Die drei Wochen in der Großstadt haben nichts verändert. Nicht dass ich der Stadt eine Chance gegeben hätte. Entgegen Falks gut gemeintem Rat, mied ich ihre Menschen, ihre Plätze, ihren Flair. Falk hat es mir dieses Mal aber auch einfach gemacht und sich zurückgehalten. Ich bin mir jedoch im Nachhinein nicht sicher, ob ich ihn am Ende dafür bestraft habe, dass er meinen Hang zur Eigenbrötelei respektiert hat oder weil er mich dazu gebracht hat, an einem zum Scheitern verurteilten Plan festzuhalten. Wie ich es auch drehe und wende, ich komme nicht gut dabei weg.
Meine schlechte Laune an Falk auszulassen tröstet mich allerdings genauso wenig über den unglücklichen Ausgang meiner Begegnung mit Elli hinweg wie das Desaster in Oslo. Vermutlich ist Elli der wahre Grund, warum ich mir in letzter Zeit alles so sehr zu Herzen nehme, seien es Gunnars Marotten oder unsere Niederlage im zurückliegenden Wettkampf. Anstatt wie Falk über die Sache zu lachen oder wie André besserwisserisch Rückschau zu üben, schreibe ich Listen, meine vereinfachte, aber dafür übersichtlich strukturierte Sicht auf die Welt.
Auf der Liste der Dinge, die in Oslo schief gelaufen sind, steht zuoberst meine Gier nach einem Sieg, und gleich darunter meine Einbildung, ich könnte diesen alleine erringen. Dass mir andere in meiner Überheblichkeit gut zuredeten, kam mir da gerade recht. Es braucht jedoch keine Liste, um zu sehen, dass die Fehlentscheidungen während der Vorbereitungen die Katastrophe am Ende unvermeidlich werden ließen. Nachdem Heidt glaubte, für die Gesundheit seiner Soldaten sorgen zu können, indem er ihnen die Teilnahme an Sportveranstaltungen untersagte, hätte ich Falks waghalsigen Plan zur Rettung unserer Wettkampfteilnahme ablehnen müssen und hätte speziell Strefler nicht als Ersatzmann annehmen dürfen – meine Unentschlossenheit ist ein weiterer Punkt auf der Liste.
Auch Gunnars gekränktes Selbstwertgefühl habe ich auf die Liste gesetzt. Dieser Dauerzustand stellt an sich noch kein Problem dar, führte jedoch dazu, dass er sich kurz vor dem Wettkampf um seine Gesundheit und dadurch die Mannschaft aus ihrem Gefüge brachte.
Sein zwanghaftes Kräftemessen definiert sein ganzes Dasein. Seine Tattoos sind provokativer, seine Witze derber und die Schuhsohlen seiner Sportschuhe federnder als die von jedem anderen am Standort. Niemand verträgt mehr Bier als er, niemand mehr Sahne auf dem Kuchen oder mehr Pfeffer in der Suppe.
Es setzt sich aber auch niemand so sehr wie er für den Umweltschutz und bedrohte Tierarten ein und die meisten Bücher hat er auch gelesen. Mal trägt er bunte Uhren, mal schminkt er seine Augen, mal färbt er seine Haare. Die Farben wechseln dabei zwischen schwarz, rot und wasserstoffblond, je nachdem was gerade mehr Aufsehen erregt, so wie seine Haut je nach Trend mal blasser, mal gebräunter ist. Und in einem Disput vertritt er stets die Mindermeinung, es sei denn ich vertrete sie auch. Dann ist er dagegen. Denn das Einzige, was ihm wichtiger ist, als schrill zu sein, ist sein Bedürfnis, mich zu übertreffen, was er entweder in übertriebener Kameradschaftlichkeit oder feindseligen Eifersüchteleien auslebt.
Ich hatte einen sechswöchigen Trainingsplan aufgestellt, der uns bis zu den Wettkampftagen in Höchstform bringen sollte. Die Teilnehmer, die sich aus meiner Stabsabteilung rekrutierten, waren für die Vorbereitungen vom regulären Dienst freigestellt und absolvierten ihre Trainingseinheiten unter Falks Leitung, während der Hochzug das Wettkampfprogramm unter Andrés Leitung durchexerzierte. Gunnar – von Dienst wegen an einen der vielen Schreibtische der Stabskompanie gekettet – trainierte allein. Sein persönliches Ziel war jedoch nicht, den Trainingsplan zu absolvieren, sondern mich zu übertreffen. Anstatt der von mir ausgearbeiteten vier Einheiten pro Woche trainierte er jeden Tag und ersetzte die Erholungsphasen durch weitere Leistungsmärsche und Ausdauerübungen.
Zwei Wochen vor dem großen Ereignis brach er schließlich bei einer Übung, die als gemächlicher Lauf vorgesehen war, zusammen und kam nicht wieder auf die Beine. Da kurz zuvor vier Mitglieder aus dem Hochzug wegen kleinerer Wehwehchen von unserem Lazarettarzt zur Bettruhe verdonnert worden waren, suchte man nach einem Grund für diese hohe vorwinterliche Ausfallquote und fand ihn, indem man meinem Trainingsplan zu hoch gesteckte Leistungsziele und mit der inneren Führung unvereinbar harte Methoden unterstellte. Heidt verweigerte dem Hochzug daraufhin die Teilnahme an meinem Programm und dezimierte somit mein Wettkampfteam kurzer Hand um drei wichtige Männer: André, Illing und Harrach. Auch Gunnar, der nach seinem Kollaps fiebrig und schwach darniederlag, fehlte mir. Denn trotz seiner bisweilen fragwürdigen Motivation gehörte er zusammen mit André und Falk zum strategischen Kern des Teams. Meine Wettkampfaufstellung war dahin.
Da mein Protest gegen diese Maßnahmen wirkungslos blieb und ich unter diesen Umständen eine Teilnahme für sinnlos erachtete, wies ich Falk an, das Projekt abzuschreiben, von den in den Sand gesetzten Geldern zu retten, was noch zu retten war, und einen alternativen Dienstplan für den Dezember auszuarbeiten. Aber ich kenne Falk, weswegen ich mich während des Mittagessens fragte, was so lange dauerte. Ich erwartete jeden Augenblick, dass die Tür aufgerissen wurde und Falk mit seiner lauten Art in die Stille des Offizierskasino platzte. Ich konnte meine Spaghetti jedoch in Frieden zu Ende essen. Erst als ich bereits auf dem Weg ins Büro war, kam mir Falk aufgeregt winkend entgegen gelaufen. Ich tat überrascht.
Natürlich hatte er nichts von alledem getan, was ich ihm aufgetragen hatte. Stattdessen hatte er auf der Suche nach einer Ersatzmannschaft sämtliche Dienstgebäude abgeklappert und war sogar zum Schießplatz rausgefahren. Er hatte sich auch gleich die Unterstützung der jeweiligen Einheitsführer gesichert und daraufhin sofort die Telefondrähte heißtelefoniert, um bei der Wettkampfleitung anzufragen, ob eine Umbesetzung des Teams noch möglich sei. Nachdem er von Oslo grünes Licht erhalten hatte, hatte er das Reisebüro angerufen, um sich über die Möglichkeit einer Umwidmung der Flugtickets zu erkundigen. Er hob den Daumen und zwinkerte mir zu. In solchen Angelegenheiten kann ich mich ganz auf ihn verlassen.
Nachdem er mich jedoch in die Details seines Plans eingeweiht hatte, runzelte ich die Stirn. Die Neubesetzung der Positionen in den Mannschaftskämpfen war nicht besonders raffiniert durchdacht, sondern das Ergebnis einfacher und zugleich absurder Mathematik. Nachdem die Mannstärke unseres Kernteams durch den Wegfall von Gunnar und André halbiert worden war, hatte Falk sie wieder aufgestockt, indem er die beiden verbleibenden Namen einfach doppelt eingetragen hatte. Nach dieser neuen Aufstellung sollten er und ich zusätzlich zu unserer Aufgabe als Gruppenführer jeden Tag anstatt wie ursprünglich geplant nur jeden zweiten im Hauptrennen antreten. Außerdem beinhaltete sein Plan leere Ersatzbänke und die zwei Neurekrutierungen vom Schießplatz.
Bei einem gewöhnlichen Sportturnier hätte diese Rechnung vielleicht aufgehen können, aber die Winterkämpfe in Norwegen sind kein Kräftemessen, wie man es von Sportereignissen her kennt, die oft im Fernsehen ausgestrahlt werden, sondern ein Patrouillenlauf, der sich über mehrere Tage hinzieht und den man nur als Team bestehen kann. Statt starke Einzelkämpfer wie beim Tennis oder einer gut eingespielten Mannschaft wie beim Fußball braucht man gleichsam kooperativ und unabhängig von einander operierende Einheiten, die die gestellte Tagesaufgabe durch Ausdauer, Teamwork und Ressourcenplanung meistern. Eine gute Gesamtstrategie zählt mehr als individuelle Höchstleistungen, Improvisationstalent mehr als vorbereitendes Training.
Es ist immer wieder bemerkenswert, wie schnell sich Falks Gemütslage ändern kann. Es bedurfte nur meines skeptischen Stirnrunzelns, um seine Begeisterung in Enttäuschung umschlagen zu lassen, seine gute Laune in Trotz und Wut, der er auch sofort Luft machte.
Ich versuchte, meine Bedenken zu erläutern, doch er wollte weder einsehen, dass man die Mannschaftsstärke nicht allein an zwei Personen festmachen konnte, noch dass es riskant war, mit einer leeren Ersatzbank und zwei neuen Rekruten, deren sportliche Leistungen weder er noch ich beurteilen konnte, ins Rennen zu gehen. Natürlich verstand ich seinen Zorn, und da ich sowohl seinen Mut als auch sein leidenschaftliches Engagement bewunderte, erlaubte ich ihm, die beiden Ersatzkandidaten einem Leistungstest unterziehen und mir am besten bis zum Abend, spätestens aber am folgenden Morgen eine überarbeitete Version seiner neuen Wettkampfaufstellung vorzulegen.
Der Rest der Geschichte erzählt sich fast von selbst. Ich hatte noch am Abend eine Beurteilung der neuen Teammitglieder auf dem Schreibtisch liegen, inklusive Kopien aus ihren Dienstakten, die ihre Spezialausbildungen und erworbenen Sportabzeichen sowie Medaillen von Turnieren auflisteten. Außerdem einen mit Schreibmaschine getippten Mannschaftsplan.
Falk saß mir ungeduldig gegenüber, während ich die Papiere durchging. Als ich aufsah, blickte mich Falk durchdringend an. Er sah überarbeitet aus. Er hatte wohl zu viel auf dem Trainingsplatz herumkrakelt, zu wenig getrunken, keine Pause gemacht, aber dafür zu viele Sorgen. Trotzdem leuchteten seine Augen vor Erwartung. Ein Nein hätte ihm das Herz gebrochen und an meinem Stolz gekratzt, weswegen ich schließlich seufzte und ja sagte.
Als wir Mittenwald verließen, waren die meisten noch guten Mutes. André, Illing und Harrach gaben uns noch ein paar Last-Minute-Ratschläge mit auf den Weg: Blaubeersuppe und Erhabenheit. Sogar Gunnar hatte sich von seinem Sterbebett erhoben, um uns auf die Schulter zu klopfen und von der Mannschaft auf sein Horrido ein dreifaches Joho zu hören. Der Schlachtruf erklang laut und schallend wie ein Siegesversprechen. Ich hielt den Optimus für gewagt, aber ich wusste, dass ich zuversichtlich bleiben oder zumindest so wirken musste.
In Oslo endete der Optimismus. Nicht gleich am ersten Tag, aber wir litten zusehends an der knappen Kalkulation unseres Plans. Die Pausen zwischen den einzelnen Wettkämpfen reichten kaum aus, um die geprellten Knochen zu kühlen, die überanstrengten Muskeln zu erholen und genügend Ruhe und Schlaf für die nächsten Herausforderungen zu finden. In den ersten Runden schafften wir es zwar noch auf das Siegertreppchen, doch am vierten Tag gingen wir zum ersten Mal leer aus und am letzten Tag kam es schließlich zu der fast schon überfälligen Katastrophe.
Strefler, einer der kurzfristig eingesprungenen Ersatzmänner, ging beim vorletzten Abschnitt eines Staffelparcours in die Knie. Er war zu ehrgeizig gestartet und hatte sich bereits nach einem drittel der Strecke verausgabt. Anstatt nach einem Rettungshubschrauber zu rufen, entschied sich Falk jedoch, als er zusammen mit einem Kameraden an der Unglücksstelle eintraf, Strefler so weit zu stabilisieren, dass sie ihn zum nächsten Übergabepunkt schleifen konnten. Für ihn einzuspringen, hätte gegen die Wettkampfregeln verstoßen, da jeder Teilnehmer in nur einem Streckenabschnitt antreten durfte und die beiden Helfer ihr Segment bereits hinter sich hatten.
Ich bekam von all dem nichts mit, während ich am letzten Übergabepunkt auf den Staffelträger meiner Mannschaft wartete. Ich fragte mich nur, was so lange dauerte. Die Antwort darauf kam schließlich in Form eines seltsamen Dreiergespanns daher, das ich aus der Ferne anrücken sah. Erst als die Formation näher herankam, erkannte ich, dass Strefler von seinen beiden Kameraden gestützt wurde und offenbar verletzt oder anderweitig angeschlagen war. Ich gab sofort Zeichen abzubrechen, doch Falk ließ nicht von mir beirren. Vermutlich bemerkte er mich noch nicht einmal, weil er sich so verbissen darauf konzentrierte, sein Unterfangen zu einem Ende zu führen.
Die letzten Meter zum Übergabepunkt legte Strefler aus eigener Kraft zurück. Seine Lippen waren blau, seine Augen glasig und jeder seiner tiefen und kraftvollen, aber dennoch schleppenden Atemzüge wurde von einem hellen nach innen gestülpten Schrei begleitet, wie das um Luft ringen nach einem langen Tauchgang. Zum Glück standen an jedem Übergabepunkt Sanitäter bereit, die umgehend mit einer Decke und einem Koffer anrückten. Sie hätten jedoch Gewalt anwenden müssen, um Strefler daran zu hindern, mir mit zittrigen Fingern die Mannschaftsschärpe um die Schultern zu legen. Erst nach einem müden Blick, in den er vermutlich allen ihm noch verbliebenen Kampfgeist gelegt hatte, übergab er sich der Schwerkraft und den helfenden Händen seiner Retter.
Ich hielt unsere Teilnahme am Wettkampf damit für beendet. Strefler brauchte einen Arzt und wir hatten vermutlich gleich gegen mehrere Wettkampfregeln verstoßen, wenn nicht per Definition, dann sicher gemessen an ehrlichem Sportsgeist. Darüberhinaus lagen wir bereits über eine Stunde hinter den Spitzenteams zurück. Doch Falk’s Blick sagte mir, dass ich auch dieses Mal nicht mit vernunftgebotenen Argumenten bei ihm durchkommen würde. Deswegen ließ er mich auch gar nicht erst zu Wort, kommen als ich Luft holte, um sagen, was er nicht hören wollte, sondern deutete auf die Schärpe, die mir Strefler mit letzter Kraft umgelegt hatte. Seine Stimme war um Tapferkeit bemüht, als er mir versicherte, dass er sich um alles kümmern werde. Falks Entschlossenheit und Streflers letzte Geste ließen mir keine andere Wahl, als die Schärpe festzuzurren und die absolut aussichtslose Verfolgung der gegnerischen Teams aufzunehmen.
Mein Zieleinlauf war deprimierend. Ich hatte zwar einen Teil der verlorenen Zeit wiedergutmachen können, aber als ich die Ziellinie überquerte, wurde ich vom Ordnungspersonal zur Seite gewunken und über die Disqualifikation meiner Mannschaft in Kenntnis gesetzt. Obwohl ich es hatte kommen sehen, war ich bitter enttäuscht. Als ich die Arena verließ, hörte ich noch die Wellen des Jubels, die die nach mir eintreffenden Teams auslösten, und sah wie die Jury die Zeiten meines Teams von der Tafel wischte. Ich gab mir Mühe, Haltung zu bewahren.
Als ich in mein Hotelzimmer zurückkehrte, fühlte ich eine unendlich große Leere in mir, die nur von den schweren Schnallen und den Schichten über Schichten aus dicker Wolle und wetterdichten Nylon meiner Skikleidung davon abgehalten wurde, sich im ganzen Raum auszudehnen. Während ich meine Stiefel abstreifte und aus meiner Skimontur stieg, wurde es immer schwerer, diese Leere in mir zu behalten. Ich zog die Vorhänge zu und schaltete alle Lichter aus, damit die Schatten der Ausbreitung der Leere entgegenwirken konnten. Ohne geduscht oder etwas gegessen zu haben, kroch ich ins Bett, wo ich schließlich meinem Zorn freien lauf ließ und weinte. Ich bin ein schlechter Verlierer.
Meine Wut machte jedoch den verlorenen Sieg nicht wett, sondern kostete mich lediglich meine letzten Kraftreserven, sodass ich schnell in einem tiefen und traumlosen Schlaf versank, aus dem ich erst einige Stunden später von Falks Klopfen geweckt wurde. Ich fuhr hoch, starrte in die Leere, erinnerte mich an alles und schickte Falk mit ein paar mürrischen Anweisungen weg. Ich war nicht zum Reden aufgelegt, wollte niemanden in meiner Leere.
Der Raum war nicht vollkommen dunkel. Am Telefon leuchtete ein schwaches Licht, das seine Betriebsbereitschaft anzeigte, und am unteren Rand der Badezimmertür war ein schmaler Streifen Licht zu sehen. Auch die Ziffern des Radioweckers leuchteten schwach. Ich schlich durch das schemenhafte Halbdunkel, füllte meine verlorenen Flüssigkeitsreserven am Wasserhahn im Badezimmer auf und machte mich danach über die Schokoriegel und Salzkräcker aus der Minibar her. Dieses bescheidene Mahl tat ungemein gut. Ich genoss das Rumoren in meinem Magen und zählte, um an nichts denken zu müssen, die Schatten, bis ich erneut in einen Tiefschlaf fiel, der dieses Mal bis zum nächsten Morgen anhielt.
Es war noch dunkel, als ich mich zunächst aus dem Bett und dann aus meiner Unterwäsche schälte, um mir endlich das Salz von der Haut zu waschen. Das warme Wasser, der Geruch von Seife und das quietschende Geräusch, als ich mir mit den Fingern durch die Haare fuhr, versicherten mir, dass das Gröbste überstanden war. Es erinnerte mich aber auch an die traurige Wirklichkeit: Ich würde als Verlierer heimkehren.
Zu Hause nahmen die Dinge jedoch einen ganz unerwarteten Lauf. Es waren zwei Bilder von uns in der Zeitung gedruckt worden. Anstatt uns als Verlierer darzustellen, hatte man uns zu Helden mit eisernem Willen und unschlagbarem Teamgeist gekrönt. Die Medaillen, die wir in den Vorrunden errungen hatten, wurden zusammen mit den Zeitungsartikeln im Mannschaftsheim aufgehängt und die unglückliche Vorgeschichte des Wettkampfs sowie die Tragödie der letzten Runde verklärten sich durch die mythenbildende Kraft der Stammtische in den Heimen schnell zu heroischen Legenden.
Der Stachel der Enttäuschung saß mir jedoch zu tief im Fleisch, als dass mich diese nachträgliche Korrektur der Wirklichkeit hätte trösten können. Daran konnte auch Falks übersteigerter Diensteifer, den er nach Oslo an den Tag legte, nichts ändern.
Falks Kreativität beim Buße leisten kannte keine Grenzen und gipfelte darin, dass er die gesamte Stabsabteilung auf dem Hof der ersten Kompanie antreten und singen ließ. Er wusste, dass solche Rituale bei mir keine Wirkung zeigen. Warum er es dennoch probierte, blieb mir ein Rätsel. Als ich nach der ersten Strophe die Hand hob, um den Gesang zu beenden, verstummte der Chor jedoch nur zögerlich. Einige Stimmen wurden nur leiser, andere verstummten zwar kurz, setzten dann aber wieder ein, da Falk den gegenteiligen Befehl gab, indem er voller inbrunst weiter sang.
Erst nachdem mein halb fragender, halb auffordernder Blick ein Mal die Runde gemacht, kehrte Ruhe ein. Auch Falk verstummte und trat vor, um etwas sagen, doch ausnahmsweise, war ich derjenige, der ihn nicht zu Wort kommen ließ. »Oberleutnant Kastl«, sagte ich laut, woraufhin Falk sofort in Stillgestanden wechselte. Die anderen Soldaten taten es ihm gleich. Ich mache nicht gern von der Autorität gebrauch, die mir per Rangabzeichen verliehen worden ist, aber Falk fordert es gelegentlich heraus.
Ich erklärte ihm kurz, dass sich meiner Meinungen nach mangelhafte Wettkampfvorbereitung, strategische Fehlentscheidungen und schlechte sportliche Leistungen nicht wegsingen ließen, und wechselte zu den aktuell anstehenden Aufgaben. Die Belege für die Ausgabenrückerstattung der Osloreise waren immer noch unvollständig, außerdem hatte das Büro des Generalinspekteurs einen detaillierten Bericht über die Vorkommnisse verlangt, die in Oslo zur Disqualifikation unseres Teams geführt hatten. Fast wichtiger als die Aufarbeitung von Oslo war jedoch die Vorbereitung auf Bad Reichenhall, wenn wir dort nicht erneut auf eine Katastrophe zusteuern wollten.
Falk wollte etwas erwidern, aber ich schüttelte den Kopf, legte den Finger auf die Lippen und erklärte ihm, dass er alles, was er zu sagen hatte, in Berichtform auf meinen Schreibtisch legen sollte. Dann wandte ich mich an die Truppe und verkündete, dass ich wegen dringender Dienstangelegenheiten bis auf weiteres das Kommando der Stabsabteilung auf Falk übertrug, an den sie sich während der nächsten Tage in allen Fragen zu wenden hatten.
Falk sagte nichts, als ich mich ein letztes Mal an ihn wandte, doch in seinem Blick lag Überraschung, verletzter Stolz und unterdrückter Trotz. Ich schaute ihm eindringlich die Augen und sagte: »Du hast jetzt das Sagen. Ich verlasse mich auf Dich.« Damit überließ ich es ihm, ob er weitere Chorproben durchführen oder sich mit den Gruppenführern zusammensetzen wollte, um die nächsten Schritte zu planen. So sind meine Strafen.
Ich frage mich in solchen Momenten, ob ich vielleicht wirklich so bösartig bin, wie Tomo mir das manchmal vorgeworfen hat. Tomo konnte allerdings auch bösartig sein. Seine Strafen waren Schweigen und zurückgehaltene Tränen, womit er die scheußlichsten Gefühle in mir hervorrief. Obwohl ich rückschauend zu der Meinung neige, dass Tomo immer der Gute gewesen ist und ich der Böse, waren seine Strafen grausamer waren als meine. Meine Strafen dienen der Erziehung, seine quälten nur.
Vielleicht tue ich Tomo unrecht, wenn ich seine Grausamkeit mit Bösartigkeit gleichsetze. Seine Strafen funktionierten bei mir nur, weil ich ohne ihn nur zur Hälfte existierte. Sein Schmerz war mein Schmerz, sein Heil war mein Heil, und ihn zu enttäuschen, hieß vor mir selbst zu versagen. Da sich die Hälfte meines Daseins aus ihm schöpfte, schnürte mir sein Schweigen die Kehle zu und brachten mich die hinter seiner Brust angestauten Tränen zum Nachgeben. Diese tiefe Verbundenheit war damals keinem von uns so recht bewusst gewesen. So wie man die Luft erst schätzen lernt, wenn sie dünn wird. Wie sehr ich an Tomo hing, habe ich erst bemerkt, als es bereits zu spät war. Nicht viel zu spät, nur fünf Minuten etwa, vielleicht noch weniger, eine Minute, eine Sekunde, den Bruchteil einer Sekunde. Ich weiß nicht genau, ab welchem Punkt sein Abschied unumkehrbar geworden war.
Nacht für Nacht wanderte ich daraufhin durch die Duschhallen des Waisenheims, wo die Schatten von der hohen Decke herabhingen und sich in den Ecken zu seltsam geformten Klumpen verdichteten, und raunte Tomos Namen in die Dunkelheit. In meiner Verzweiflung versuchte ich sogar zu beten. Mein Gebete richteten sich sowohl an den lieben Gott im Himmel als auch an die Geister, die laut Tomo alles Irdische durchdrangen. Hätte ich damals weitere Religionen gekannt, hätte ich es auch bei ihren Göttern probiert. Doch es half alles nicht. Tomo blieb fort.
Obwohl mir Tomos Ende in klarer und schrecklicher Erinnerung geblieben ist, weiß ich nicht zu sagen, wie es eigentlich begonnen hat. Für manche Dinge im Leben gibt es ein erstes Mal, die erste Schlittenfahrt, die erste Gratwanderung oder die erste zärtliche Berührung. Andere Dinge hingegen schleichen sich langsam und heimlich ins Leben wie die Wahrnehmung von Licht und Schatten, das Selbstverständnis oder die Entwicklung von Idealen.
Meine Freundschaft zu Tomo gehört zu den letzteren Erfahrungen. Denn genauso wenig, wie ich mich an meinen ersten Herzschlag oder Atemzug erinnern kann, gibt es für mich auch keinen Zeitpunkt, der Tomos Erscheinen in meinem Leben markiert. Soweit ich mich entsinnen kann, war er immer schon da, so wie der Boden, auf dem ich stehe, die Luft, die mich umgibt, und die grellen Blitze in meinem Kopf.
Wenn ich mich durch den dichten Nebel der Vergangenheit bis zu meinen ersten Erinnerungen zurücktaste, lande ich in einer dunklen Sackgasse, wo ich ganz auf mein Fühlen und Hören angewiesen bin. In den Schatten fühle ich eine Furcht, die nicht meine eigene ist, höre ein Wimmern, obwohl ich selbst keinen Laut von mir gebe, greife nach etwas, das keine Substanz hat, und während ich mich im Dunkeln vorantaste, verändert sich die Geometrie des Raums. Die Schreckgespenster, die im Gefolge der nächtlichen Schatten an den Wänden entlangkrochen und in den dunklen Winkeln lauerten, raubten mir den Schlaf. Oft riss ich in hellem Entsetzen an meinen Gurten oder gegen die Tür meiner Zelle oder das Glas meines Betts. Nacht um Nacht stand ich so die schlimmsten Torturen durch, bis mir entweder vor Erschöpfung die Kraft versagte oder das Tageslicht alle Schatten und Gespenster vertrieb.
Auch wenn mein erwachsener Verstand – eine Institution, die sich ebenfalls unbemerkt etabliert hat – nach etwas Präziserem und Überzeugenderem verlangt, vermag meine Erinnerung nicht tiefer in das Urdunkel vorzudringen. Wann und wie sich eines Nachts Tomos Gestalt aus den Schatten löste, ist mir entfallen. Er ist Teil all meiner lebendigen Erinnerung diesseits der dunklen Leere.
Nachdem wir Freundschaft geschlossen hatten, wuchs unsere Verbundenheit mit jeder Nacht, die wir zusammen verbrachten, und mit jedem Tag, während dem wir auf die nächste Nacht warteten. In diesem entgegengesetzt zum Rest der Welt getakteten Tag-Nacht-Rhythmus erschufen wir unsere eigene Sprache und pflegten unsere eigenen Riten in dem uns eigenen Universum. Da ich der Einzige war, der von Tomos Existenz wusste, weil er mich nur in einsamen nächtlichen Stunden besuchen kam, gab es niemanden, der uns in unsere Zweisamkeit geredet hätte. In nahezu vollkommener Isolation gestalteten wir so unsere Wirklichkeit und Welt.
~ Wilhelm Fenner