mir der Mantel inzwischen ans Herz gewachsen. Ich mag die geräumigen Taschen und den schweren Stoff, den ich bei jedem Schritt wie eine wallende Königsrobe hinter mir herziehe. Auch Leto hat sich mit dem alten Haudegen angefreundet und liebt es, in den breiten Ärmelaufschlägen nach Heu zu suchen. Wem auch immer er einst gehört haben mag …
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… Sauerstoff war weggeatmet und durch eine schwere Duftmischung aus menschlichem Schweiß und alten Möbeln ersetzt worden. Im Gegensatz zu den übrigen Räumen wurde die Galerie nicht über die Belüftungsanlage reguliert und die Möglichkeit, die Fenster zu öffnen, nur selten genutzt.
Die schlechte Luft verstärkte meinen Wunsch, schnell nach draußen zu gelangen. Deswegen schnappte ich mir eine Jalousienstange, rannte damit quer durch den Raum und stieg ich auf einen Stuhl, den ich zuvor auf einen Tisch unterhalb der Dachbodenluke gehievt hatte. Wenn ich mich auf meine Zehenspitzen stellte und meinen Arm lang machte, reichte der Haken am Ende der Stange gerade so bis an die Decke. Hatte ich es erst einmal geschafft, den Schnappverschluss der Luke zu öffnen, konnte ich danach mühelos über eine Leiter nach oben klettern. Um die Luke nach meinem Ausflug wieder zu schließen, hätte ich allerdings zehn Zentimeter größer und auch ein bisschen stärker sein müssen, denn man musste ihr einen kräftigen Stoß verpassen, damit der Riegel wieder einschnappte. Die Erwachsenen hatten sich aber glücklicherweise schon längst daran gewöhnt, dass der Riegel der Luke nicht mehr richtig hielt und die Luke manchmal offenstand. Ich durfte nur nicht vergessen, die verräterischen Zeichen, den Stuhl und die Stange, wegzuräumen, bevor ich die Galerie verließ.
Der Dachboden war nicht viel angenehmer als die stickige Galerie. Er war dunkel, kalt und schmutzig und es war nicht ratsam, dort herumzustreunen. Ich hatte mir dort schon mehr als einmal einen Spreißel eingefangen oder mich an einem hervorstehenden Nagel verletzt, während ich mich durch das Dunkel tastete und über das Gerümpel kletterte. Vor den natürlichen Bewohnern des Dachbodens, die mir in den Ritzen, Fugen und Nischen auflauerten, hatte ich ebenfalls großen Respekt. In der klinischen Atmosphäre der Laboratorien, Arbeitszimmer und Beobachtungsräume konnte mir eine Spinne keine Angst einjagen, da ich sie dort im Blick hatte und unter Kontrolle halten konnte. Aber der Dachboden war das Jagdgebiet der Spinnen, Käfer und Asseln und ich fühlte mich wie ihre Beute. Deswegen verlor ich keine Zeit, sondern ging zielstrebig zu dem Fenster, das Tomo für mich von Spinnenweben und Staub freigekehrt hatte, stieß es auf und kletterte hinaus aufs Dach, wo mich der Regen mit eisigen Peitschenhieben begrüßte.
Nachdem ich auf dem nassen Dach Fuß gefasst hatte, ließ ich das Fenster vorsichtig zurück in die Fassung fallen. Tomo hatte eine Gummischlaufe am Fensterrahmen befestigt, damit man es von außen leicht wieder aufziehen konnte. Das Gummi hatte allerdings über die Jahre hinweg seine Farbe eingebüßt und war rau und porös geworden. Jedes Mal, wenn ich auf das Dach hinauskletterte, nahm ich mir deswegen vor, es bei meinem nächsten Besuch auszutauschen.
Ich war es gewohnt, barfüßig auf dem Dach herumzuklettern, doch der Wind und der Regen machten es mir in jener Nacht schwer, die Balance zu halten und nicht auszurutschen. Im Nu waren Hemd und Haare vom Regen durchtränkt und klebten bei jeder Bewegung hinderlich an meinem Körper. Auf Händen, Knien und Füßen rutschte ich über die verwitterten Ziegel, bis ich eine Fenstergaube des Dachstuhls erreichte, wo ich mich hinsetzte, um mit angezogenen Armen und Beinen den mich umtosenden Kälteschauern zu trotzen und auf Tomo zu warten …
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… Die ganze Welt war Wasser geworden. Es troff vom Himmel, von unseren Nasenspitzen und von unseren Kleidern. Die Erde versuchte, uns mit ihren schlammigen Händen festzuhalten, und riss uns dabei fast die Schuhe von den Füßen. Die Wiesen waren ein aufgeschwemmtes grünes Polster. Aber so schnell wir auch liefen, die Nebel holten uns am Ende doch ein. Eliot entließ einen erschrockenen Schrei, als er von einem auf den anderen Moment blind wurde. Ich spürte, wie er nach meinem Mantel griff und sich wie ein Ertrinkender daran festkrallte: »Wir sollten uns jetzt nicht verlieren«, sagte er hörbar nervös und angespannt. Ich nickte zunächst nur, schickte jedoch sofort ein lautes Ja hinterher, als mir einfiel, dass er mich nicht mehr sehen konnte. Er blinzelte und fuhr sich immer wieder über die Augen, als ob sie sich nur an die Nebel gewöhnen müssten, um wieder sehen zu können. Ich redete ihm gut zu, während ich ihn mit einer Bandschlinge und einem Karabiner an mir festmachte.
Nachdem wir aneinander festgeknotet waren und uns nicht mehr verlieren konnten, erklärte ich ihm, dass ich den Weg zurück auch blind fände. Nun war er es, der stumm nickte, bevor er zögerlich seine verkrampfte Hand löste, die sich in der Wolle meines Mantels verbissen hatte. Obwohl ihm nicht klar war, dass ich bei Nacht und Nebel beinahe ebenso gut sehen kann wie bei Tageslicht und klarem Wetter, vertraute er sich mir an und folgte mir vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend durch die dicken Nebelschwaden. Seine Hand hielt sich dabei hilfesuchend an dem Karabiner an seinem Ende der Bandschlinge fest …
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… Eliot starrte durch den Regenvorhang in die Dunkelheit. Sein nasses, straff nach hinten gestrichenes Haar entblößte sein sonst immer unter Ponyfransen verborgenes Gesicht und seine mit Wasser vollgesogenen Kleider zeichneten seine schmalen Konturen nach. Da der Mond es nicht schaffte, die Wolken zu durchdringen, und ich die Lampe heruntergedreht hatte, um Gas zu sparen, sah ich ihn nur als schemenhafte Geistergestalt mit einem graublassen Gesicht.
»Dem Nebel sind wir entkommen, aber die Dunkelheit hat uns«, sagte er plötzlich und warf einen skeptischen Blick auf den spärlichen Lichtschein unserer Laterne.
»Fühlst Du Dich unwohl Dunkelheit?«, fragte ich.
»Nein, ja, doch schon, irgendwie, aber …« Er stockte und prüfte seine Jacke und meinen Mantel, die wir zum Trocknen aufgehängt hatten: »Es ist nicht so sehr die Dunkelheit, die ich fürchte, vielmehr die Nässe. Oder genauer: die Kombination von beidem.« Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach: »Alles ist nass. Nass und dunkel. Es regnet, meine Haare, meine Kleidung und meine Schuhe sind durchweicht und hier drin ist alles beschlagen: die Gaskartusche, das Kompassglas, unsere Feldflaschen.«
»Und wieso fürchtest Du Dich dabei?«, fragte ich bemüht, verständnisvoll zu klingen.
»Es ist keine greifbare Furcht. Aber meine Großmutter sagt, Nässe begünstige die Kraft von Dämonen und Kobolden. Wahrscheinlich fühle ich mich deswegen so unbehaglich. Vorhin im Nebel hatte ich kurzzeitig das Gefühl, dass sie jeden Moment ihre Stimmen erheben und nach uns rufen würden.« Er lachte über sich selbst, als wollte er sich über seine irrationale Furcht lustig machen, bevor ich es tun konnte. Doch sein Lachen klang gezwungen und ich konnte seine Verlegenheit spüren.
»Die Kobolde können Dir hier nichts tun. Immerhin bin ich bei Dir, und da ich nicht an sie glaube, haben sie auch keine Macht über mich«, erklärte ich wie ein unumstößliches Gesetz, fügte dann etwas aber weniger überzeugend hinzu: »Glaube ich jedenfalls.«
»Widersprichst Du Dir nicht gerade selbst?« Eliot musste lachen und dieses Mal war das Lachen echt. Seine Angst war ebenso rasch verflogen, wie sie aufgekeimt war, als wäre sie nur ein kurzer Nachhall aus seiner Kindheit gewesen, der nicht hierher gehörte.
»Schon möglich, dass ich mir widerspreche, aber das merken die Kobolde sicherlich nicht«, scherzte ich und wurde erneut mit einem Lachen belohnt. Daraufhin ließ ich meiner Fantasie freien Lauf und erzählte von Kobolden, Fuchsfeuern und anderen Fabelwesen, wie man sie vergrämte und wie man sie zähmte. Ich kenne mich mit solchen Geistergeschichten ziemlich gut aus. Tomo war zwar immer der bessere Geschichtenerfinder von uns gewesen, aber dadurch habe ich sozusagen beim Meister gelernt. Ich imitierte Tomos kindliche Ernsthaftigkeit, als ich Eliot erklärte ich, dass es in den Alpen keine Kobolde gebe. Eliot fühlte sich zwar zunächst auf den Arm genommen, entschied sich schließlich jedoch dazu, meine Geschichten hören zu wollen. Also erzählte ich ihm von den Gletscherflüssen und Gebirgsquellen, die das Land ununterbrochen reinigten, und dass Kobolde in solch klarem Wasser nicht leben konnten, da sie stehende, abgeschlossene, besser noch faulige Gewässer brauchten.
Meine Erklärungen leuchteten ihm ein. Das mussten sie auch, denn es waren eigentlich Tomos Erklärungen, und was Geister und Kobolde anging, war er eben ein Experte. Während ich erzählte, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass Tomos Funke auf mich übersprang. Denn ich begann, sein Repertoire um neue Wahrheiten und Legenden über Mittenwalder Kobolde und Alpengeister zu erweitern. Ich erzählte Eliot von der verfallenen Steinbrücke an der alten Kanalmündung unweit der Kaserne, wo sich das Wasser manchmal in dem aus den Bergen ausgeschwemmten Unrat staute. Seit sich dort ein trauriger Mensch das Leben genommen hatte, galt der Ort als verwunschen. Wenn es hier in der Gegend überhaupt einen Ort gab, an dem Kobolde und Geister ihr Unwesen trieben, musste er unter jener Brücke sein. Aber selbst dann nur im Herbst, wenn der Regen Geröll, Laub, Äste und Tierleichen von den Hängen in den Fluss spülte. Die Hänge selbst hingegen waren sozusagen koboldfrei, genauso wie die Gipfel, Hochwege, Weiden und Almhöfe. Eliot sah mich an, legte den Kopf schräg und …
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… Als wir uns verabschiedeten, versicherte ich Eliot in meiner Euphorie noch einmal, dass das Leben schön sei. Zurück in meiner Wohnung auf dem Kasernengelände, mit trockenen Kleidern, frisch gewaschenem Haar und einer heißen Tasse Tee ist allerdings alles wieder wie immer. Ich weiß nicht, ob das Leben wirklich schön ist, aber ich weiß, dass ich es meinte, als ich es sagte …
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… lediglich das Mädchen vom Glashaus am Scheideweg zum Dammkar. Der Weg teilt sich dort in fünf Richtungen auf. Nordwärts geht es zurück zur Kaserne, östlich kommt man direkt ins Kar und von den beiden Südwegen führt einer geradeaus Richtung Offiziersheim und einer runter ins Dorf. Der fünfte Weg Richtung Westen ist uninteressant. Wir trafen sie deswegen regelmäßig bei unseren Märschen ins Gebirge oder auf dem Weg zum Offiziersheim, zum Bahnhof oder zur Einkaufsstraße. Die Jungs waren so sehr von ihr angetan, dass sie, kurz bevor das Glashaus in Sichtweite rückte, freiwillig Haltung annahmen und ihre beste Seite hervorkehrten. Hände schnellten zur Frisur, zum Hemdskragen, zum Hosenbund und wieder zurück zum Rucksackriemen. Der Gang wurde aufrechter, die Schultern breiter, die Mienen heller, der Gesang lauter. Wer an diesem besonderen Streckenabschnitt zusätzlich das Marschgepäck eines entkräfteten Kameraden oder andere schwere Ausrüstungsgegenstände wie Seile, Funkkoffer oder Lawinenschaufeln tragen durfte, galt als privilegiert. Am Glashaus selbst ging dann das große Gegrinse, Gegrüße und Gewinke los. Das Mädchen erwiderte die Galanterien stets freundlich, wenngleich äußerst zurückhaltend. Dem einen schenkte sie ein Lächeln, dem anderen ein Kopfnicken. Nur selten winkte sie zurück. Meistens tat sie einfach so, als wäre sie zu beschäftigt, um zu bemerken, was um sie herum vor sich ging. In den Stuben wurden ihre Erwiderungen wie Trophäen gehandelt. Zum Glück war ich …
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… und tippte gerade an den Protokollen der letzten Stabssitzung, als plötzlich meine Tür aufgerissen wurde und Falk vor mir stand: »Falk! Was machst Du hier?« Wir hatten uns zwar zuletzt auf die förmlichen Anreden Feldwebel Kastl und Hauptmann Fenner geeinigt, aber ich tat so, als hätte ich diese Abmachung vergessen.
»Ich werde noch diesen Monat zu einer Expedition im Himalaya aufbrechen«, sagte er trocken, fast vorwurfsvoll und wartete auf eine Reaktion.
»Wirklich?« Ich tat ganz überrascht, beglückwünschte ihn und fragte, wohin es genau gehen solle.
»Ich bin doch nicht blöd«, fuhr er mich plötzlich an. »Ich habe die Teilnehmerliste gesehen und weiß, dass Du zurückgetreten bist, um mir Deinen Platz zu überlassen.«
»Nein, nein, nein«, wiegelte ich ab: »So war das nicht: Ich habe nur keine Zeit, drei Monate lang am Fuß des Himalayas zu campieren und auf besser Wetter zu warten. Wie Du vielleicht weißt, plane ich zurzeit selbst eine mehrwöchige Hochgebirgstour im Ausland. Deswegen habe ich das Angebot ausgeschlagen und dem Leiter der Expedition einen anderen Bergsteiger empfohlen.«
Falk schnaubte: »Und weswegen taucht dann Dein Name auf jeder Teilnehmerliste auf? Sogar auf der Materialkiste für meine persönlichen Ausrüstungsgegenstände steht Wilhelm Fenner.«
»Ich kenne den Expeditionsleiter von früheren Unternehmungen. Er hatte meine unverbindliche und generelle Interessenbekundung sowie meine Hilfe bei der Planung der Tour als Zusage missverstanden. Vielleicht war es auch ein reines Sprachproblem, weil mein Französisch so schlecht ist. Ich dachte immer, ›on‹ hieße ›man‹, aber er hat es offenbar immer als ›wir‹ aufgefasst. Nun ja, er ist der Franzose und wird es besser wissen. Deswegen war ich ihm auch einen Ersatz schuldig. Als ich ihm von Dir erzählte, war er sofort begeistert und wollte Dich unbedingt bei der Tour dabei haben. Ich riet ihm jedoch davon ab, Dir gegenüber meinen Namen zu erwähnen, weil Du nicht besonders gut auf mich zu sprechen seist.«
Falk lachte plötzlich lauthals los: »Was für ein schlechter Lügner Du doch bist, Wilhelm. Ich glaube Dir kein einziges Wort.« Er stürmte vor, riss mich aus meinem Stuhl und würgte mich mit einer herzlichen Umarmung schier zu Tode. Als er endlich von mir abließ, stemmt er beide Hände in die Hüften und fragte: »Ist denn meine ehemalige Stelle noch frei, wenn ich in drei Monaten wiederkomme?«
»Vermutlich«, japste ich und lockerte meinen Hemdkragen.
»Und was muss ich tun, um wieder meinen alten Posten zurückzubekommen?«, fragte er.
»Am Leben bleiben«, war meine noch immer kurzatmige Antwort und zugleich der einzige Rat, den ich meinem einst besten Schüler geben konnte, da er seinen ehemaligen Lehrer inzwischen in jeder Hinsicht übertraf.
Als das Telefon klingelte, sprang Falk sofort an den Hörer und meldete sich mit: »Stabsabteilung für Sicherheit im Gebirge, Feldwebel Kastl am Apparat.«
Ich schüttelte nur den Kopf.
»Die Freude ist ganz meinerseits«, quasselte er fröhlich in den Hörer: »Ich bin allerdings erst wieder ab Juli regulär hier im Dienst, weil ich die nächsten drei Monate auf einer Expedition im Himalaya unterwegs sein werde.«
»Am Leben bleiben.«
»Danke, danke, vielen Dank. Darf ich Hauptmann Fenner etwas ausrichten?«
»Er ist zurzeit indisponiert.«
»Äh, ja.«
»Gut, werde ich.«
»Ja, mache ich.«
»Aber natürlich.«
»Immer doch.«
»Gerne.«
»Servus und auf Wiederhören.«
Er legte den Hörer zurück auf die Gabel und wandte sich zu mir: »War nur Heidt, er lässt Dich grüßen und bittet um die Protokolle der letzten Stabssitzung. Soll ich sie ihm schnell vorbeibringen? Ich komme ohnehin an seinem Büro vorbei.«
»Wenn sie geschrieben wären, hätte ich sie schon längst selbst abgegeben.«
»Mei, mei«, sagte Falk: »Was ein Lotterladen. Es tut mir wirklich leid, dass ich erst in drei Monaten zurück sein werde, um hier mal kräftig aufzuräumen …
…
…
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… waren die Gespräche, die wir mit den einheimischen Priestern, Dorfältesten, Einsiedlern und Gelehrten führten. Der Professor stellte immer die gleichen Fragen: nach geheimen Tunnelsystemen, nach versteckten Zugängen zu alten Tempelanlagen, nach unterirdischen Seen und Höhlen und nach anderen mysteriösen Dingen. Die übrigen Expeditionsteilnehmer führten Protokoll, zeichneten Skizzen, übersetzten oder saßen wie ich schweigend daneben. So eine Expedition konnte durchaus mehrere Wochen dauern, sodass ich oft nicht umhin kam, die Sprache der Einheimischen ein wenig zu lernen: Namaskar, Namaste, Egg, Dui, Dihn, Tsahr, Bahnz, Zhoar, Sath, Aht, No, Dos. Es fällt mir leicht, neue Sprachen zu lernen. Das war mir damals in der Schule von großem Vorteil gewesen, als ich fünf Schuljahre Englisch, Französisch und Latein nachholen musste. Dass ich im Kinderheim niemals Lettisch oder Russisch gelernt hatte, lag nicht an meinem mangelnden Verständnis, sondern an meiner Wut und meinem tiefsitzenden Unwillen.
Der Professor lernte die Sprachen der Einheimischen auf unseren Reisen jedoch nie. Er brauchte immer einen Dolmetscher. Es war interessant mitzuerleben, wie jeder Dolmetscher auf seine eigene Art zu übersetzen pflegte. Einige übersetzten wortgetreu, während andere das Gesagte frei interpretierten und wieder andere nur eine knappe Zusammenfassung weitergaben und dabei nicht nur sämtliche Freundlichkeiten, Unsicherheiten und Ausschmückungen unterschlugen, sondern teilweise sogar Informationen zurückhielten. Ich griff jedoch niemals korrigierend in diese Erwachsenengespräche ein, sondern schwieg wie befohlen und zählte die Dinge …
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… als wir schließlich vor den Ältestenrat geführt wurden und der Professor seinen üblichen Sermon vorgebracht hatte, lautete die Antwort des Ratsältesten schlicht: »Sie scheinen viel von dem zu wissen, was nur den Weisesten zu wissen erlaubt ist. Entweder gehören Sie zum Kreis der Erwählten oder Sie haben sich dieses Wissens auf unredliche Weise bemächtigt. In beiden Fällen brauche ich nichts zu sagen. Der Auserwählte bedarf meiner Antwort nicht und mit Lügnern, Dieben und Räubern habe ich nichts zu teilen.« Der Dolmetscher machte daraus einen einzigen Satz: »Er scheint die Antwort auf Ihre Fragen nicht zu wissen …
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… verzweifelte fast an meinen unerfüllbaren Ansprüchen auf der einen Seite und meiner Gleichgültigkeit gegenüber jeglichem Komfort auf der anderen. Ich ging die Liste nochmals durch und fragte ihn, warum er mir das auf dem Mittenwalder Kapitol gelegene Haus vorenthalten habe.
»Vorenthalten?«, fragte er belustigt: »Du meinst wohl eher erspart! Das Haus ist eine baufällige Baracke auf einem von Unkraut und Gestrüpp zugewucherten Gelände. Der angebaute Schuppen ist so morsch, dass er bei der leisesten Brise einzustürzen droht. Das Gleiche gilt für den Dachstuhl und die Veranda. Es ist das letzte Haus der Straße, bevor der Wald beginnt. Obwohl das Häuschen unbewohnt ist, erzählt man den Kindern, dass dort ein Menschenfresser namens Wurzelsepp hausen würde, um sie davon abzuhalten, allein in den Wald hinauszulaufen.«
Ich fand, das passte prima. Ein geächtetes Haus für den König der Idioten, Fürst Wilhelm Myschkin! Ich bestand darauf, die Bruchbude besichtigen zu wollen, bevor ich eine endgültige Entscheidung treffen würde. Chris versuchte, mir das auszureden, gab sich jedoch letzten Endes geschlagen und fuhr mit mir aufs Kapitol hinaus. Unterwegs klärte er mich über dieses gehobene Wohnviertel auf.
Man vermiete dort nicht gerne an Bundeswehrangehörige, erklärte er, weil Soldaten oft nur wenige Jahre bleiben würden. Die Bewohner der Villen und Kleinschlösser seien entweder Eigentümer oder langjährige Mieter, meist über Generationen hinweg. Aber das verwitterte Wurzelsepphäuschen gehöre einem starrsinnigen, alten Mittenwalder Senner, der schon seit Jahren vergeblich nach einem Mieter suche, weil er sich aller gut gemeinter Ratschläge zum Trotz dagegen sträube, die schäbige Hütte abreißen zu lassen und das Grundstück für eine attraktive Villa zu nutzen. Die Nachbarn hofften, dass spätestens die Erben des kauzigen Senners das alte Anwesen dem Erdboden gleichmachen würden. Je mehr mir Chris von dem Haus erzählte, desto mehr schloss ich es ins Herz, ohne es überhaupt gesehen haben.
Als wir dann endlich vor dem von wildwachsenden Büschen, Gräsern und Bäumen umschlossenen Häuschen standen, war ich vollends hingerissen, obgleich bei dem Versuch das Gartentor zu öffnen, die rostigen Angeln aus dem morschen Holz brachen. Kopfschüttelnd stellte Chris das Gatter zur Seite und betrat den verwilderten Garten. Aufgeregt folgte ich ihm.
Chris erzählte etwas von reparaturbedürftigen Fensterläden und einem Dachschaden, während er sich durch das Gestrüpp kämpfte, doch ich hatte nur Augen für den holprigen, gelben Ziegelsteinweg, der sich durch den dschungelartigen Garten zur Eingangstür schlängelte. Spätestens jetzt wusste ich, dass ich mein, nein vielmehr unser Haus gefunden hatte. Ein mit Efeu und Moos bewachsenes Hexenhäuschen am Ende eines gelben Ziegelsteinwegs. Ein smaragdgrüner Palast in einem verwunschenen Märchenwald. Eliot würde es lieben.
»Ich habe Dich gewarnt. Wir hätten gar nicht erst herkommen sollen. Das war reine Zeitverschwendung. Aber jetzt, nachdem Du es mit eigenen Augen gesehen hast, wirst Du mir wohl glauben, dass man hier nicht wohnen kann.« Chris schien meinen entrückten Blick als Abscheu missverstanden zu haben. Ich unterbrach ihn, nahm ihm den Schlüsselbund aus der Hand und erklärte feierlich, dass ich mich entschieden hätte.
»So plötzlich?«, fragte Chris verwundert: »Und wofür?«
»Für das hier!« Ich drehte mich einmal um meine eigene Achse und breitete dabei meine Arme aus, als ob ich das Grundstück umarmen wollte.
»Das ist nicht Dein Ernst«, sagte Chris entgeistert.
»Doch«, sagte ich und ließ die Schlüssel klingeln. Anschließend verbeugte ich mich vor einer freundlich lächelnden Vogelscheuche, die aus dem hüfthohen Gräsermeer hervorlugte, und setzte ihr meinen Hut auf: »Komm«, sagte ich zu Chris: »Schauen wir uns mein neues Haus von innen an.«
»Naja«, sagte Chris mit einem skeptischen Stirnrunzeln, bevor er mir zögerlich folgte: »Falls Du das wirklich ernst meinst, solltest Du am besten einen Gärtner und einen Landschaftsarchitekten anheuern, um das Gestrüpp hier ein bisschen in Form zu bringen, damit man nicht jedes Mal mit einer Machete eine Schneise schlagen muss. Danach lässt Du eine Armee aus Maurern, Dachdeckern und Schornsteinfegern hier anrücken. Die Sanierung dieses Objekts wird den Handwerkszünften der Region einen ganz schönen Aufschwung verleihen.«
Ich lachte nur und ging mit großen Schritten auf die grün gestrichene Eingangstür aus Holz zu, in deren Mitte ein Ehrfurcht einflößender Löwenkopf prangte. Er trug einen schweren Metallring zwischen seinen Zähnen und hieß mich mit ernster Miene willkommen. Seine ursprünglich goldene, inzwischen jedoch stark verwitterte Mähne umloderte seinen Kopf wie ein Strahlenkranz. Ich schlug drei Mal mit dem Türklopfer gegen einen Eisenbeschlag und drehte mich nach Chris um: »Be it ever so beautiful, there is no place like home«, sagte ich, doch sein Stirnrunzeln signalisierte mir nicht nur, dass er nicht verstand, wovon ich sprach, sondern dass er es auch nicht verstehen wollte. Eliot würde es auf Anhieb verstehen. Dessen war ich mir sicher. Erwartungsvoll sperrte ich die Tür auf, um mein neues Reich in Augenschein zu nehmen.
Anders als bei den übrigen Gebäuden, die wir an diesem Tag besichtigt hatten, war hier alles fix und fertig eingerichtet. Blumenbedruckte Schals umrahmten die Fenster und an den bunt tapezierten Wänden hingen Gemälde. Durch die verwinkelte Architektur wirkte zwar alles zunächst ein wenig düster, doch nachdem ich das Licht angeschaltet hatte, tauchten die glitzernden Kristalle des Deckenleuchters die schweren Holzmöbel und die Ornamente des dicken Fußbodenpersers in warmes Licht. Fasziniert schaute ich mir alles an. Die Schränke und Regale waren mit allerlei Krimskrams gefüllt. Es fehlte schlicht an nichts. Es gab Teetassen und Essgeschirr. Töpfe und Kannen. Tischdecken und Kerzenhalter. Bettwäsche und Gardinen. Sogar eine riesige Bibliothek und eine Zinnfigurensammlung. Chris erzählte etwas von verformten Bodendielen, zugigen Fenstern, morschen Türrahmen, mangelhafter Isolierung, bröselndem Putz und Problemen mit dem Brennstofftank des Kachelofens, doch ich schnitt ihm das Wort ab und sagte: »Wenn das Haus fließend Warmwasser im Badezimmer hat, nehme ich es …
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… seien es gelegentliche Freundschaftsdienste, die Umwidmung von Geldern über den kleinen Dienstweg oder das Stellen von Personal und Material. Bei diesem uralten Prinzip von Geben und Nehmen trifft das Geben – oder beisteuern, wie das hierzulande heißt – in letzter Zeit allerdings immer mich. Ständig heißt es: »Die Infrastruktur, die Ausrüstung, die Männer, das Organisatorische könnte doch Ihre Abteilung beisteuern, Hauptmann Fenner, oder nicht?« Ich schüttle dann immer den Kopf, aber das bringt immer seltener den gewünschten Erfolg. Man argumentiert damit, dass meine Sonderstabsabteilung genau genommen keine offizielle Grundlage hätte und demnach von Gottes Gnaden abhänge. ›Gottes Gnaden‹ bedeutet in diesem Fall ›Heidts Lust und Laune‹. Doch der macht sich in letzter Zeit allerdings immer seltener für mich stark, da er den Vorwurf der Vetternwirtschaft vermeiden möchte. Ich sei ja nun sein Schwiegersohn in spe. André hat mir bereits gratuliert und Gunnar suhlt sich in Schadenfreude. Und das alles wegen eines Blumenstraußes.
Zuletzt wurde ich nun also dazu verpflichtet, etwas für die deutsch-französische Freundschaft beizusteuern: Vier Wochen im Kessel von Bourg-Saint-Maurice, wo das Wort ›rot‹ verboten ist und man deswegen von kirschblauem Blut spricht. Ausgerechnet jetzt …
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~ Wilhelm Fenner