Es schien, als wollte die ganze Welt an diesem Abend nach München verreisen, und zwar mit dem Zug ab Mittenwald Bahnhof. Doch trotz des ungeheuren Menschenauflaufs herrschte eine verhaltene Stille, denn die meisten Reisenden waren zum Schutz vor dem beißenden Abendwind bis zur Nasenspitze in ihre dicken Regenjacken und Winterparkas vermummt und stumm. Als jedoch der Zug am Horizont erschien, waren wir plötzlich von flüchtigem Händeschütteln, innigen Umarmungen, hastig heruntergehaspelten Abschiedsfloskeln umzingelt: Mach’s gut und vergiss nicht … – Schreib eine Karte, wenn Du heil angekommen bist … – Ich ruf Dich an … Ellis Ruhe war ein angenehmer Gegenpol zu der hektischen Aufbruchstimmung um uns herum. Er schob seinen Ärmel zurück, schaute auf die Uhr und nickte. Der Zug war pünktlich. Er hängte sich seine Tasche um und starrte gedankenverloren auf die vibrierenden Schienen. Gierig trank ich die letzten Tropfen seiner so stillen und zugleich so berauschenden Art. Als er meinen Blick bemerkte, zuckte er nervös mit den Mundwinkeln, während ich meine Verlegenheit zusammen mit meinen Fäusten tief in den Taschen meiner Kniebundhose vergrub. Ich lächelte, um nichts sagen zu müssen, zuckte entschuldigend mit den Schultern und war fast froh, als der Zug schließlich langsam einrollte.
Eliot versuchte, etwas zu sagen doch das schrille Aufkreischen der Bremsen verwandelte seinen Versuch in lautlose Grimassen. Seine vor Kälte blassen Lippen spannten, öffneten und schlossen sich und ich konnte beobachten, wie seine Zunge beim Lachen hochschnellte. Die Tränen, die ihm der Wind in die Augen getrieben hatte, sammelten sich dabei in seinen zusammengekniffenen Augenwinkeln und liefen schließlich über seine Wangen. Er fuhr sich mit dem Handrücken übers Gesicht, strich seine Haare zurück, ordnete die Schlingen seines Schals und stellte den Kragen seines Mantels. Sein tonlosen Grimassen und Gebärden bargen den rätselhaften Charme eines Stummfilms, der jedoch nicht von dramatischer Klavier- oder Violinenmusik, sondern von quietschenden Bremsklötzen und über die Schwellen ratternden Eisenrädern begleitet wurde. Im Geiste blendete ich verschiedene theatralisch klingende Texttafeln ein und wieder aus.
Erst als mich Eliot erwartungsvoll anblickte, bemerkte ich, dass die Räder inzwischen zur Ruhe gekommen waren und er mir offenbar eine Frage gestellt hatte, die auf eine Antwort wartete. Das Donnern der aufschlagenden Wagontüren ersparte mir jedoch eine Ausrede für meine Geistesabwesenheit. Die aussteigenden Passagiere quollen langsam auf den Bahnsteig, wo sich die wartenden Fahrgäste ihre erfrorenen Hände rieben und auf eine funktionierende Heizung im Zug hofften.
»Kirschblaue Lippen und grünes Blut? So war es doch?«, wiederholte Eliot seine Frage, die seinen Abschied einleiten sollte. Obwohl er wieder alles durcheinanderbrachte – und ich glaube fast, er tat das absichtlich – nickte ich nur und schwieg. »Ich bin gespannt«, fuhr er auf mein beharrliches Schweigen hin fort, »was Du zu erzählen hast, wenn Du wiederkommst.« Wieder brachte ich lediglich ein wortloses Kopfnicken zustande. Es war, als hätte ich keine Stimme. Meine Gedanken schweiften ständig ab und meine Bewegungen kamen mir plump und ohne Elan vor. Wie ein Fremder saß ich in meinem Körper und beobachtete reglos und stumm, was draußen vor sich ging. Als Eliot jedoch in den Zug steigen wollte, schnellte plötzlich mein Arm nach vorn, ergriff sein Handgelenk und riss ihn zurück. Als sich Eliot nach mir umdrehte, konnte ich allerdings nicht erklären, warum ich das gerade getan hatte. Es war mein Arm gewesen, nicht ich.
Ich versuchte, die Situation zu erklären, aber ich konnte mich nicht konzentrieren und meine Zunge lag in meinem Mund, wie etwas, das mir nicht gehörte und nicht gehorchte. Ich sah Eliot an, doch das Schwarz seiner Augen war undurchdringlich und ich befürchtete bereits, dass dieser Abschied der letzte sein würde, als Eliot tief und hörbar einatmete. Sein Atem hüllte ihn für einen kurzen Moment in eine weiße Nebelwolke, die sich aber ebenso schnell verflüchtigte, wie sie entstanden war, und sich wie ein Schleier von seinem Gesicht hob. Nachdem der Schleier gelüftet war, glaubte ich plötzlich eine seltsame Mischung aus Gewissheit und Erleichterung in seiner Miene zu erkennen. Eine Gewissheit, der die Genugtuung innewohnte, jemanden überlistet oder durchschaut zu haben, und eine Erleichterung wie das befreite Aufatmen, wenn man nach einer langen Etappe ohne Keil und Haken endlich wieder einen Karabiner in eine Sicherung klippt. Ich fühlte mich hingegen weder sicher noch erleichtert, da noch eine weitere Gefühlsregung in seinem Blick verborgen lag, die ich nicht zu deuten vermochte. War es Anteilnahme, Nachsicht, Vergebung, Bedauern oder etwa – mir war, als bohrte er mit einem Messer in meiner Brust herum – Mitleid? Hatte er etwa Mitleid mit dem unglücklich Verliebten?
Entsetzt ließ ich seinen Arm los und taumelte zwei Schritte rückwärts. Glücklicherweise erfassten mich in diesem Moment die beiden gegenläufigen Stromschnellen aus ankommenden und abreisenden Passagieren, die mich grob zur Seite schwemmten und von Eliot trennten. Am liebsten wäre ich davongelaufen, doch die ausgestiegenen Fahrgäste suchten rasch das Weite, die einsteigenden den richtigen Wagen und ehe ich mich versah, standen wir uns wieder gegenüber.
Eliot hatte sich auf die unterste Trittstufe eines Wagens gestellt, um die Tür am Zuschlagen zu hindern, und kramte im Innenfutter seiner Jacke. Unschlüssig ging ich auf ihn zu, als die gellende Stimme des Schaffners die Passagiere aufforderte, von den Türen zurückzutreten. Eliot macht eine hastige Bewegung und drückte mir ein kleines Briefkuvert in die Hand: »Aber erst in Frankreich lesen«, ermahnte er mich, bevor er in den Wagen kletterte.
Ich wollte etwas erwidern, aber unmittelbar nachdem Eliot die Tür freigegeben hatte, schnappte sie mit einem lauten Scheppern hinter ihm zu und ein schrilles Pfeifen ertönte. Verwirrt betrachtete ich das pastellfarbene Briefkuvert in meiner Hand: ›Für Wilhelm von Eliot‹ stand auf der Vorderseite des Umschlags. Als ich den Brief jedoch wendete und die mit einem Streifen Paketklebeband verschlossene Lasche sah, wurde ich plötzlich ganz ruhig. Ich sah auf, doch durch das schmutzige Fensterglas der Zugtür erkannte ich lediglich eine undeutlich flackernde Silhouette. Als der Zug nur eine Sekunde später anfuhr, begann ich zu laufen. Ich lief so schnell, wie ich konnte, und begleitete die Tür bis ans Ende des Bahnsteigs, wo der Zug schließlich Fahrt aufnahm und seinen lästigen Verfolger abschüttelte.
Kaum war der letzte Wagen außer Sichtweite, öffnete ich den Briefumschlag und las: »Wo bist Du und was denkst Du gerade? Das Leben ist so schrecklich leer, einsam und sinnlos ohne Dich. Ich hoffe, Du bist gesund und glücklich. Dein Heinrich. Winter 1985.« Ich las die Nachricht mehrmals, um sicherzugehen, dass ich mich nicht verlesen hatte, und jedes Mal löste sich ein eisernes Band von meiner Brust, nicht als lauter Knall wie im Märchen, sondern als leiser Seufzer. Aber die Wirklichkeit ist oftmals zurückhaltender als die Legende.
Das war’s. Meine Geschichte ist hiermit zu Ende erzählt und eine andere Geschichte, unsere Geschichte, beginnt, Deine und meine. Eine Geschichte über ein altes und über alles erhabenes Versprechen und eine ordentliche Portion Glück. Aber, wie ich es nicht zum ersten Mal predige, sind glückliche Geschichten nicht dafür gedacht, aufgeschrieben zu werden. Ich bin unentschlossen, ob ich diese im Verlauf der letzten vierzehn Monate auf mehrere Hundert Bildschirmseiten angewachsene Datei löschen oder behalten soll. Listen dienen dem Ordnen und Verstehen. In dem Moment, in dem sie geschrieben sind, haben sie ihren Zweck erfüllt und können in den Ofen geworfen werden. Aber wer weiß, vielleicht werde ich Dir irgendwann einmal bei einer Tasse Tee aus dieser besonderen Liste – der Liste der wichtigsten Begebenheiten meines Lebens – vorlesen. Dann können wir vergangene Ereignisse wiederaufleben lassen und alte Streitereien zu Ende diskutieren. Aber das hat noch Zeit. Denn egal wie viele Versäumnisse hinter uns liegen, vor uns liegt die Zukunft und wir beide, Du und ich, stehen gerade am Anfang aller Dinge – Dein Wilhelm, Mittenwald, 8. November 1992.