»Die Zubereitung von Tee ist wohl in der Tat eine hohe alchemistische Kunst, deren Zugang mir auf ewig verwehrt bleiben wird«, seufzte Heinrich in die Stille des Morgens und schüttete das Ergebnis seines misslungenen Versuchs, Tee aufzubrühen, in die Spüle. Nicht einmal mit einem Teebeutel wollte es ihm gelingen, einen genießbaren Tee zuzubereiten. Entweder schmeckte er zu bitter, hatte einen sauren Nachgeschmack oder hob sich geschmacklich nur unwesentlich von heißen Wasser ab. Manchmal schmeckte er auch so, wie Papier roch, das bei Regen im Rucksack feucht geworden war. Oftmals sah der Tee auch einfach unappetitlich aus. Denn wenn man ihn zu lange ziehen oder abkühlen ließ – oder noch schlimmer beides –, wurde das Wasser trüb und hinterließ am Tassenrand dunkelbraune Ringe oder bildete eine schillernde Haut auf der Oberfläche.
Wilhelm passierte das nie. Er hatte dem heißen Getränk alle Zeit, Hingabe und Aufmerksamkeit gewidmet, die das Gelingen der Operation erforderte, und er hatte dazu noch nicht einmal ein Wasserthermometer oder eine Sanduhr gebraucht. Er hatte den perfekten Augenblick von Feuer, Wasser und Erde immer erfühlt. Der aufsteigende Nebel über der Tasse, der Duft des Tees und die Farbe des Wassers hatten ihm dabei geholfen. Manchmal arbeitete Wilhelm auch mit weniger esoterischen Methoden und hielt einfach seine Finger an die Teekanne, um die Temperatur zu prüfen.
Für Heinrich war Tee weder eine Kunst noch eine Gefühlssache, sondern nur ein lästiges Geduldsspiel. Erst musste man warten, bis das Wasser heiß war, um es weich und bekömmlich zu machen, und dann musste man warten, bis es wieder abgekühlt war, um das Teearoma nicht zu zerstören. Während der Tee zog, musste man erneut warten, bis die Sanduhr abgelaufen war oder die Eieruhr klingelte. Wenn man schließlich den Teebeutel oder das Teesieb herausnahm, hatte man es fast geschafft, musste jedoch noch ein letztes Mal warten, sonst verbrannte man sich die Lippen. Das waren für Heinrichs Geschmack zu viele Arbeitsschritte und zu viele Wartezeiten.
Er mochte eigentlich überhaupt keinen Tee, aber er hoffte auf die beruhigende Wirkung, die man dem Getränk nachsagte. Deswegen entschied er sich, es doch noch einmal versuchen, und nahm aus dem Regal mit den Teedosen, Teekannen und Teesieben die Schachtel, mit der er es heute Morgen schon einmal probiert hatte. Dieses Mal las er die Hinweise auf dem Etikett, bevor er den Teebeutel in eine Tasse hängte und den Wasserkocher anschaltete.
Es war erst vier Uhr morgens und er war müde, aber zu aufgekratzt, um zu schlafen. Ein böser Traum hatte ihn geweckt und der Schrecken saß ihm noch in den Knochen. Es war immer derselbe Traum. Ein Traum voller Dunkelheit und Schatten. Einer dieser Schatten war er selbst, der am Boden kauerte und starb. Die übrigen Schatten standen im Kreis um ihn herum und sahen ihm schweigsam und reglos beim Sterben zu.
Er hatte bereits seine Dienstuniform angelegt, aber es war zu früh, um ins Büro zu fahren. Die anderthalbstündige Autofahrt von seiner Mittenwalder Wahlheimat nach München durch die Dunkelheit wäre nur deprimierend und im Bürogebäude würden ihn um diese Uhrzeit ohnehin nur eine erdrückende Stille und die liegengebliebene Arbeit von letzter Woche erwarten.
Schlimmstenfalls wären auch die Pappbecher des Getränkeautomaten im Keller leer oder das Gerät hätte einen anderen Defekt. Dann würde er auf dem Trockenen sitzen, bis der Hausmeister den Notstand behob oder die Cafeteria im dritten Stock aufmachte. Dieses Risiko wollte Heinrich lieber nicht eingehen, weswegen er sich eine kleine Flasche Ingwerlimonade aus dem Kühlschrank nahm und es sich in der Hoffnung, noch ein wenig Ruhe finden zu können, auf der Wohnzimmercouch bequem machte.