Briefe

Hans-Joachim Meissmann (Hajo) an seinen Freund Lysander Josef Luv (Lys) (zurück)

Die vierte Kränkung der Menschheit (Koblenz, 30. Juni 1959)

Lieber Lys,

wir feilen an der vierten Kränkung der Menschheit, indem wir zeigen, dass man Individuen aus dem menschlichen Genbausatz nach belieben gestalten kann. Intelligenz, Temperament, Physiognomie. Es liegt alles in unserer Hand. Die Leute verstehen das naturalistische Weltbild leider immer falsch. Es reduziert uns nicht zu organischen Automaten, sondern es erhebt uns in den Berufsstand von Göttern, die ebensolche Automaten bauen, indem sie sich selbst neu erschaffen.

Wenn wir erst mit unserer EVA fertig sind, wird es in unserem Weltbild keinen Platz mehr für eine Seele geben. Alles kann synthetisiert werden, selbst der scheinbar freie Wille und das Gefühl für Ästhetik. Die Resultate unserer Experimente werden nicht nur das Leib-Seele-Problem auflösen, sondern die Seele selbst.

Seit wir wissen, wie viel Macht in dem kleinen Ding steckt, sind wir nicht mehr aufzuhalten. Ich freue mich, Dich nächsten Monat wieder hier begrüßen zu dürfen.

Dein Hajo.

Todesliganden (Koblenz, 15. Januar 1960)

Lieber Lys,

diesen Brief in das Abholfach der Concierge zu werfen, wird wohl das Letzte sein, wozu ich fähig bin, bevor ich meinem erschöpften Körper die nach drei schlaflosen Nächten wohlverdiente und dringend benötigte Ruhe gewähren muss. Du magst meinen, ich neige zur Theatralik, aber was ich Dir zu sagen habe, ist von solch unschätzbarem Wert für unsere Forschung, dass es mir schwerfällt, nüchtern zu reden. Meine Gedanken überschlagen sich und die Vision des Kommenden umnebelt mir die Sinne. Im Sommer 1958 haben wir gelernt, den Tod zu betrügen, und ich weiß nun, wie wir dieses Wissen nutzen können, um eine unsterbliche Eva zu produzieren.

Ich brauche Dich sicherlich nicht an die Nacht zu erinnern, in welcher der Beschuss der Gewebekulturen unter unserem Mikroskop durch den Todesliganden merkwürdigerweise nicht zur Apoptose führte, sondern neues Leben entstehen ließ. Wir gerieten damals in einen wahren Taumel aus Euphorie und scheinbar greifbarem Glück. Wie sehr zerstörte uns damals aber wenige Wochen später die Erkenntnis, uns doch in einer Sackgasse verlaufen zu haben, da uns – wie wir damals dachten – die nötigen Mittel, Gelder und Forschungszeit fehlten, obwohl es uns – wie ich heute weiß – nur an Schneid und Vorstellungskraft mangelte.

Aber vor drei Nächten kam er zu mir. Der Feuerfunke, der zwar kein ewiges Leben verheißen mag, aber das Zellgewebe eines Adamsabdrucks in den Zustand permanenter Regeneration versetzen kann und den Organismus somit ermächtigt, Kunstfehler oder genetische Unverträglichkeiten durch planmäßig gesteuerte Zellerneuerung auszugleichen. Vorbei sind damit die Zeiten, in denen die Evas schneller zu Grabe getragen wurden, als man sie im Labor nachzüchten konnte. Ich glaube, wir können den Schritt eher wagen als gedacht. Eva ist keine Jahrzehnte mehr entfernt, wie Du immer raunst. In einem oder in zwei Jahren könnten wir bereit sein, Prinzessin Martha zum Leben zu erwecken. Von Leydens Institut ist meines Erachtens der perfekte Ort für dieses Projekt. Wieder überschlägt sich alles in mir. Wir müssen uns bald sehen.

Dein Hajo

Darwins Erben (Koblenz, 5. März 1960)

Lieber Lys,

mit den Resultaten der Tests, die wir im Frühjahr durchgeführt haben, schließen wir nicht nur Lücken in Darwins Argumentationsketten, sondern entlarven zugleich seine Irrtümer, untermauern seine Hypothesen und zerstreuen seine mangelhafte Beweisführung. Ich möchte unseres alten Lehrmeisters Werk nicht schlecht stellen. Im Gegenteil: Ich möchte vielmehr die Bedeutung unserer Arbeit hervorkehren. Darwin war Theoretiker, wir hingegen praktizieren Evolution.

Ja, ich habe Deinen Artikel in der Lanzette gelesen und erkenne Deine brillanten Ideen als richtungsweisend für zukünftige Projekte an. Allerdings solltest Du nicht vergessen: Forschung geschieht im Labor, nicht auf dem Papier. Für die Experimente im Sommer habe ich ein formidables Team zusammengestellt, der Arbeitsgruppenleiter rezitiert die Adamskodierungen im Schlaf und seine Mitarbeiter sind enthusiastisch der Sache ergeben. Es freut mich zu hören, dass Du die Forschungsgruppe im Sommer leiten wirst, das Team steht ganz nach Deinen Wünschen bereits ab April zu Deiner Verfügung. Dr. P. Blatzek wird sich um die Koordination kümmern, Du kannst ihn ebenfalls ab April im Institut erreichen. Wenn Du Dich vorher mit ihm in Verbindung setzen willst, kannst Du ihn unter seiner Moskauer Adresse erreichen. Seine Anschrift liegt diesem Brief auf einem Kärtchen bei. Er beherrscht fließend Deutsch und Französisch in Schrift und Sprache.

Ich habe mir auch Deine Idee bezüglich der Genfer Ausschreibung durch den Kopf gehen lassen. Der einzige Haken an den Stiftungsgeldern ist, dass sie an therapeutische Anwendungsforschung geknüpft sind. Es sollte uns jedoch ein Leichtes sein, unsere Grundlagenforschung als solche zu verkaufen. Ich lasse gerade ein Papier vorbereiten, das alle wesentlichen Statistiken enthält, die Du für Deine Argumentation brauchst. Du wirst das Papier noch vor Ablauf der nächsten Woche in Händen halten.

Dein Hajo

Genetische Kompatibilität (Wiesloch, 8. Februar 1961)

Lieber Lys,

die Gefahren in Bezug auf die Verträglichkeit der Immunzellen der Adamskinder mit denen der geplanten Eva haben mir ja nicht die Spatzen von den Dächern gepfiffen, sondern ich stütze mich dabei auf die Erfahrungen aus der Transplantationsmedizin. Wir müssen darauf achten, dass die Stammzellen der Adamskinder mit denen unserer Eva immunologisch kompatibel sind, sonst zerfrisst sich das Geschöpf am Ende in einem aussichtslosen Kampf gegen sich selbst. Mit einer geeigneten Selektion können wir diesen Umstand jedoch vorbeugen und die gesamte Palette an Autoimmunleiden, die den Forschern von Eva II das Leben schwer gemacht haben, vermeiden. Die implantierten Stammzellen sollen helfen, das Gewebe und die Organe zu regenerieren und sie nicht zerfressen. Das war bisher das Los aller Chimären der Evareihe. Wichtig ist nun lediglich, dass wir die Zeit, das Geld und die Geduld aufbringen, die Adamsakten erneut durchzumustern. Nicht die gesamte 55.000 Dateien schwere Ablage, sondern nur das Material der letzten zehn bis zwanzig Jahre und davon auch nur diejenigen, die entsprechende Gewebeproben enthalten. Mit vier Mitarbeitern könnten wir das innerhalb eines Monats durchführen. Diese Arbeit sollte auf jeden Fall von einem von uns überwacht und geleitet werden. Es geht immerhin um ein großes Vermächtnis und ich bin mir nicht immer sicher, auf wen wir uns wie weit verlassen können.

Lass mich wissen, wie Du zu der Sache stehst und wann Du eine Schicht im Institut übernehmen könntest.

Dein Hajo.

Das Eva-Projekt (Wiesloch, 6. Juni 1961)

Lieber Lys,

hör auf ihr Liebesbriefe zu schreiben, sondern hole sie nach Europa und lass uns mit dem Projekt beginnen. Ich zähle auf Dich.

Dein Hajo

Das Drosselmeyer-Projekt (Wiesloch, 12. Januar 1962)

Lieber Lys,

Du wunderst Dich sicherlich, dass ich trotz unseres Zerwürfnisses und des hässlichen Abschieds so schnell wieder von mir hören lasse. Aber ich habe eine Entdeckung gemacht, die möglicherweise umgehendes Handeln erfordert.

Die Brüder Jakob und Wilhelm lagen falsch. Sie waren zwar vortreffliche Sprachwissenschaftler, aber lausige Genealogen und haben sich von den Bastarden und Kuckuckskindern der Drosselmeyerlinie an der Nase herumführen lassen. Ich bin jedoch einer wichtigen Spur gefolgt, die mir zufälligerweise über eine verwirrte Patientin des hiesigen Sanatoriums zugetragen wurde, und habe herausgefunden, dass Drosselmeyers Blut im Verlauf der letzten 200 Jahre viele Male den Namen gewechselt hat und es ist mir tatsächlich gelungen, einen heute noch lebenden Drosselmeyererben ausfindig zu machen.

Die Spur führte mich zunächst nach Menten, der Heimatstadt meiner Patientin. Dort lebt ein Mädchen, das seinen Freunden gerne vermeintlich erfundene Märchen und erdichtete Sensationsstorys erzählt, ohne sich der Tatsache bewusst zu sein, dass diese Erfindungen zur gleichen Zeit, an einem anderen Ort tatsächlich geschehen. Meinen Nachforschungen zufolge ist sie sich ihrer Gabe nicht bewusst, ahnt jedoch bereits, dass sie bestimmte Fähigkeiten besitzt, da sie vor Kurzem Zeuge wurde, wie eine ihrer Geschichten Wirklichkeit wurde. Sie scheint aber entweder die Wirklichkeit nicht willentlich beeinflussen zu können oder sich nicht auf die richtige Technik zu verstehen, sonst würde sie mit ihrer Familie nicht in solch ärmlichen Verhältnissen leben, in denen ich sie aufgefunden habe, und sonst hätte sie ihren lieben kleinen Bruder nicht eines grausamen, langsamen und siechenden Todes durch eine intensive Röntgenstrahltherapie sterben lassen. Ich selbst habe den Kleinen verstrahlt, um die Fähigkeiten des Mädchens zu testen. Tage- und nächtelang hat der sterbende Junge geschrien und sein Elternhaus um sein Leben bangen lassen, dennoch hat das Mädchen keinen Versuch unternommen, ihn zu retten.

Wie dem auch sei. Ich habe die Blutlinie des Mädchens bis nach Böhmen zurückverfolgen können und habe von dort aus nach dem letzten Erstgeborenen der Drosselmeyerfamilie geforscht. Ich bin auch fündig geworden. Sein Name ist Friedrich Joseph Lorenz, er wurde 43 in Leipzig geboren und ist dort mit seinem Vater, dem derzeit ältesten lebenden Drosselmeyer aufgewachsen. Der Sohn ist jedoch vor drei Jahren zu einer Europareise aufgebrochen und niemals zurückgekehrt. An dieser Stelle verlieren wir seine Spur. Eine letzte Postkarte soll der alte Drosselmeyer aus Jugoslawien erhalten haben.

Sollte Friedrich Joseph bei seiner Europareise ein schweres Leid geschehen sein, würde das bedeuten, dass das Mädchen aus Mannheim – Emilia Klara Hundertwasser ist ihr Name – seine Nachfolge antreten und bald ihr volles Drosselmeyerpotenzial entfalten wird. Ich werde auch sie weiterhin im Auge behalten.

Dies aber nur nebenbei. Unsere Hauptaufgabe liegt in einem anderen Projekt. Nächsten Monat soll Eva gestartet werden. Luise hat ihre Zustimmung gegeben, auch wenn sie die Details der Operation nicht kennt und ich auch kein gesteigertes Interesse daran habe, sie in die Pläne einzuweihen. Es fehlt uns nur noch ein geeigneter α-Adam. Ich bin in dieser Hinsicht eben sehr wählerisch.

Wie Du siehst, überschlagen sich hier während Deiner Abwesenheit die Ereignisse. Es gibt viel zu tun und ich brauche Deine Hilfe.

Glaube mir, mein Freund, dass ich Dir Dein Glück mit Henriette gönne. Lass uns die Auseinandersetzungen aus dem Weg räumen und wieder zusammenarbeiten. Wie Du weißt, besteht von Leydens Nachlass über das Institut hinaus aus weiteren Liegenschaften, eine davon in Institutsnähe mit einem idyllischen Anwesen, das als Familienresidenz Verwendung finden könnte. Du und Deine Frau wolltet doch nach Europa übersiedeln. Wie wäre es da mit einem schmucken Landsitz im Osten?

Dein Hajo

Die kleine Eva spricht (Lettland, 12. Juni 1963)

Lieber Lys,

über die Unterschiede im ereignisorientierten Hirnpotenzial, die das EEG zutage fördert, kann sich die kleine Eva trotz ihrer erst vier Erdenmonate schon prächtig mit uns unterhalten und ist geradezu gesprächig. Die Protokolle der Farb- und Sprachtests sowie die Ergebnisse der Bestrahlungstherapie anbei.

Dein Hajo

Auseinandersetzungen mit Henriette (Lettland, 5. Juni 1964)

Lieber Lys,

es tut mir leid, dass ich mich so rabiat mit Henriette auseinandersetzen musste, doch machst Du es Dir derzeit nach meinem Geschmack ein wenig zu einfach. Du kannst mir nicht allein die Schuld daran geben, dass die Dinge aus dem Ruder laufen. Immerhin treibe ich hier in Eigenregie unser – ehemals? – gemeinsames Projekt voran. Ich versuche, so oft vor Ort zu sein, wie es mein Dienstplan, meine Beurlaubungen und meine Forschungsreisen zulassen. Die Tatsache, dass sich der Entwicklungsprozess einer Eva in Bezug auf den zeitlichen Verlauf nur unwesentlich von dem eines Menschen unterscheidet, gibt uns genügend Zeit, die Studien vorzubereiten und weiter zu forschen.

Eine gut durchdachte Zeitplanung ist das A und O all unserer Anstrengungen. Wir dürfen jetzt nicht schludern, mein Freund. Ich sähe es gerne, wenn Du die Betreuung des Instituts für eine Weile übernehmen könntest. Wir haben neue Mitarbeiter, sowohl russischer als auch lettischer Abstammung und der Bunker ist inzwischen vollständig ausgebaut. Ich habe auch bereits Kontakte geknüpft, die uns bei der Installation der Totmannschaltung helfen werden. Wie Du siehst, gibt es mehr zu tun, als nur die Eva im Glase zu beobachten.

Ich schlage vor, Du solltest Dich weniger in verstaubten Bibliotheken, auf überfüllten Kongressen und in sterilen Militärlaboratorien herumtreiben und Dich wieder vermehrt auf die Forschung im Felde – und dazu zähle ich auch Leydens Institut – konzentrieren. Lys, mehr noch als Deinen Rat, Dein Talent und Dein Wissen brauche ich Deine Freundschaft – klingt das zu pathetisch aus meiner Feder? Sagen wir also Rückendeckung und Verständnis. Außerdem brauche ich Deine Hilfe beim Schleusen. Wir müssen anfangen, Rücklagen für schlechte Zeiten zu schaffen, sonst sitzen wir irgendwann unvermittelt auf dem Trockenen. Bei einem persönlichen Treffen werde ich Dir die ganzen Umstände genauer auslegen. Ich hoffe, Dich nächste Woche in Koblenz treffen zu können.

Dein Hajo

Hirschkäfer (Lettland, 15. August 1966)

Lieber Lys,

ich versuche, mich während Deiner Abwesenheit ein wenig um Henriette und den kleinen Heinrich zu kümmern. Henriette wahrt die der Höflichkeit geschuldete Etikette und bietet mir frisches Wasser und einen schattigen Platz im Garten an, während Dein Sohn sich ungeheuer stur stellt. Er spricht nicht mit mir, sondern lauert wie ein Luchs in einem seiner unzähligen Verstecke im Garten. Kommt er doch einmal zwischen den Büschen und Bäumen hervor, hält er sich krampfhaft an Henriettes Hand oder Rock fest und weicht nicht von ihrer Seite, bis ich wieder in mein Auto gestiegen bin und auf die Ausfahrt zurolle. Seine Augen und Haare sind so schwarz wie die seiner Mutter. Und obwohl er durch seine kindliche Knopfaugen und seine zierliche Erscheinung drollig wirkt, flößt mir sein wacher und gescheiter Blick bisweilen Angst ein.

Du glaubst es nicht. Obwohl er erst dreieinhalb Jahre alt ist, hat er es geschafft, mir eine Falle zu stellen. Ich kam neulich zufälligerweise hinzu, als das ganz Haus auf dem Kopf stand, weil Dein Sohn im Garten wie am Spieß schrie und weinte. Die Haushälterin war außer sich und wollte mich zunächst nicht hereinbitten, sondern bat mich, später wiederzukommen. Ich verschaffte mir Einlass und wurde Zeuge einer wahren Tragödie. Dein kleiner Heinrich hatte sich wohl einen Hirschkäfer zum Haustier genommen. Doch obwohl er diesen mit allerlei Köstlichkeiten wie Kuchen, Candis und Zuckerbrot versorgt hatte, war ihm dieser weggestorben. Er hatte ihn wohl in einer Streichholzschachtel in seiner Hosentasche gehalten. Es ist schwer auszumachen, ob der Käfer am Ende erstickt, verhungert oder zerdrückt wurde. Vielleicht ist er auch ganz einfach an Altersschwäche gestorben. Wer weiß, wie lange der Kleine dieses Geschöpf bereits in seiner Tasche mit sich herumschleppte.

Die Familie, also Henriette und das Kindermädchen, hatten nun im Garten ein Grab für das verstorbene Lieblingstier ausgehoben und Fähnchen und allerlei Grabzierde aufgestellt, aber Dein kleiner Heinrich weigerte sich, den toten Chitinpanzer herzugeben.

Henriette verdrehte bereits die Augen, als sie mich sah, und noch mehr als ich ihr Deine und meine Meinung verriet, dass es falsch sei, den Tod als etwas Unabänderliches und Unumkehrbares hinzunehmen. Der Tod ist eine Demütigung für die Menschheit, aber das brauche ich Dir ja nicht zu erzählen.

Ich bot Deinem Sohnemann an, seinen toten Freund mit ins Institut zu nehmen und dort mein bestes zu geben, um ihn wieder ganz zu machen. Du hättest seine hoffnungsvollen Augen sehen sollen, die ich ja sonst nur mit argwöhnischem, lauerndem Blick zu sehen bekomme. Doch blieb das nicht von langer Dauer, denn die Frauen fielen über mich her und komplimentierten mich zu guter Letzt mit einem riesigen Gezeter zur Tür hinaus. Dein Sohn war während des Streitgesprächs davongelaufen und hatte sich im Haus versteckt.

Als ich in meinen Wagen stieg, kam er plötzlich hinter mir her und übergab mir eine kleine Schatulle. Ich hätte es in seinem Blick erahnen können, was er im Schilde führte. Aber ich war zu sehr von diesem unvermittelten, vermeintlichen Vertrauensbeweis gerührt gewesen, sodass ich keinen Grund darin sah, einem Dreijährigen zu misstrauen.

Ich will es kurz machen: Ich vertauschte das verstorbene Insekt durch ein noch lebendes Exemplar und gab es Deinem Sohn – unter Henriettes lautstarkem Protest – als geheilt zurück. Heinrich aber zeigte weder Freude noch Dankbarkeit. Er sagte nur mit ernster und strenger Miene, die überhaupt nicht zu seinem dünnen Kinderstimmchen passte: »Das ist nicht mein Käfer.«

Alle Versuche, ihn von dieser Meinung abzubringen, scheiterten. Er wollte mir jedoch nicht verraten, was ihn so sicher mache. Hatte er den Käfer heimlich markiert? So gerissen kann er nicht sein, oder? Hatte der Käfer irgendwelche speziellen Merkmale? War er vielleicht verwundet oder verletzt gewesen? Hatte er eine andere Größe, Farbe oder Form als mein Ersatz gehabt? Ich weiß es nicht. Dein Kleiner hält mich jetzt wohl für einen Scharlatan, aber wie hätte ich ahnen können, dass in seinem kleinen Kopf, schon so vieles vor sich geht.

Trotz seiner üblichen Zurückhaltung was Worte anbelangt, gab mir Heinrich noch den Rat mit auf den Weg, den Käfer wieder freizulassen, da er sonst wahrscheinlich doch nur umkäme, und bot mir in seinem schwer verständlichen Kauderwelsch aus Deutsch, Französisch und Englisch an, dies für mich zu erledigen, da er eine gute Stelle für Käfer im Wald wüsste. Er setzte dabei seinen üblichen argwöhnischen Blick auf und hielt sich an Henriettes Rockzipfel fest.

Lys, was hast Du da in die Welt gesetzt? Ich wünschte, ich könnte ihn mehr beobachten. Er ist interessant und mit Sicherheit ein prächtiger Adam, aber leider ein wenig verzogen.

Ich werde noch bis Ende des Monats hier sein, dann ist mein Forschungstrimester vorüber. Ich werde bereits in Koblenz als Leiter einer neuen Forschungseinrichtung erwartet. Es geht dabei um die Beeinflussung biologischer Systeme durch elektromagnetische Wellen. Das ist zwar nicht mein Spezialgebiet, aber ich muss die Chose ja nur leiten und kann dabei vielleicht sogar noch ein paar neue Erkenntnisse sammeln, die unserem Projekt zugutekommen werden.

Bis bald, mein Freund.

Dein Hajo

Kränklicher kleiner Luv (Lettland, 21. März 1967)

Lieber Lys,

Es ist Frühling geworden und Du hast lange nichts von Dir hören lassen. Was verfolgst Du? Oder sollte ich eher fragen, was verfolgt Dich? Ich habe Henriette einen Besuch abgestattet und überrascht feststellen müssen, dass auch sie nichts Genaues über Deinen Verbleib zu sagen weiß oder es mir nicht verraten möchte?

Dein Sohn kann den Frühling gut gebrauchen. Nach dem vergangenen, harten Winter wirkt er kränklich und blass, fast schwindsüchtig. Trotz seines hohen Wuchses hat er kaum Fleisch auf den Knochen und macht keine besonders athletische Figur. Ich habe Henriette geraten, ihn ins Institut zu bringen. Wir haben gute Ärzte und Medizin aus Deutschland. Doch – wie nicht anders zu erwarten – hat sie meine Hilfe abgewiesen. Ich werde ihn trotzdem im Auge behalten und benötige ihn noch diesen Monat für die Vergleichsstatistik und als Stammzellenspender. Ich hoffe Henriette, weiß von unserer Abmachung und hält sich daran.

Meine Eva gedeiht prächtig. Du solltest mich eigentlich beneiden. Aber warum ist es immer verkehrt herum: Warum beneide ich am Ende immer Dich?

Dein Hajo

Adamsbrücke (Lettland, 29. Juni 1967)

Lieber Lys,

was denkst Du Dir dabei? Jetzt, nachdem wir nachweisen konnten, dass die beiden eine geistige Brücke etabliert haben, geht die Untersuchung erst richtig los. Als α-Adam hat Dein Sohn nicht nur die Ehre, sondern auch die Pflicht, als Teil des Eva-Projekts an den klinischen Untersuchungen und Labortests teilzunehmen. Du kannst ihn nicht ewig vor mir verstecken. Ich weiß, dass er bei Henriettes Familie in Nakijin ist. Willst Du ihn dort verwildern lassen? Bitte besinne Dich und verbringe ihn in eine kontrollierte Umgebung, damit wir die telekinetischen Fähigkeiten unserer kleinen Eva im Zusammenhang mit der Traumwandelei ihres α-Adams deuten und verstehen lernen.

Auch wenn Du anführst, dass Dein Sohn natürlich geboren und unveredelt ist, bleibt er dennoch Teil des Projekts. Alles ist auf seine DNA abgestimmt. Er ist Spender, Referenzobjekt und nun auch ein wichtiger Probekörper. Ihn mir zu entziehen, kommt einer Sabotage des Projekts gleich und gefährdet unsere Suche nach dem alten Vermächtnis. Denk die Sache doch mal zu Ende. Unter unseren Fittichen gedeiht etwas, was nicht nur unser wissenschaftliches Fassungsvermögen, sondern auch unsere kühnsten Träume überragt. Eine geistige Brücke, die sich selbst durch räumliche Trennung nicht brechen lässt.

Wenn Eva heute mit ihrem α-Adam kommuniziert, könnten wir sie vielleicht morgen schon dazu bringen, Kontakt zu ihren Ahnen aufzunehmen. Ich teile zwar Deine Skepsis, aber Probieren geht doch am Ende über Studieren. Wir sind teilweise nur deswegen weiter gekommen, als viele vor uns, weil wir es einfach versucht haben. An dieser Strategie müssen wir festhalten.

Glücklicherweise rufen Dich Deine dienstlichen Verpflichtungen bald wieder an den Standort zurück. Ich erwarte Deine Rückkehr. Bestenfalls hast Du Deinen Kleinen im Schlepptau, anderenfalls einen guten Ausweichplan für die nächste Versuchsreihe im Sommer.

Dein Hajo.

Okinawa (Koblenz, 5. Juli 1967)

Lieber Lys,

welch freudige Überraschung, dass Dich mein letzter Brief auf den Okinawas erreicht hat. Ich befürchtete schon, dass die dortigen Eingeborenen keine Postzustellung kennen würden. Aber anstatt an meiner Schrift herumzumäkeln, solltest Du stolz darauf sein, dass ich es geschafft habe, die seltsamen Zeichen auf das Briefkuvert zu übertragen.

Ich kann noch immer nicht verstehen und noch weniger gutheißen, dass Du Deinen Sohn dort unterbringen willst. Sicher ist es schwer ohne Henriette, aber egal, ob Du ihn in die Obhut unseres Instituts oder eines Waisenhauses gegeben hättest. Jede Lösung wäre besser gewesen, als ihn auf den Inseln auszusetzen. Was soll dort aus ihm werden? Er spricht ohnehin kaum ein Wort. Henriettes Übereifer, ihm gleich drei europäische Sprachen angedeihen zu lassen, hat letzten Endes nur dazu geführt hat, dass er zwar für alle drei Sprachen ein sehr gutes Ohr hat, aber keine davon sicher spricht. Glaube mir. Ich habe mich während Deiner langen Abwesenheiten wahrscheinlich öfter mit ihm abgegeben als Du. Noch nicht einmal seine Muttersprache beherrscht er fließend. Wenn ich Deutsch aller Umstände zum Trotz als seine Muttersprache annehmen darf. Er wird dort unten sicherlich seine Manieren sowie den kümmerlichen Ansatz seiner Muttersprache verlernen. Was denkst Du Dir dabei? Nun denn, ich will nicht unnötig unsere beiden Dickschädel aneinanderbringen.

Ich verstehe natürlich, dass Dich die familiären Umstände zurzeit sehr unter Beschlag nehmen und dass Du auf den Inseln noch so einiges zu erledigen hast. Umso mehr freute es mich, Deinen Namen auf der Teilnehmerliste des Berner Kongresses zu sehen. Ich habe mich auch angemeldet. Nicht als Redner, sondern nur als Besucher. Wieso hast Du mir nichts von Deiner Vortragsreise erzählt?

Für die von Dir geforderten Arrangements habe ich bereits erste Vorbereitungen getroffen, sodass sich der von Dir gesetzte Termin sicher halten lassen wird. Wir bekommen sogar Unterstützung aus dem Süden, sowohl finanziell als auch durch die Bereitstellung von erfahrenen Bergsteigern. Was sagst Du dazu?

Grüße Deinen Kleinen recht herzlich von seinem Onkel Hajo und verliere Dich nicht wieder da unten. Ich glaube dort scheint einfach zu viel Sonne, das verträgt sich nicht mit Deiner hellen Haut.

Dein Hajo.

Rohrpost (Lettland, 22. März 1969)

Lieber Lys,

wir haben auf dem Weg in die Festung schon wieder Sendungen verloren, die nun den Kanal verstopfen und das gesamte Postsystem lahmlegen. Ich bin die Wartung der Röhren leid und habe beschlossen, den Betrieb einzustellen. Die Anlage taugte aufgrund des geringen Fassungsvermögens der Container und der unsanften Reise des Postguts ohnehin nur begrenzt für die Ansprüche unserer Labors und erscheint mir, auch wenn das System von Leyden immer sehr am Herzen gelegen hat, mehr Spielerei als von praktischem Nutzen. Ich habe die letzten Zustellungen abgeschrieben, uns vom Netz der Krankenhäuser und der Armee getrennt und die Pneumatik abgeschaltet. Auch Dein Haus ist somit von jeglichen Transferstrecken abgeschnitten. Anforderungen an sowie die Einlagerungen in den Tresor müssen nun über den Zugang vom Turm aus erfolgen. Das ist zwar ein wenig umständlicher als bisher, aber wir werden uns daran gewöhnen. Außerdem überlege ich die Einrichtung eines rudimentär ausgerüsteten Analyselabors im Bunker, sodass man Sichtungen und kleinere Aufgaben direkt im Materiallager durchführen kann.

Dein Hajo

Soziopath (Koblenz, 16. April 1969)

Lieber Lys,

ich bin entsetzt, welche Worte Du in Bezug auf unser Evakind zu Papier und in befreundeten Fachkreisen zu Gehör gebracht hast. Ich muss Dir heftig widersprechen, wenn Du den Jungen als amoralischen, empfindungsarmen, sprachlich unterentwickelten und geistig gestörten Sozialkrüppel bezeichnest – wenn Du mir diese vereinfachte Zusammenfassung Deiner diffamierenden Ausführungen erlaubst. Wieder einmal bist Du allzu schnell dabei, ein altes Projekt, das Deiner Meinung nach gescheitert ist, in den Boden zu treten und Neues zu probieren. Ich hingegen möchte alle Möglichkeiten erschöpft wissen, bevor ich eine Arena mit gesenktem Haupt verlasse. Du hast zu viele Eisen im Feuer und verteilst Deinen Geist auf zu viele Dinge. Ich, Dummkopf, unterstütze Deine Launen auch noch! »Eva VII« ist noch lange nicht aufgegeben, also rede es nicht schlechter, als es ist, und gib ihm mehr Zeit, sein wahres Potenzial zu entfalten.

Wir beide mögen ja über so manches Detail unterschiedlicher Meinung sein, aber es sollte nichts, was wir nicht beide unterschreiben würden, an die Öffentlichkeit – sei es auch nur ein kleiner Kreis aus befreundeten Fachkollegen – getragen werden. Wir waren uns einig, dass die Isolation eine Notwendigkeit sei, um dem Evakind den Zugang zu seinen verborgenen Talenten nicht unnötig zu erschweren, indem es zu stark menschliches Verhalten imitiert und sich an das klammert, was wir ihm in unserer menschlichen Begrenztheit vorleben.

Seit ich dem Kleinen Zugang zur alten Schulbibliothek gewährt habe, erzieht er sich selbst zu einem Gelehrten. Er hat sich selbst das Lesen und Schreiben verschiedener Alphabete beigebracht und beliest sich mit schwerem Geschichtswissen aus einer Chronikreihe, deren Bände seine kleinen Kinderarme kaum zu stemmen vermögen, und ergründet die natürlichen und physikalischen Zusammenhänge unserer Welt, indem er alte Zeitschriften und Enzyklopädien in deutscher Sprache verschlingt. Er hat sein eigenes Schriftsystem erfunden und schreibt damit ein Schreibheft nach dem anderen voll. Mit den Malblöcken verhält es sich nicht anders. Er zeichnet und malt – zugegebenermaßen durchweg abstrakt – und schneidet Bilder aus Zeitungen aus, um sie in sein Archiv aus eigenen Schöpfungen und Sammlerstücken einzukleben. Er sammelt Karikaturen, Zitate, Flaggen und Fotografien von Tieren. Ich empfinde dieses Verhalten als durchaus »normale« knabenhafte Entwicklung, um mich damit konkret gegen Deine Diagnose einer Persönlichkeitsstörung zu stellen.

Seinen gescheiten Verstand stellt er im Alltag immer wieder unter Beweis. Er misst seinen eigenen Puls und überträgt die Entwicklung seiner Blutwerte in ein logarithmisches System. Er macht Vorschläge zur Versuchsanordnung und korrigiert Fehleinstellungen der Laborapparate. Lys, ich verstehe nicht, wieso Du die Früchte unseres Projekts so verunglimpfst. Mein überschäumender Zorn über Deine eigenmächtige Stellungnahme gegenüber Eckhardt und Manns vermag seinen Weg aus der Feder auf das Briefpapier nicht schnell genug zu finden. Deshalb will ich lieber abwarten, bis wir uns in dieser Sache persönlich sprechen und zerraufen können. Bis bald.

Dein Hajo.

Drosselmeyerkammer/Delgado (Koblenz, 12. März 1971)

Lieber Lys,

obwohl es mich frustriert, dass unsere wohldurchdachten Versuchsreihen trotz Einhaltung der von Dir fast heiliggesprochenen Kontinuitätsdeterministik scheiterten, bin ich gerade dabei, einen neuen Ansatz für unsere Experimente in der Drosselmeyerkammer zu konzipieren. Sie basiert auf – entschuldige, dass ich an dieser Stelle wieder wortschöpferisch aktiv werden muss – Affektinduktion. Ich schätze Du weißt, worauf das hinausläuft und hoffe, Du brennst darauf, mehr zu erfahren.

Was hat Deine Zusammenarbeit mit Delgado ergeben? Kann man ihn ernst nehmen? Ich überlasse die Entscheidung bezüglich des Instituts ganz Dir. Sollte Delgado allerdings seine Versuche in unserem Institut durchführen wollen, möchte ich das ordentlich bezahlt wissen und möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass weder unsere Speziallaboratorien noch unsere Eva Teil dieser Versuchsreihen werden. Er muss sich sein Material schon selbst besorgen. Alles was wir ihm bieten können, ist Diskretion.

Ich habe gehört, dass Du Deine Rückreise bereits für nächste Woche geplant hast. Sag mir genau Bescheid, wann Du am Flughafen ankommst, dann werde ich dafür sorgen, dass man Dich abholt.

Dein Hajo

Sinnesphysiologie (Koblenz, 12. Oktober 1972)

Lieber Lys,

auch wenn uns die visuelle Sinnesphysiologie der kleinen Eva immer wieder Rätsel aufgibt, muss ich nach reichlicher Überlegung dennoch von einem groß angelegten Projekt zur Erforschung der daran beteiligten Gehirnregionen abraten. Die veranschlagten Kosten für die Laborgeräte übersteigen unser Budget für die nächsten drei Jahre und wir verfügen nicht über das nötige Wissen, die Versuchsreihen selbst anzusetzen und auszuwerten. Wir bräuchten hierzu ein Spezialistenteam.

Ich habe mich Deinem Wunsch entsprechend mit Bruno Felten getroffen. Ich habe ihn in unser Institut in Lettland eingeladen. Da er durch Dich bereits mit den regelmäßigen Umständen vertraut war, musste ich ihn nur in die neuesten Erkenntnisse über den interessanten Entwicklungsverlauf unserer Eva einweihen. Bruno hat nach bloßer Anhörung unseres Falles die Vermutung nahe legt, dass der Sehapparat unseres Probanden zum einen spezielle Reize im ultravioletten Spektrum verarbeiten kann und zum anderen über die Gabe verfügt, Sprachgebilde, Bewegungen und Tonhöhen visuell wahrzunehmen.

Er empfiehlt uns für die Deutung der kognitiven Prozesse dringend eine Versuchsreihe mit UV-A-Licht-reflektierenden Stoffen und einer einfachen (radikal konstruktivistischen) Signalabfrage. Die dahinter liegende Anatomie zu erforschen und diese wiederum mit den genetischen Mustern zu vergleichen, sollte vorerst aufgeschoben werden, da wir unsere Kraft und unser Geld an anderer Stelle viel dringender benötigen. Mehr dazu, wenn wir uns am Wochenende wiedersehen. Bis dahin können wir uns den Rohbau einer »Black Box«-Versuchsanordnung mit Ehrenstein-Figuren und Stereogrammen für den Sommer überlegen.

Bis bald, lieber Freund.

Dein Hajo.

Genmanipulation an Tomoko (Genf, 21. März 1979)

Lieber Lys,

die Gräuel, die wir Tomoko angetan haben, sind nicht mehr rückgängig zu machen. Sie wird sterben, sobald wir die Depotspritzen absetzen. Der Versuch die sich gegenseitig absorbierenden Zellen durch Regenerationstherapie davon abzuhalten, den gesamten Organismus zu zerstören, war ohnehin nur ein Hirngespinst und schlug in der Praxis fehl. Außer unserem Fötalcocktail gibt es nichts, was den zwar langsamen aber stetigen Verfall des Zellgewebes Deiner Frau aufhalten kann.

Wir konnten zwar Henriette nicht ins Leben zurückrufen, aber Du hast nun zwei gesunde Kinder, in denen sie fortleben kann. Und Dein Junior bleibt Dir ja auch noch. Jammere also nicht, mein Freund, sondern schau auf solch bedauernswerte Kreaturen wie mich herab und zähle die reichlichen Segnungen, die das Leben über Dir ausgegossen hat.

Ich weiß, Du sagst, Du seist nicht für die Einsamkeit geschaffen und möchtest den Kleinen die Mutter erhalten, aber ich rate Dir dringendst, Henriette los und Tomo sterben zu lassen. Alles andere strapaziert derzeit nicht nur unsere Geldbeutel und Nerven, sondern gefährdet darüber hinaus die Geheimhaltung des Projekts.

Tomo ist nicht Henriette, sondern eine sterbende Frau, die gegen eine Vergangenheit kämpft, die wir ihr künstlich eingepflanzt haben. Weder die Gentransformation noch die Evokationen zeigen die gewünschten Ergebnisse. Ich habe Tomo vor Schmerzen schreien hören und sich in Pein winden sehen. Ob Du es glaubst oder nicht, ich bin nicht so herzlos, wie es gerne von mir behauptet wird, und mein Gemüt ist für derlei Tragödien nicht gemacht. Ginge es nach mir, hätte sie bereits den Tod erfahren, aber in diesem besonderen Fall werde ich keine Wege gehen, die nicht Dein Einverständnis finden.

Tomo sitzt nun im Zug nach Ulm, wo sie eine Nacht verbringen wird, um am darauf folgenden Morgen gleich nach dem Frühstück nach Berlin aufzubrechen. Ich habe sie mit ausreichend Morphinkapseln ausgestattet, um die Fahrt zu überstehen. Vielleicht erreicht Dich dieser Brief noch, bevor der Zug Deiner Frau nach Berlin einfährt. Die Post übertrifft sich ja neuerdings selbst, sogar die Alpen quert sie über Nacht.

Auch wenn mein Ton bisweilen ein wenig ruppig klingen mag, bleibe ich Dir stets verbunden. Halte nicht an, mich in Deine Nöte einzuweihen. Wir werden einen Weg aus dieser misslichen Lage heraus finden.

Dein Hajo.