Die Erde bebte, als wäre eine Kreatur von urzeitlicher Größe aufgestampft, und der donnernde Schlag vertrieb den Spuk und die Dunkelheit, als hätte es sie nie gegeben. Heinrich blinzelte in das durch die zerstörten Mauern und Dachgebälk einfallende Tageslicht. Mit dem Ende der Nacht war die Wirklichkeit zurückgekehrt. Alles um ihn herum war rußig, kalt und nass. Genau so, wie es sein sollte.
Heinrichs Körper schien jedoch noch nicht vollständig zu dieser Welt zu gehören und sendete widersprüchliche Signale. Sein Herz schlug so fest, als stünde es in den Startlöchern zu einem Hundertmeterlauf, während sich seine Beine und Arme so schwer anfühlten, als ob sie mit Blei ausgegossen wären. Mühsam hob Heinrich seine Hände und presste sie gegen seine Brust.
Die Bewegung war kraftlos und die zittrigen Finger schafften es nicht, sein Herz zu beruhigen. Es machte sogar einen Sprung und schlug noch schneller, als ein plötzlicher Schrei Heinrich vor Schreck zusammenfahren ließ. Er drehte seinen Kopf langsam nach der Geräuschquelle um und entdeckte den Eichelhäher vom Tag zuvor.
Der Vogel hatte wieder auf dem Fenstersims Stellung bezogen und stieß, als sich ihre Blicke trafen, einen weiteren lauten Warnruf aus. Er flog jedoch nicht weg, sondern beobachtete nur argwöhnisch, was in der toten Ruine vor sich ging. Er war offenbar überrascht, dass Heinrich noch lebte, und floh selbst dann nicht, als die Erde erneut bebte.
Es war das gleiche Beben, das Heinrich aus seinem Traum gerissen hatte. Stöhnend quälte er sich in eine sitzende Haltung, um die Ursache des Bebens zu ergründen, doch er war so sehr damit beschäftigt, das Gleichgewicht zu halten, dass er sich auf nichts anderes konzentrieren konnte. Schwindel und Erschöpfung ließen ihn taumeln und erst jetzt bemerkte Heinrich, wie bitterlich er fror.
Nachdem sich der Taumel und das Gefühl, unter der Last seines eigenen Körpers zusammenbrechen zu müssen, ein wenig gelegte hatten, blieb nur ein Zittern und das Herzrasen zurück.
Heinrich sah an sich herab. Seine Kleidung war nass und schmutzig. Als er schluckte, schmeckte er Blut und spuckte aus, doch in seinem Mund war kein Blut, nur der Geschmack davon. Er verzog das Gesicht und spürte eine schmerzende Stelle. Als er sie mit der Hand ertastete, schmerzte sie noch mehr und er verzog erneut das Gesicht.
Er musste gestürzt sein. Vorsichtig sah er sich um, als die Erde erneut bebte. Das Wasser auf dem Boden kräuselte sich und der Eichelhäher hüpfte auf dem Fenstersims auf und ab. Heinrich fragte sich, woher das Beben kam. Hätte er Motorsägen gehört, hätte er gedacht, dass in dem Wald Holzfäller unterwegs waren, doch er hörte weder Sägen noch Äxte, nur das Rauschen des Windes in den Wipfeln, dass einen Stadtmenschen wie ihn an das Rauschen von Autobahnen erinnerte.
Während er seinen Blick schweifen ließ, bemerkte er, dass der braune Umschlag unversehrt in seiner Umhängetasche steckte, die er auf einem Trümmerhaufen abgestellt hatte. Die Gaslampe war umgefallen, das Glas zerbrochen. Die Schaufel, mit der er versucht hatte, den kleinen Aktenschrank aufzubrechen, und der Eimer mit dem übrigen Werkzeug lagen daneben.
Mühsam stemmte sich Heinrich auf die Beine und hielt sich an einem Balken fest, um nicht sogleich wieder umzufallen. Die Erbe bebte, der Vogel krächzte und Heinrich räusperte sich und spuckte erneut aus. Dieses Mal war es Blut, altes Blut, keine frische Wunde, dennoch fühlte er sich elend. Er wollte sich jedoch nicht beschweren, er war mit dem Leben davon gekommen.
Von nun an gehörte er zu der Sorte Mensch, die eine Begegnung mit einem Kobold überlebt hatte und davon erzählen konnte. Es floss also doch nicht das dünne Blut seines Vaters durch seine Venen, wie die Alten früher befürchtet hatten. Er war ein Dämonenkämpfer.
Heinrich dachte an seine Mutter, seine Großmutter und die dunklen Augen, die ihn während der vergangenen Nacht vor dem Schlimmsten beschützt hatten. Er ballte seine rechte Hand zur Faust, öffnete sie wieder und beobachtete, wie sich die Handflächen langsam wieder rosig färbten. Als er sah, wie das Blut durch seinen lebendigen Körper floss, keimte in Heinrichs Brust ein Gefühl auf, das er vor sehr langer Zeit verloren hatte: das Gefühl, Teil einer Familie zu sein.
Er war bei dem Kampf gegen den Kobold niemals allein gewesen. Sie waren alle bei ihm. Hier und jetzt. Seine Mutter, die verstorben war, wie seine Großeltern auf den fernen Inseln.
Obwohl Heinrich wusste, dass der Vogel nur das erneute Beben kommentierte, fasste er den Schrei als Bestätigung seines Gedankengangs auf. Er drehte sich nach dem Tier um, das ohne Scheu und Angst auf der Fensterbank saß.
Wie Heinrich war der Eichelhäher durch sein Blut mit einer langen Ahnenreihe verbunden, die ihn zu dem gemacht hatte, der er heute war. Vielleicht hatten sie sogar einen gemeinsamen Vorfahren, aber der Eichelhäher hatte sich zu einem Vogel entwickelt, der fliegen konnte und sich nur vor stärkeren gefiederten Wesen fürchten musste. Vor einem unbewaffneten Menschen, brauchte er sich nicht zu fürchten, noch nicht einmal, wenn dieser ein Dämonenkämpfer war.
Heinrich lächelte und griff nach seiner Tasche. Als er sich nach der Lampe und der Schaufel bücken wollte, bemerkte er, dass sich die Wasseroberfläche noch immer kräuselte. Die Erde vibrierte. Er hielt es für ratsam, die Ruine schnell zu verlassen, bevor das ständige Beben dem Gebäude den letzten Grund gab, vollständig zu kollabieren.
Mit dem Schränkchen hatte er abgeschlossen. Er glaubte nicht, dass irgendetwas darin auch nur annähernd so interessant sein konnte, wie die Enthüllungen der vergangenen Nacht. So rasch es sein müder Körper zuließ, sammelte er die verstreuten Werkzeuge ein und warf sie in den Eimer, als die Wasseroberfläche mit einer dicken Gänsehaut überzogen wurde. Dieses Mal wurde das Beben von einem lauten Schlag begleitet und Heinrich hörte Motorgeräusche, die sich dem Institutsgelände näherten.
Er lief zu einem Fenster, um auf den Institutsvorplatz hinunterzuschauen, wo er schließlich den Urheber des Erdbebens sah: Ein mit Auslegerkran und Gewichten beladener Transporter hatte sich offenbar die holprige Straße zum Institutsgelände entlang gearbeitet und fuhr nur durch die dank Heinrich weit offenstehenden schwarzen Eisentore Richtung Institut.
Er folgten mehrere Beben unmittelbar hintereinander, als der unschierige Lastwagen, um Heinrichs in der Institutszufahrt geparktem Auto auszuweichen, auf einen unbefestigten Wegabschnitt ausweichen musste. Der Eichelhäher krächzte und Heinrich entließ ein stilles Pfeifen.
Kaum hatte der Lastwagen sein Ausweichmanöver abgeschlossen, als vier weitere Fahrzeuge hinter ihm drein auf das Institutsgelände preschten. Drei davon waren einfache Zivilfahrzeuge, aber eines wies sich durch seine Schachbrettbemalung und Blaulichtanlage unverkennbar als Einsatzwagen der lettischen Policijas aus.
Dieses Aufgebot an glitzerndem Metall und lärmenden Motoren war dem Eichelhäher zu viel. Er spannte seine Flügel auf und ließ Heinrich allein in der Ruine zurück. Kein Wort zum Abschied, kein Blick zurück. Nach wenigen Flügelschlägen war er im Wald verschwunden. Heinrich hätte es ihm gern gleichgetan, aber seine Kämpfe fanden am Boden statt.
Mit einem skeptischen Blick verfolgte er, was im Vorhof des Instituts vor sich ging. Der Laster rollte langsam bis zum Haupteingang des Gebäudes oder dem, was davon noch übrig war. Eines der Zivilfahrzeuge blieb zurück und kam hinter seinem Mietwagen zum Stehen, wie um ihm den Rückweg abzuschneiden, während die übrigen drei Fahrzeuge wie zuvor der Laster umständlich um Heinrichs Mietwagen herum manövrierten. Sie fuhren jedoch nicht bis zum Gebäude vor, sondern hielten auf halbem Weg.
Als Heinrich auf dem Laster neben einem martialisch aussehenden Greifwerkzeug eine große silberne Stahlkugel entdeckte, wusste er dass es Zeit war, von dem Institut Abschied zu nehmen. Er legte seine Hand auf die verbrannten Steine des Fenstersims und tätschelte das Gebäude. Es hatte eine Menge mitgemacht. Für die Familie, die ursprünglich hier gelebt hatte, musste es ein wahres Schloss gewesen sein. Es hatte zwei Weltkriege überlebt und als Schule und Krankenhaus gedient, bevor es zu Meissmanns inoffiziellem Zweitwohnsitz und Arbeitsplatz wurde. Jetzt wartete die Abrissbirne darauf, das Gebäude dem Erdboden gleichzumachen.
Heinrich verabschiedete sich jedoch nicht nur von dem Gebäude, sondern auch von dem Kobold. Dieser würde vermutlich weiter an diesem Ort umherspuken. Solange die unterirdische Bunkeranlage existierte, würde er dort entlangwandeln und ab und zu an die Oberfläche kommen, um unvorsichtige Wanderer mit in die Tief zu nehmen.
Wenn man einen Geist austreiben wollte, musste man mehr tun, als nur die oberen Stockwerke abzureißen. Das Gebäude musste vollkommen abgetragen und die Steine in verschiedene Richtungen weggetragen werden. Danach musste ein Priester den Ort spirituell reinigen und versiegeln. Das wusste er noch von seiner Zeit bei seinen Großeltern.
Das plötzliche Aufblitzen der Lichter auf dem Dach des Polizeiautos rissen Heinrich in die Gegenwart zurück. Er hörte auch ein kurzes Knistern durch die Lautsprecheranlage, doch es kam keine Durchsage. Vermutlich weil in diesem Moment die Tür des Autos neben dem Einsatzwagen aufsprang und ein Mann ausstieg, der den Beamten mit einer beschwichtigenden Geste Entspannung signalisierte.
Da Heinrich nicht wusste, ob ihn die Polizisten warnen wollten, weil er sich in einem Abrisshaus befand, oder ob sie verärgert waren, dass er einen abgesperrten Bereich betreten hatte, hob er vorsichtshalber seine Hände. Erst als er sie über den Kopf hielt, bemerkte er, dass er an der rechten Hand blutete. Er hatte sich vermutlich am Glas der Laterne geschnitten.
Während das Blut langsam seine Finger herunterlief, beobachtete er, wie der Mann, der aus dem Auto ausgestiegen war, den Beamten Anweisungen erteilte. Das blaue Flimmerlicht erlosch, die Polizisten stiegen aus und Heinrichs Blick fiel auf eine Gestalt, die von dem Auto hinten am Eisentor angespurtet kam. Ihr langer Mantel flatterte hinter ihr her. Als sich jedoch die Situation entspannte, entspannte auch sie sich.
Auch Heinrich entspannte sich, als er die Person erkannte. Er nahm seine Hände gerade noch rechtzeitig herunter, um zu vermeiden, dass das herunterlaufende Blut sein Hemd rot färbte. Er krempelte den Ärmel hoch, presste sein Taschentuch auf die Wunde, schnappte sich den Eimer und stürzte, so schnell es der rutschige Untergrund und sein ausgelaugter Körper erlaubten, nach unten. Er wollte Pragen nicht warten lassen.
Als Heinrich aus dem Gebäude trat wurde er von den Beamten mit einem freundlichen Lächeln und einem formlosen ›Sveiki‹ begrüßt. Er grüßte und lächelte zurück. Er kannte die beiden Polizisten nicht, die nun ihre von der langen und aufgrund der holprigen Straße ungemütlichen Fahrt steifen Glieder streckten. In dem Mann, der die beiden davon abgehalten hatte, Heinrich mit Blaulicht und Lautsprecherdurchsage aus dem Gebäude zu zitieren, erkannte er jedoch den Ermittlungsleiter, mit dem sie vor sechs Wochen den Brandfall untersucht hatten.
Oberstleutnant Kajetan-Lewin Pragen sprach gerade mit ihm, weswegen er Heinrich nur mit einem Kopfnicken begrüßte und ihm hastig zuraunte in seinem Wagen Platz zu nehmen, wo ein Frühstück auf ihn wartete.
»Auf mich?«, wollte Heinrich fragen, aber Pragen hatte ihm bereits den Rücken zugekehrt, um seine Unterhaltung fortzusetzen. Heinrich ging an den beiden vorbei, warf im Vorbeigehen, den Eimer in sein Auto und setzte sich dann auf den Beifahrersitz des Wagen, aus dem Pragen gestiegen war.
Im Auto war es angenehm warm. Erst die Wärme erinnerte Heinrich daran, wie sehr er fror, und er fing so heftig an zu zittern, dass seine Zähne aufeinanderschlugen. Das Zittern dauerte jedoch nicht lang. Sein Körper war zu müde. Während sich die Wärme in seinen Gliedern ausbreitete, wurden Heinrichs Augendeckel schwer.
Heinrich hatte Hunger und Durst und in dem Auto roch es neben dem typischen Geruch nach Plastikarmaturen nach Gebäck und Tee. Er hätte sich gern nach dem versprochenen Frühstück umgeschaut, aber er war zu müde, auch nur den Kopf zu drehen. Aus halb geschlossenen Augen spähte er auf die Uhr. Es war kurz nach neun.
Während sich Pragen lebhaft mit den lettischen Beamten austauschte, wurden Heinrichs Augenlider immer schwerer. Auch sein Kopf schien an Gewicht zugenommen zu haben. Er hatte zunehmend Mühe, ihn davon abzuhalten, zur Seite zu rollen oder nach vorne oder hinten zu kippen.
Er ließ der Schwerkraft schließlich ihren Willen, sank tief in den Sitz, der im Vergleich zu dem feuchten Holzbalken, auf dem er die Nacht verbracht hatte, kuschelig wirkte.
»Nankurunaisa– alles wird gut«, flüsterte Heinrich. Das hätte seine Großmutter jetzt bestimmt gesagt und wie damals auf den Inseln spürte Heinrich, wie ihm das Wort Frieden und Zuversicht schenkte. Zugleich verspürte er jedoch eine gewisse Unrast.
Als er seine Augen schloss und tief in sich hinheinhörte, verstand er woher das innere Zappeln kam. In seinem Herzen war ein Wunsch geboren worden. Es war sogar mehr als ein Wunsch, es war eine Idee, eine fixe Idee, ein Plan, und zwar ein Plan, den er während der vergangenen zwei Jahrzehnte nicht im Entferntesten in Erwägung gezogen hatte: eine Rückkehr zu den Inseln, eine Heimreise.
»Nankurunaisa– fühlt sich nicht danach an, aber alles wird gut«, flüsterte Heinrich erneut, bevor er mit einem unterdrückten Schrei hochschreckte. Ein Schwung frischer, aber kalter Luft und eine sanfte Berührung an der Schulter hatten ihn aus seinem Schlummer geweckt.
»Marcus?«, stammelte Heinrich verwirrt.
Der Oberstleutnant hatte die Beifahrertür geöffnet. In einer Hand hielt er einen Verbandkasten, in der anderen eine Flasche Wasser: »Das Blut scheint aus einer frischen Wunde zu kommen«, sagte er mit einem besorgten Blick auf das blutgetränkte Taschentuch, das um Heinrichs rechte Hand gewickelt war. »Ist es nur die Hand oder hast Du weitere Verletzungen?«
»Nur die Hand, nur die Hand«, beschwichtigte Heinrich den Oberstleutnant und schaute auf die Uhr. Es war kurz nach zehn.
Nachdem Pragen den provisorischen Verband abgenommen hatte, reinigte er die Wunde unter dem Strahl aus der Wasserflasche und betupfte den Schnitt mit Jod.
»Was machst Du hier?«, fragte Heinrich und versuchte das Feuer zu ignorieren, das in seiner Wunde brannte, während Pragen seine Hand verband. Pragen hielt kurz inne und sah Heinrich ernst an: »Das ist meine Frage.«
Heinrich antwortete nicht, sondern sah nur nachdenklich zur Ruine hinüber, wo sich drei Arbeiter unter der Aufsicht der Polizisten daran machten, den Abrisskran aufzubauen. Nach einem kurzen Moment des Schweigens, schüttelte Pragen den Kopf: »Gut, Du hast zuerst gefragt«, seufzte er und fuhr damit fort, Heinrichs Hand zu verbinden.
»Das lettische Ermittlerteam hatte neue Erkenntnisse bezüglich der Brandentwicklung. Nichts, was man nicht auch in einer Telekonferenz hätte besprechen können, aber auf mir lastete der Makel ohne Absprache mit den hiesigen Behörden einen Mitarbeiter geschickt zu haben. Da hielt ich es fürs Beste, persönlich zu erscheinen und bei der Gelegenheit herauszufinden, wie der Auftrag dieses angeblich von mir nach Lettland beorderten Agenten genau lautet.«
Pragen riss das Ende der Mullbinde in zwei Streifen, machte einen Knoten und Heinrich verzog das Gesicht, als Pragen die Zipfel unter die letzte Lage der Wicklung schob.
»Natürlich wirft auch Wilhelms Tagebuch ein neues Licht auf Meissmanns Institut und alles, was damit zusammenhängt«, fuhrt Pragen fort.
»Oh, es dreht sich also am Ende wieder alles um Meissmann. Warum frage ich überhaupt?«, sagte Heinrich, drehte seine frisch verbundene Hand hin und her und bewegte die Finger. Ein Sani hätte es nicht besser hingekriegt. Als er aufsah, hielt Pragen ihm die Wasserflasche hin, mit der er zuvor die Wunde ausgespült hatte. Heinrich zögerte kurz, murmelte aber schließlich ein leises ›Danke‹ und nahm die Flasche. Als er sich jedoch im Außenspiegel sah, erschrak er.
Seine rotgeränderten Augen hatten sich tief in ihre Höhlen zurückgezogen und die dunklen Ringe unter seinen Augen zeichneten zusammen mit seinen eigefallenen Wangen die Form seines Schädels nach. Seine Haare klebten an seiner Stirn und an seinen Schläfen und sein Gesicht war schmutzig und blutverschmiert. Auch sein Hemd und seine Krawatte waren blutig und zerknittert. Anstatt das Wasser zu trinken, stieg er aus dem Auto, schüttete sich das Wasser ins Gesicht, um sich so gut, wie es mit der linken Hand möglich war, zu waschen.
»Hattest Du Nasenbluten?«, fragte Pragen, als er Heinrich ein sauberes Taschentuch reichte, um sich abzutrocknen. Heinrich missfiel der forschende Unterton in Pragens Frage. Deswegen schüttelte er den Kopf.
Während er sich abtrocknete, spürte er jedoch Pragens telepathische Fühler. Der Oberstleutnant hatte, wenn er jemandem auf den Zahn fühlte, diesen besonderen Blick, den man selbst dann spürte, wenn man ihm nicht in die Augen sah. Heinrich fragte sich, was Pragen über sein Nasenbluten wissen konnte.
Die Zeiten, als er vor dem Schlafengehen ein Handtuch über seinem Kopfkissen ausgebreitet hatte, weil er beinahe jeden Morgen nach einer alptraumhaften Nacht mit Nasenbluten erwacht war, waren schon lange vorbei. Das war damals auf den Inseln gewesen und während seiner ersten Jahre in Deutschland, aber seit seinem Klinikaufenthalt in der Schweiz hatte das Bluten aufgehört und eigentlich auch die Träume. Nur ein dunkler Traum war übriggeblieben, der ihn ab und zu schweißgebadet aufwachen ließ. Mit Wilhelms Verschwinden waren jedoch die regelmäßigen Alpträume und mit der vergangenen Nacht wohl auch das Nasenbluten zurückgekehrt. Heinrich hoffte, dass es bei dem einen Mal blieb.
»Was soll das ganze Aufgebot?«, fragte er schließlich, um nicht über sein Befinden reden zu müssen.
Pragen seufzte: »Kurz nach Bekanntwerden der neuen Erkenntnisse bezüglich des Brandes und fast gleichzeitig mit Deinem Eintreffen in Lettland, hat Meissmann anordnen lassen, das Institut abzureißen. Die Polizeidienststelle war von dieser plötzlichen Anordnung überrascht, da die Gegebenheiten vor Ort noch einmal mit den Ergebnissen der Reißbrettanalyse abgeglichen werden sollten. Meissmann bestand jedoch auf seinem Recht als Eigentümer und wies auf seine Pflicht hin, das Sicherheitsrisiko, das von dem einsturzgefährdeten Gebäude ausging, zu beseitigen.«
»Und hat er Recht?«
»Bevor seine Pflichten als Eigentümer betrachtet werden, sollte erst einmal sichergestellt werden, dass er der Eigentümer ist«
Heinrich war überrascht: »Besteht daran Zweifel?«
»Mit Sicherheit ist er Teileigentümer, aber von Leyden hat das Institut seinen beiden Schützlingen hinterlassen, Meissmann und Luv.«
»Oh«, sagte Heinrich.
»Ganau, oh«, bestätigte Pragen: »Soweit ich das bisher mitbekommen habe, ist der Erbfall von Deinem Vater kompliziert und wurde im Rahmen Deiner Sicherheitsüberprüfung nie vollständig aufgerollt.«
Heinrich nickte: »Wegen seines Verlags, den Stiftungen und den verschiedenen Wohnsitzen. Ich habe mich nie groß damit beschäftigt. Kornbluth, unser Familienanwalt, hat das für mich übernommen und mir am Ende einen großen Batzen Geld auf mein Konto überwiesen. Ich musste nur einmal etwas unterschreiben.«
»Und jetzt könnte es sein, dass etwas übersehen wurde und das Institut«, Pragen schaute Richtung Gebäude, »zur Hälfte Dir gehört.«
»Ich will es nicht«, sagte Heinrich so energisch, dass Pragen die Augen zusammenzog und Heinrich durchdringend ansah. Heinrich wandte den Blick ab und las die verschnörkelten Buchstaben auf dem verbrannten Gebäude: Institut für Geist und Leben.
»Ich will es einfach nicht«, wiederholte er.
»In Ordnung«, sagte Pragen, dem es ohnehin nicht oblag, Heinrichs Erbangelegenheiten zu regeln. »Die Rigaer Polizei fand die plötzliche Eile, mit der Abriss erfolgen sollte, verdächtig und wollte die Arbeiten deswegen observieren. Der Chef der Ermittlungen im Brandstiftungsfall Fenner ist, wie Du gesehen hast, sogar persönlich gekommen. Er misstraut den Personen, die Meissmann mit dem Abriss betraut hat, und als er hörte, dass ich sogar einen Agenten aus Deutschland hierhergeschickt hatte, entschied er sich, selbst vor Ort zu erscheinen.«
»Woher wusstest Du das ich hier bin?«
»Die Belastung von Wilhelms Konto zur Deckung Deiner Flugkosten hat einen Alarm ausgelöst.«
»Es ist auch mein Konto«, sagte Heinrich ein wenig verstimmt. »Wilhelm kann sich sicher denken, dass unser Konto unter Beobachtung steht. Wenn er nicht gefunden werden will, wird er davon absehen, von diesem Konto Geld abzuheben oder die damit verbundene Kreditkarte zu belasten.«
Pragen zuckte mit den Schultern: »In einer Notlage–« Er beendete den Satz nicht, sondern fuhr mit seiner Beantwortung von Heinrichs Frage fort: »Es war schnell klar, dass Du derjenige warst, auf den die Kontotransaktion zurückging, aber Deine Reisepläne waren von da an kein Geheimnis mehr. Ich hätte davon ohnehin spätestens dann erfahren, als Du bei der Einreise Dein Dienstvisum verwendet hast und dem Verteidigungsministerium Meldung gemacht wurde. Als ich feststellte, dass in unserer Dienststelle ein Navigationsgerät fehlt, das bei der Verortung der Brandruine zum Einsatz gekommen ist, kam mir so ein Verdacht.« Pragen hielt die Hand auf.
Heinrich brauchte eine Weile, um zu verstehen, was die Geste bedeutete. Als es schließlich bei ihm Klick machte, kramte er in seiner Tasche im Fußraum des Beifahrersitzes nach dem Satellitengerät und gab es Pragen. Als er sich aus der Hocke wieder aufrichtete, wurde ihm schwarz vor Augen. Er taumelte und konnte sich gerade noch an der Autotür festhalten, um nicht umzufallen.
Pragen stützte ihn ebenfalls und, nachdem sich Heinrich wieder gefasst hatte, wies er ihn an, im Auto Platz zu nehmen: »Wir müssen reden«, sagte er bestimmt: »Ich habe dem Rigaer Ermittlungschef versprochen, unsere Erkenntnisse mit ihnen zu teilen.«
»Welche Erkenntnisse?«, fragte Heinrich, doch Pragen antwortete nicht, sondern lief um das Auto herum und stieg von der anderen Seite zu. Nachdem er sich nach hinten gelehnt hatte, um das Navigationsgerät zu verstauen, nahm er eine Brötchentüte und eine Thermosflasche von der Rückbank: »Du bist hungrig und durstig. Wieso hast Du Dich nicht bedient?« Er legte die Brötchentüte in Heinrichs Schoß und goß ihm eine Tasse Tee ein.
Heinrich mochte keinen Tee, aber er war für die Wärme und die Flüssigkeit dankbar. Nachdem er ein paar Schlucke getrunken hatte, nahm er sich ein Brötchen und schlang es gierig hinunter. Als das Brötchen aufgegessen und der Tee leer waren, goss er sich nach und nahm ein zweites Brötchen.
»Was hast Du für mich?«, fragte Pragen schließlich. »Warum bist Du hier? Was hast Du herausgefunden?«
Heinrich hielt mitten im Kauen inne. Ihm war klar, dass er um diese Fragen nicht herumkam. Er war schon froh darüber, dass Pragen keine weiteren Fragen zu dem Navigationsgerät gestellt hatte. Er kaute, schluckte und wischte sich die Krümel vom Mund.
»Ich weiß nicht, warum ich hier bin«, sagte er und sah Pragen an. In Pragens Gesicht konnte er drei Dinge lesen. Erstens: Er hatte keine andere Antwort auf diese Frage erwartet. Zweitens: Er glaubte Heinrich. Drittens: Er hatte Geduld.
Heinrich fuhr fort: »Der Brand. Du sagst, es gibt Neuigkeiten. Womöglich habe ich auch etwas dazu rausgefunden. Nicht viel, aber vielleicht kann es helfen, die Brandentwicklung nachzuvollziehen.«
Pragen hörte zu.
»Bei der Rekonstruktion der Brandursache sind wir immer von den Gebäudeplänen aus dem städtischen Kataster ausgegangen. Die waren vermutlich weniger aktuell, als wir dachten. Es fehlten darin eventuell nicht nur Informationen über den Innenausbau, sondern auch über nachträgliche bauliche Veränderungen wie Anbauten oder Ausbau von Dachstuhl und Keller.« Heinrich atmete tief ein, weil er wusste, dass er sich mit der nächsten Offenbarung in Erklärungsnot brachte: »Ich gehe inzwischen davon aus, dass das Feuer in einem Turm am Ende des Ostflügels ausgebrochen ist. Der Turm stürzte ein, neigte sich westlich und seine brennenden Trümmer setzten den Rest des Gebäudes in Brand.« Heinrich benutzte seine Hände, um seine Schilderung zu bekräftigen. Seine linke Hand war das Gebäude, auf das die verbundene Hand herabstürzte. Seine gespreizten Finger stellten die Flammen dar.
Pragen zog einen Stapel Blätter aus einer Mappe und zückte einen Stift. Die mit Text und Gebäudeplänen bedruckten Seiten waren bereits mit Notizen übersät. Er ging einige der Notizen durch und fügte weitere hinzu. Überrascht stellte Heinrich fest, dass der Text auf Lettisch war. Vor sechs Wochen hatte Pragen noch einen Dolmetscher gebraucht.
»Dieser Anbau ist in keinem der uns zur Verfügung stehenden Gebäudeplänen verzeichnet, aber vielleicht ist er auf einem Foto vom Institut zu sehen.« Heinrich dachte, an das Foto von Luise, das er auf Meissmanns Schreibtisch gefunden hatte. Ihren Namen würde er nicht erwähnen. »Damals als ich die Veröffentlichungen von Meissmann durchgegangen bin, habe ich mich hauptsächlich mit den textlichen Inhalten beschäftigt, zumal die sporadisch beigefügten Bilder auf den Schwarzweißkopien schlecht zu erkennen waren. Es ist denkbar, dass einer der Artikel ein Foto vom Institut zeigt, und falls wir bei Meissmann nicht fündig werden, probieren wir es mit den Veröffentlichungen von von Leyden.«
Pragen machte sich weiter Notizen.
»Der Brandreport konnte nie erklären, wie es Wilhelm möglich war, eine so große Feuersbrunst auszulösen. Brandbeschleuniger wurde nicht gefunden und selbst wenn: Wilhelm war zu Fuß unterwegs. Seine Möglichkeiten, Benzin oder andere brennbare Flüssigkeiten zu transportieren, waren begrenzt. Dem Werfen von ein paar Molotowcocktails oder selbstgebastelten Sprengstoffbomben hätte das Institut vermutlich standgehalten. Es verfügte über Feuertüren und Sprinkleranlagen. Wogegen das Institut keine Verteidigung hatte, waren die in den Turmwänden eingebauten Sprengsätze.« Heinrich schaute zu Pragen hinüber, um zu prüfen, ob seine Turmtheorie inzwischen auf Unmut stieß, aber Pragen war ganz Ohr und konsultierte nebenbei seine Notizen.
»Die Sprengsätze im Turm waren professionell und reichlich platziert, um die vollkommene Zerstörung des Instituts herbeizuführen. Der Turm war eine Falle und Wilhelm hat sie ausgelöst.« Heinrich schluckte. Als er merkte, wie trocken sein Mund war, nahm er sich noch eine Tasse Tee aus der Thermosflasche.
Pragen nutzte die Erzählpause, um eine Frage loszuwerden: »War der Turm von außen zugänglich?«
Während sich Heinrich Zeit nahm und in kleinen Schlückchen trank, um seine Kehle anzufeuchten, erinnerte er sich an die Worte des Kobolds: »Es ist ein Zauberturm«, erklärte er schließlich mit den Worten des Jungen: »Wenn man den Turm von außen betritt, führt eine Wendeltreppe hinauf ins Turmzimmer. Es ist das einzige Zimmer in dem Turm und man kann von dort den Wald in alle Richtungen überblicken. Betritt man den Turm jedoch vom Inneren des Gebäudes führte eine Treppe in die Tiefe.«
Pragen tippte auf seine Notizen und fragte: »In die Tiefe? In den Keller?«
»Tiefer«, erklärte Heinrich und blickte in Gedanken noch einmal den langen, schmalen Treppenschacht hinab, der von dem Turm zu der unterirdischen Bunkeranlage geführt hatte. Als er das Bild vor Augen sah, hatte er das Gefühl, die kalte und abgestandene Luft zu spüren, die ihm von dort unten entgegengeschlagen war. Er war froh, diesem Ort entkommen zu sein.
»In den von Dir vorhin erwähnten Kellerausbau?«, fragte Pragen weiter?
Heinrich nickte. Pragens unvoreingenommenes Interesse und Aufmerksamkeit verliehen den Ereignissen der vergangenen Nacht Wirklichkeit und Bedeutung, dennoch ermahnte sich Heinrich zur Vorsicht. Er durfte nicht zu viel sagen.
»Weißt Du mehr über diesen Keller?«, fragte Pragen weiter. »Jemandem scheint daran gelegen, ihn zu beschützen.«
Heinrich schüttelte den Kopf. Er hatte offenbar schon zu viel gesagt.
Pragen sah von seinen Notizen auf und durchdrang Heinrich mit einem forschenden Blick. Heinrich trank den Tee in einem Zug leer und räusperte sich: »Es handelt sich dabei vermutlich um ein Relikt aus der Zeit, als das Gebäude als Militärstützpunkt verwendet wurde, einen Bunker mit rostigen Wasserohren und verschimmelten Wänden.«
Pragen gab sich mit der Antwort zufrieden. Stapelte die Blätter übereinander und steckte seinen Füller weg. Heinrich befürchtete, dass der Oberstleutnant nach Beweisen für Heinrichs Behauptungen fragen würde, aber das tat er nicht. Stattdessen fing er an zu erzählen: »Deine Beobachtungen und Theorien decken sich mit den Erkenntnissen, die ich heute Morgen von der Rigaer Polizei erfahren habe. Der Ausgangspunkt des Brandherds wird inzwischen im Ostteil des Gebäudes vermutet, von wo aus sich die Flammen bis in die letzten Winkel des Gebäudes ausbreiteten. Auch die von Dir erwähnten Sprinkleranlagen und Brandschutztüren werden in den aktuellen Berichten erwähnt. Es hat tatsächlich auf allen drei Stockwerken feuerhemmende Zwischentüren gegeben, die die Gebäudekorridore vom Treppenhaus abtrennten. Es handelte sich dabei jedoch lediglich um massive Hartholztüren. Sie konnten vor Rauch schützen und die Ausbreitung eines Brands verzögern, nicht jedoch verhindern. Die Sprinkleranlage hat laut Bericht das Feuer sogar verschlimmert. Die Wolle, die zur Dämmung der Außenwände verwendet worden war, enthielt Eisenspäne und Stahlwollfäden, die unter dem Putz schwelten. Als die Löschanlage aktiviert wurde, versorgten die nassen Wände das glühende Metall mit Sauerstoff und Wasserstoff. Der Putz explodierte und die Temperaturen im Gebäude stiegen vermutlich auf weit über tausend Grad Celsius. Wir sehen hier vor uns, was nach so einer Explosion übrig bleibt.«
Pragen zeigte auf die Brandruine. Heinrich schaute auf das schwarze Gebäudegerippe. Es fiel ihm schwer, sich das Institut in Flammen vorzustellen, nachdem er dort fast ertrunken wäre, doch der Bericht der Rigaer Brandexperten passte zu dem, was Heinrich vergangene Nacht erfahren hatte.
»Wenn der Turm eine Falle war, war vielleicht das ganze Gebäude eine Falle«, fuhr Pragen nachdenklich fort. »Der Keller unter dem Keller und die systematisch vorbereitete Kettenschaltung explosiver Körper könnten die Absenkung des Fundaments erklären, die das Kölner Team bei seiner Begehung des Tatorts festgestellt hat. Wenn man die Staatsanwaltschaft mit diesen Punkten konfrontiert, bleibt ihr wohl nichts übrig, als Brandstiftung von Wilhelms Anklageliste zu streichen. Das sind doch gute Neuigkeiten.«
»Damit stehen nur noch zwei Morde, ein versuchter Totschlag, Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz, Falschmeldung und Fahnenflucht auf der Liste. Falls Wilhelm nur untergetaucht ist, um der Justiz zu entgehen, kann er sich jetzt ja zeigen.«
»Durch die Schwere der Vergehen, war der ganze Fall von Anfang an Sache der Staatsanwaltschaft und der Bundespolizei. Wir müssen dankbar sein, dass unsere Behörde überhaupt an den Ermittlungen beteiligt ist. Heinrich, das Einzige, was wir für Wilhelm tun können, ist die Wahrheit aufzudecken.«
Heinrich seufzte. Er wusste, dass Pragen Recht hatte und sein Trotz unangebracht war.
»Und die Wahrheit decken wir offenbar am ehesten auf, indem wir Meissmanns Verstrickungen in die Ereignisse der letzten Monate aufdecken.«
Heinrich seufzte erneut.
»Meissmanns plötzlicher Eifer, seinen Pflichten als Eigentümer nachzukommen und den Abriss des baufälligen Gebäudes voranzutreiben, spricht für mich nur dafür, dass er etwas unter den Teppich kehren möchte, bevor die lettischen Ermittler oder Du darauf stoßen könnten. Er hatte wohl gehofft, dass das Interesse an seinem Institut abgeflaut wäre. Was mich aber noch mehr beunruhigt, als seine Anstrengungen, seine Spuren zu verwischen, ist seine Informiertheit. Woher wusste er von all diesen Vorgängen?«
Heinrich hatte die Frage für reine Rhetorik gehalten. Als Pragen ihn jedoch so durchdringend anschaute, als ob er eine Antwort darauf erwartete, zuckte Heinrich mit den Schultern.
»Loden«, sagte Pragen daraufhin.
»Loden?« Heinrich dachte, er hätte sich verhört.
»Hast Du unseren Besuch auf dem Grünten vergessen?«, fragte Pragen wohlwissend, dass Heinrich diesen Tag nicht vergessen hatte.
»Oh, Du meinst die alten Herren in Lodenmänteln?« Heinrich wusste zwar, wovon Pragen sprach, konnte sich jedoch keinen Reim darauf machen, was die Gebirgsjägerveteranen des Kameradenkreises mit Meissmann oder der lettischen Polizei zu tun haben sollten.
»Lodenmäntel, Westen, Jacken, Hüte, Laptophüllen. Ich meine nicht nur die alten Lobbyisten in Köln und Bonn, sondern auch die teilweise noch durchaus jungen Stadträte und Unternehmer, die den Verein politisch und finanziell unterstützen, sowie die Jugend, die sie sich heranziehen. Du hast gesehen, wie sie junge Rekruten mit Versprechen von wahrer Kameradschaft und etwas Heimat-Bling-Bling in ihre Reihen locken und wie sie Meinungsabweichler entweder umdrehen oder, wenn ihnen dies nicht gelingt, vernichten. Du hast ihre Reden gehört und ihren Rausch gefühlt, als sie ihre Lieder sangen und ihre Bräuche praktizierten.«
Heinrich nickte. Vor ihrer Reise hatte er sich damals gefragt, warum Pragen ein Hotel in dem fünfzehn Autominuten entfernten Oberstdorf gewählt hatte, anstatt die Zimmer direkt in dem der Tagungsstätte nahegelegenen Städtchen Sonthofen zu buchen. Aber nach einem Tag in Gesellschaft von Kriegsromantikern, die andächtig vom Frieden sprachen, aber dabei dem Nationalismus, Heldentum und Kriegshandwerk huldigten, war er froh, etwas Abstand gewinnen zu können.
Anstatt sich in sein Zimmer zurückzuziehen, war Heinrich damals noch frische Luft schnappen gegangen und hatte feststellen müssen, dass ein Abstand von fünfzehn Autominuten offenbar nicht groß genug war. Denn während er im Dämmerlicht des Abends versuchte, an nichts zu denken, und dabei eine Tüte beobachtete, die sich im Geäst eines Baumes verfangen hatte und im Wind hin und her zappelte, stand plötzlich ein Hauptmann der Gebirgstruppe vor ihm. Das silbergoldene Edelweiß und die gekreuzten Spitzhacken auf seiner Uniform hatten in Heinrich zunächst Misstrauen hervorgerufen, aber dann hatte ihn Wilhelm durch eine äußerst merkwürdige Frage in ein Gespräch verwickelt: »Was sie wohl denkt?«, hatte er gefragt und damit die Tüte gemeint.
»Ich sehe, Du erinnerst Dich«, sagte Pragen.
»Ich erinnere mich an den Grünten, Sonthofen und Oberstdorf, aber das ist doch alles sehr weit weg von Meissmann in Koblenz und noch viel weiter weg von der lettischen Polizei in Riga.«
»Du weißt, dass die Kameraden sowohl im Ministerium in Bonn als auch Heeresamt in Köln ein- und ausgehen. Von dort aus ist Koblenz nicht mehr weit. Aber ihr Einflussbereich reicht tatsächlich bis hierher. Aus Berichten über die Aktivitäten des Kameradenkreises im Ausland wissen wir, dass sie Soldatengräber und Denkmäler auf lettischem Boden pflegen, Gedenkschriften in lettischer Sprache herausgeben und Treffen veranstalten und regen Briefaustausch mit deutschen Minderheiten in Lettland unterhalten.«
»Und damit erklärst Du, wie Meissmann von den letzten Entwicklungen hier in Lettland Wind bekommen hat?«
»Der Kameradenkreis wirbt stets – der Name ist Programm – mit seiner kameradschaftlichen Verbundenheit vom Jäger bis zum General. Die nachrichtendienstliche Überwachung in unserem Land fokussiert sich bei dem Verein leider zu sehr auf die Generäle. Meines Erachtens sind die Jäger das gefährlichere Problem. Sie bilden über Staatsgrenzen hinweg ein riesiges und dennoch unsichtbares Netzwerk.«
»Die Gebirgsjäger?«, fragte Heinrich und zog die Stirn kraus. Er bezweifelte, dass dieser geographisch und zahlenmäßig stark begrenzte Personenkreis eine so große Bedrohung darstellen konnte, wie Pragen sie gerade andeutete.
Pragen schüttelte den Kopf: »Alle Jäger.«
»Die Jäger aller Infanterieeinheiten?«, fragte Heinrich noch immer skeptisch, doch Pragen schüttelte erneut den Kopf.
»Ich meine wirklich alle Jäger«, sagte Pragen: »Von Kiel bis Oberstdorf. Hobbyjäger wie Förster. Eine breite Basis, die sich aus allen Schichten der Gesellschaft rekrutiert und dadurch über weitreichende Macht verfügt: in der Industrie, in der Politik, in der Justiz, in den Behörden, in der Polizei, beim Militär.«
»So wie Du das schilderst, klingt das sehr dramatisch.«
Pragen sog geräuschvoll die Luft ein. Er schien nicht zum ersten Mal mit seiner Theorie auf Zweifel zu stoßen: »Henker haben wir nicht mehr und selbst das Schlachten ist nicht mehr das was es einmal war, da nur noch wenige Luxusschlachthöfe und vereinzelte religiöse Metzger dieses Handwerk tatsächlich von Hand erledigen. Welchen Beruf wählt also ein moderner Mensch, der gerne tötet?«
»Ich hoffe, Deine Antwort lautet nicht Soldat?« Heinrich machte sich bereit, seine Berufswahl zu verteidigen, doch Pragen schüttelte den Kopf: »Nein, denn die Ausbildung zum Soldaten bedeutet hartes körperliches Training und im Ernstfall hat man es mit einem wehrhaften Feind zu tun. Wer sich zum Wehrdienst verpflichtet, nimmt letztendlich lebensgefährliche Einsätze in Kauf. Meine Antwort lautet Jäger.«
»Im Gegensatz zu der monatelangen Ausbildung beim Militär, genügt für den Jagdschein ein Wochenendkurs, in dem man lernt, wie man den Zyklus aus Leben und Sterben mit maximaler Effizienz am Laufen hält. Kurz: im Winter füttern, im Sommer schießen. Anstatt auf Pappscheiben auf Schießständen und leerstehende Ruinen auf Truppenübungsplätzen zielen Jäger auf warme, lebendige Ziele und es bereitet ihnen Vergnügen. Sie töten von Hand und und dennoch aus sicherer Entfernung und haben mit ihren Nachtsichtgeräten, Schalldämpfern, Hochsitzen und Präzisionswaffen stets die waffentechnische und militärlogistische Überlegenheit.« Pragen versicherte sich Heinrichs Aufmerksamkeit, bevor er fortfuhr.
»Die Jäger sind nur ein kleiner Personenkreis, wenn man ihn an der gesamten Bevölkerung misst, aber sie überziehen das gesamte Land mit einem feinmaschigen Netz. Jeder Friedhof, jeder Park, jedes Ackerland, jeder Wald, jeder Landstrich, jeder Grenzstreifen ist erklärtes Jagdgebiet. Jäger können ganze Areale absperren und für die Öffentlichkeit unzugänglich machen, während für sie selbst noch nicht einmal die Grenzen privater Grundstücke gelten. Selbst Landesgrenzen verschwimmen, wenn in den Stunden zwischen Mitternacht und Morgengrauen Jäger auf der Suche nach Beute die Sümpfe, Wälder, Flussböschungen, Wiesen, Hügel und Gebirge durchstreifen.«
Pragen ballte beide Hände zu Fäusten und bewegte sie aufeinander zu: »Wenn sich nachts zwei Jäger im unwegsamen Grenzland zwischen Deutschland und Polen oder Litauen und Lettland treffen, sind die Grenzen aufgehoben. Informationen werden weitergegeben, Waren wechseln den Besitzer und Bürger die Fahne. Die Säcke voller Futter, die sie im Winter in den Wald hineintragen, um die Tiere zu füttern, und die abgezogenen Häute und blutlosen Tierkadaver, die sie von ihren Exkursionen zurückbringen, wer schaut da schon genau hin?«
Pragen ließ die Fäuste sinken: »Und das ist nur das geografische Netz. Wenn man bedenkt, dass die Jagd für die meisten nur ein Hobby ist, wird einem sehr schnell klar, dass sich das Netz durch die Berufe und familiären Verbindungen der Jäger auch vertikal ausdehnt, vom Handwerker bis zum Priester, vom Altadel bis hin zum modernen Kapitaladel mit weitreichendem Einfluss auf das politische und gesellschaftliche Geschehen. Dieses Netzwerk durchbricht nicht nur Landesgrenzen und den Eisernen Vorhang, sondern es verbindet auch die Küsten aller Inseln und Kontinente miteinander, denn Fischer und Walfänger sind die Jäger der Meere.«
»Und Du glaubst, Meissmann ist Teil dieses Netzwerks?«, fragte Heinrich ungläubig.
»Sein Institut liegt tief im Wald, und zwar an einem Ort, der sich von Deutschland politisch noch weiter entfernt befindet als geografisch. Ich halte es für eine Möglichkeit, dass er sich dieses Netzwerks bedient, um sein Institut trotz dieser schwierigen Logistik am Laufen und zugleich geheim zu halten.«
Heinrich dachte nach. »Dann gehen die Verbrechen, die Wilhelm vorgeworfen werden, in Wirklichkeit auf die Kappe der Jäger?«
Pragen wollte sich jedoch nicht festlegen. Er machte eine vage Handbewegung. »Wir suchen einen Mörder, sind uns aber einig, dass eine solch kaltblütige Tat nicht zu Wilhelm, unserer derzeit einzigen Verdachtsperson, passt. Es fehlt auch ein Motiv. Jäger hingegen brauchen kein Motiv und ihre Kaltblütigkeit ist offensichtlich, wenn man sich vor Augen hält, wie sie mit ihren Gewehrkolben den Tieren die Schädel zertrümmern, um Munition zu sparen, wie sie sich das Blut ihrer Opfer ins Gesicht schmieren, um ihren Sieg zu feiern, und wie sie sich mit zynischen Spottreimen und Liedern über den Tod und das Töten lustig machen. Solche Menschen brauchen nur einen Auftrag und die nötige Rückendeckung, um diesen unentdeckt erledigen zu können.«
»Und Meissmann ist der Auftraggeber? Aber wie?«
»Du darfst Dir die Jäger nicht wie einen einfachen Verein vorstellen. Stell es Dir lieber vor wie beim Freischütz.«
»Die Geschichte von dem Jäger, der sich nachts in eine dunkle Schlucht schleicht, um gemeinsam mit dem Teufel Freikugeln zu schmieden?«
Auf Pragens Nicken hin fuhr Heinrich fort: »Die Kugeln sind verzaubert und treffen jedes auch noch so unsichere Ziel, einige davon sind jedoch verflucht und werden von der Hand des Teufels gelenkt. Das ist eine Gespenstergeschichte, die man sich nachts am Lagerfeuer erzählt.«
»Keine gute Gruselgeschichte ohne einen Funken Wahrheit.«
»Du meinst, die Geschichte beruht auf wahren Begebenheiten?«
»Ob sich die Tragödie vor zweihundert Jahren wirklich auf diese oder ähnliche Weise zugetragen hat, weiß ich nicht. Vielleicht ist sie auch erfunden, aber sie inspiriert. Man kann sie auch als Anleitung verwenden, um Menschen zu manipulieren. Sämtliche im Freischütz erwähnten Strategien, um einen Menschen abhängig und gefügig zu machen, haben wir auf dem Grünten in vollendeter Praxis gesehen: Zuckerbrot und Peitsche, Drohungen und Versprechungen, Lob und Erpressung, Gewähren und Fordern, heiliger Zweck und unheilige Mittel. ›Sechzig treffen, drei äffen‹, heißt es über die Freikugeln in der Geschichte. Sechzig Gefallen im Gegenwert für drei Gegenleistungen.«
»Zwanzig zu eins. Klingt nach einem guten Deal.« Heinrich versuchte, Pragens Ernst zu durchbrechen.
»Eine Gegenleistung, die zwanzig Gefallen aufwiegt, muss natürlich ein entsprechendes Gewicht aufweisen«, erklärte Pragen ungerührt: »Kommt ein Jäger in Konflikt mit der Polizei, den Behörden oder der Justiz, kann er seine Freikugeln einsetzen, um sich von den anderen Logenmitgliedern aus der Bredouille helfen zu lassen. Aber die letzten drei Kugeln sind kein gelöschtes Strafdelikt, kein Universitätsplatz und keine günstigen Konditionen beim Erwerb eines Luxusmodells einer teuren Automarke. Die letzten drei Kugeln entscheiden über Leben und Tod. Sechzig treffen, drei äffen.«
»Wie kommst Du darauf?« Diese Art Gespenstergeschichten war Heinrich von Pragen nicht gewohnt.
Pragen richtete sich auf und wandte sich Heinrich zu. Obwohl der Oberstleutnant kleiner war als Heinrich, sah er nun von oben auf ihn hinab: »Seit Jahren sammle ich Informationen über die Jäger. Über ihre Lobby, ihre Loge, ihre Handlanger. Ich verfolge ihr Netzwerk, trage Indizien und Beweise für ihre Machenschaften zusammen und hefte mich dabei an jede noch so dünne Spur.«
Heinrich schaute zum Institut hinüber. Die beiden uniformierten Polizisten saßen in ihrem Auto. Der Ermittlungsleiter stand daneben und sah zu, wie der Kran ausgefahren wurde. Zwei Männer mit Schildkappen und ärmellosen Westen hasteten zu dem Wagen, der am weitesten vorgefahren war, stiegen ein und setzten zurück.
Erst als die weißen Rückfahrlichter aufleuchteten, bemerkte Heinrich den Aufkleber auf der Heckklappe des Wagens. Er zeigte den Schädel eines Hirschs. Der Schädelknochen war weiß, die leeren Augenhöhlen, Nüstern und das Geweih schwarz.
Da die Polizeiautos den Hauptweg blockierten, preschte der Wagen im Rückwärtsgang über die unebene und mit hohem Gras bewachsene Wiese. Das Auto war für holpriges Terrain und enge Wege geschaffen. Die Reifen hatten ein grobes Profil und die Karosserie thronte hoch über dem Boden. Das Auto manövrierte in einem engen Radius, aber mit einem zackigen Tempo und blieb schließlich abrupt stehen. Die beiden Männer stiegen aus und liefen wieder ein Stück Richtung Kran.
Heinrich fragte sich, ob die beiden Jäger waren, und schaute zu Pragen hinüber, der jedoch ebenfalls die Vorgänge vor dem Institut beobachtete. Vermutlich dachte er über Meissmann nach. Und vielleicht dachte Meissmann gerade an Pragen. Die Feindschaft zwischen dem Oberstarzt und dem Leiter der Münchner Geheimdienststelle war kein Geheimnis, aber ein Mysterium.
Meissmann füllte in Pragens Büro ein ganzes Regal und Meissmann ließ keine Gelegenheit aus, Pragen einen Seitenhieb zu verpassen. Beim letzten Schlagabtausch zwischen den beiden hatte Heinrich die Kollateralschäden davongetragen. Bis heute war er sich nicht sicher, ob Pragen den Zwischenfall provoziert und sein Unglück in Kauf genommen hatte.
Dieser Zweifel nagte an ihm. Genauso wie der Verdacht, dass Pragen damals in Oberstdorf eine Nachricht für ihn unterschlagen hatte. Heinrich überlegte, ob er die im Tagebuch angedeutete Nachricht ansprechen sollte, als Pragen seinen Blick von dem langsam in Schwingung versetzten Pendel am Ende des weit ausgefahrenen Krans löste.
»Glaube mir«, sagte Pragen: »Ich wünschte, die Freikugeln wären reiner Aberglauben, aber die Geschichte dieses Instituts von seiner Gründung bis zu seinem tragischen Ende, das wir hier vor uns sehen, bestärkt meine Bedenken. ›Institut für Geist und Leben‹«, las er vor. Seine Augen waren nun wieder auf das Institut und die Abrissarbeiten gerichtet: »Erschreckend, dass Wilhelm hier geboren und aufgewachsen ist. Monatelang allein, bis Meissmann ein neues Projekt finanziert bekam und für ein paar Wochen oder Monate mit seinem Mitarbeiterstab vor Ort war, um seinen Forschungen nachzugehen oder publizistisch tätig zu sein.«
Heinrich zuckte zusammen und schaute zum Institut hinüber. Die Abrisskugel schlackerte an der Kette. Bei dem Gedanken an den kleinen Jungen, der Wilhelm so ähnlich gesehen hatte, schnürte sich Heinrich die Kehle zu. Trotz den Schlackerns schlug das Pendel nun langsam immer weiter aus. Heinrich schluckte.
Pragen beobachtete gebannt das Pendel. Er schien den Moment, wo die Kugel auf die Mauer traf, nicht verpassen zu wollen. »Es tut mir leid, dass Wilhelm mich bis zuletzt als seinen Feind betrachtet hat. Er hat mir immer imponiert und ich fand ihn sympathisch. Seit ich aus seiner Akte erfahren hatte, dass er wie ich in einem Waisenhaus aufgewachsen war, habe ich in ihm zudem einen Artverwandten gesehen. Doch nun stellt sich heraus, dass das Waisenhaus nur ein Teil der Wahrheit ist und von der wahren Tragik seiner Herkunft ablenken sollte.«
Heinrich schüttelte den Kopf, als könnte das etwas an den Worten ändern, die er gerade gehört hatte. Er erinnerte sich an den Jungen. Er hatte Wilhelm nicht nur im Aussehen geglichen, sondern auch in seiner Art. Diese aufgeweckte und doch besonnene Redeweise. Die zur Schau getragene Tapferkeit und der heimliche Wunsch zu gefallen. »Wilhelm«, flüsterte Heinrich und dann kam der Schlag.
Eine Welle ging durch den Boden und Heinrich spürte die Vibration, aber der Schaden, den die Kugel an der Hauswand angerichtet hatte, war kaum nennenswert. Die Mauer hatte die Kugel einfach aufgefangen und gebremst. Nun musste das Pendel erneut in Schwingung versetzt werden.
Pragen schaute auf. Er hatte offenbar auch mehr erwartet als einen dumpfen Aufprall. Als er jedoch Heinrichs entsetzten Blick sah, dachte er kurz nach und fragte dann verwundert: »Du hast das nicht gewusst?«
Heinrich schüttelte den Kopf.
Pragen runzelte die Stirn: »Du hast das Tagebuch nicht gelesen?«
»Nur die ersten Seiten.« Heinrich versuchte, sich die zurückliegende Nacht in allen Details ins Gedächtnis zu rufen.
»Nur die ersten Seiten? Das Tagebuch ist nun seit–«, Pragen dachte kurz nach: »–über achtundvierzig Stunden in Deinem Besitz. Ich hatte damit gerechnet, dass Du es mehrfach durchgelesen hast, bis wir uns wiedersehen, und ich hatte angenommen, dass Dich das Tagebuch hierhergeführt hat.«
Heinrich erwiderte nichts. Er dachte an die Verletzungen, die der Junge zeitweise gehabt hatte und die er sich nicht hatte anmerken lassen. Er erinnerte sich, wie beiläufig der Junge von seiner toten Mutter gesprochen hatte. Die Frau, die nicht gestorben war, sondern einfach immer schon tot gewesen war. Genauso beiläufig hatte der Junge erwähnt, dass der Turm – zing, bumm – jederzeit in die Luft fliegen konnte. Heinrich zuckte erneut zusammen, als er vor seinen Augen sah, wie der Junge in dem aus der Decke sprudelnden Wasser ertrank. Er hatte Wilhelm ertrinken lassen.
»Was ist mit Dir?« Pragen klang besorgt.
Heinrich fragte sich, wie lange der Junge in diesem Institut festgehalten worden war. Manchmal hatte er gewirkt, als hätte er gerade das Kindergartenalter erreicht – zing, bumm. Dann hatte er Meissmann Grundschülerstreiche gespielt, indem er Strichzeichnungen auf die Microfilme gezeichnet hatte, um sie mit der Vorspultaste, wie ein Daumenkino ablaufen zu lassen. Als er über Meissmanns Forschungsprojekte gesprochen hatte, die Adamsakten, wie alt mochte er da gewesen sein? Vielleicht zwölf oder dreizehn?
»Du siehst aus, als hättest Du ein Gespenst gesehen.«
»Alles gut«, sagte Heinrich, als ein erneuter Schlag die Erde erzittern ließ. Er tastete nach dem braunen Päckchen in seiner Tasche. Er wusste, dass er dringend weiterlesen musste, aber er war sich nicht sicher, ob er den Enthüllungen gewachsen war.
Er traute sich nicht mehr, zur Ruine zu schauen, aus Angst, dass der Kobold von einem der Zimmer zu ihm herabspähen könnte. Nein, nicht der Kobold. Wilhelm.
»Wilhelm. Wilhelm. Wilhelm«, hämmerte es in Heinrichs Kopf und zwischendurch: »Luise«, und dann wieder: »Wilhelm.« Er wandte sich von Pragen ab und presste seine Stirn an das kalte Glas der Autoscheibe neben ihm, um die Stimme in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Er hatte den Jungen ertrinken lassen, so wie er zuvor Luise und Wilhelm hatte ertrinken lassen.
Als ihm sein Spielgelbild vorwurfsvoll aus dem Seitenspiegel entgegenstarrte, schloss er die Augen. Der Trost, den ihm die Dunkelheit hinter seinen Augen spendete, hielt jedoch nicht lange an. Es dauerte keinen Atemzug, bis die ersten Bilder vor seinem inneren Augen auftauchten. Er sah Wasser überall Wasser, dann schneebedeckte Berge und schließlich verbrannte Mauerreste und er fühlte, wie ihm die Hand des kleinen Jungen entglitt. Als hätte er es nicht schon unzählige Male getan, sprang er in Gedanken zurück zu dem Tag, an dem er Wilhelms Hand losgelassen hatte.
Der 24. August war einer jener Tage gewesen, die rückbetrachtet viel zu gewöhnlich begannen, um in einer solchen Katastrophe zu enden. Manche Menschen hatten einen Gefahreninstinkt oder behaupteten es zumindest. Heinrich hatte keinen, und würde er es behaupten, würde ihm niemand glauben. Er hatte an jenem Morgen nicht nur den Wecker überhört, sondern auch Wilhelms Rufe und war erst aufgewacht, als Wilhelm erst das Fenster und dann die Klappläden aufgestoßen hatte, um etwas Licht und die wohltuend frische, aber beißend kalte Mittenwalder Morgenluft ins Zimmer zu lassen.
Heinrich zog die Decke bis zum Kinn hoch und hielt seine Hand schützend über die Augen. Wilhelm war in dem plötzlich viel zu hellen Raum nur als dunkler Schatten zu erkennen.
»Wenn Du nicht in zehn Minuten marschbereit bist«, hörte Heinrich den Schatten sagen, »werde ich Dich nicht fahren können. Dann musst Du den Zug nehmen und wirst, selbst wenn Du in München ein Taxi nimmst, zu spät zum Dienst kommen. Du hast die Wahl.«
Heinrich entschied sich für die bequemere Option. Zehn Minuten waren reichlich. Da war sogar noch eine ausgiebige Dusche drin. Als er jedoch etwa acht Minuten später, mit nassen Haaren, aufgeknöpftem Hemd und lose umgehängter Krawatte nach unten stürmen wollte, um Wilhelm nicht warten zu lassen, sah er plötzlich Wilhelm im Türrahmen zum Raum neben dem Arbeitszimmer stehen. Nachdenklich schaute er in das leere Zimmer.
Das Haus war zu groß für die beiden, weswegen zwei Räume, ein kleiner direkt neben dem Arbeitszimmer und ein großer, der das ganze Dachgeschoss einnahm, leer standen. Sie waren zwar tapeziert und mit Teppichboden ausgelegt und in jedem der beiden Geisterräume standen ein Bett, ein Nachttisch und eine Kommode, aber die Schränke waren leer und die Betten ungenutzt.
»Was ist?«, hatte Heinrich gefragt, aber sich nichts weiter dabei gedacht, als Wilhelm nicht antwortete, sondern schweigsam hinter Heinrich zum Auto gestürmt war. Vielleicht hatte er da Wilhelms Hand bereits losgelassen.
Die Fahrt bis zu Heinrichs Dienststelle dauerte anderthalb Stunden. Zeit genug, das Hemd zuzuknöpfen, die Krawatte zu binden und sich über das Frühstück herzumachen, das Wilhelm für Heinrich auf den Beifahrersitz gelegt hatte, in bunte Papierservietten gewickelte Erdnussbutterbrote und eine Dose Limonade.
Erst als der Wagen vor den großen Eisentoren der Münchner Büros anhielt, brach Heinrich in Hektik aus. Er schaute zuerst auf die Uhr, dann in den Spiegel und fragte Wilhelm nach einem Kamm. Da Wilhelm jedoch ebensowenig einen Kamm bei sich zu tragen pflegte wie Heinrich, strich sich Heinrich ein paar Mal über die Haare, schaute erneut in den Spiegel und seufzte. Dann fegte er die Brotkrümel von seinem Anzug, zog sein Hemd und seine Krawatte glatt, wickelte das letzte Brot wieder in eine Papierserviette und steckte es in die Tasche.
Nachdem sie hastig die üblichen Verabredungen für den Abend getroffen hatten – anrufen, vielleicht treffen, aber auf jeden Fall anrufen –, leitete Heinrich das offizielle Ende des Abschiedsrituals ein: »Sehe ich gut aus?«, fragte er und Wilhelm antwortete gemäß der Liturgie: »Blendend«, und blies ein imaginäres Staubkorn von Heinrichs Hemdkragen. Manchmal rückte er auch Heinrichs Krawatte zurecht oder stricht ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht, aber am 24. August war es das imaginäre Staubkorn gewesen. Oder?
Heinrich war ins Dienstgebäude gehastet, hatte die elektrische Schranke passiert und war mit dem Fahrstuhl ins dritte Stockwerk gefahren. Nach vierzehn Stunden Dienst dann das Ganze retour mit dem Unterschied, dass er nicht nach Mittenwald zurückkehrte, sondern in München blieb.
In seinem Apartment im Feldwebelheim hatte er sich zwar noch eine Dose Limonade aus dem Kühlschrank genommen und eine Schallplatte aufgelegt, war jedoch eingeschlafen, bevor er die Dose ausgetrunken und die Platte ihr letztes Lied gespielt hatte.
Als er wieder aufgewacht war, war es dunkel und still. Nur vom Plattenspieler war noch ein sanftes Leuchten zu sehen gewesen, und wenn er ganz genau hinhörte, konnte er die letzten Luftblasen in der Limonade aufsteigen hören.
Es war mitten in der Nacht. Kurz vor zwei, sagte die Uhr. Er hatte erwartet, dass ihn ein Anruf von Wilhelm aufwecken würde, aber das Telefon hatte nicht geklingelt. Es stand direkt vor ihm auf dem Tisch. Auch der Anrufbeantworter signalisierte keine eingehenden Nachrichten. Heinrich machte sich keine Sorgen. Es kam vor, dass Wilhelm nicht anrufen konnte. Dennoch griff er zum Hörer und wählte die Mittenwalder Nummer.
Nach drei Klingeltönen kam die Bandansage, dann der Piepton und Rauschen. Da Heinrich nichts sagte, trennte der Anrufbeantwortet die Verbindung nach wenigen Sekunden. Heinrich legte auf. Wenn Wilhelm zu Hause war, würde er sicher zurückrufen.
Er hing seinen Anzug auf einen Bügel, putzte seine Zähne, prüfte, ob er den Hörer richtig aufgelegt hatte, und kroch ins Bett, wo er sich jedoch nur von einer Seite auf die andere drehte, bis er es schließlich aufgab und sich genervt aufsetzte.
Das kleine Lämpchen am Schallplattenspieler leuchtete noch immer. Heinrich stand auf, um den Plattenspieler auszuschalten, legte sich wieder hin und begann das Spiel erneut. Er drehte sich von links nach rechts und wieder zurück, streckte einen Fuß unter der Decke hervor und zog ihn wieder zurück, schob das Kopfkissen zur Seite, weil es unbequem war, und stopfte sich einen Zipfel der Decke unter den Kopf, weil es ganz ohne Kissen noch unbequemer war.
Dieses Hin und Her wiederholte er ein paar Mal, bis er schließlich aufstand, sich anzog, seine Tasche schnappte und nach Mittenwald fuhr. Obwohl am nächsten Tag ein Werktag war, hatte er dienstfrei und würde ausschlafen können.
Er hatte es genossen, mitten in der Nacht auf menschenleeren Straßen Richtung Berge zu fahren, die Lichter und die Betriebsamkeit der Großstadt hinter sich zu lassen und ohne Plan einfach abzuwarten, was der nächste Tag bringen würde.
Erst später würde er erfahren, dass nur wenige Minuten, nachdem er seine Wohnung im Feldwebelwohnheim verlassen hatte, dort das Telefon klingelte. Der Anrufer versuchte es dreimal, sprach jedoch nicht auf den Anrufbeantworter. Wie die Kriminalpolizei später feststellte, waren diese Anrufe von einem Münztelefon am südlichen Ausläufer des Odenwalds getätigt worden. Das Gleiche galt für die drei Anrufe, die der Anrufbeantworter ihrem Haus in Mittenwald kurz darauf entgegennahm. Wieder wurden keine Nachrichten hinterlassen. Weitere drei Anrufe führten zu Falks neuer Wohnung am Stadtrand von Mittenwald.
Obwohl er die Renovierung seiner neuen Wohnung noch nicht abgeschlossen hatte, übernachtete Falk dort manchmal zwischen Werkzeugkisten, Holzleisten und Tapetenrollen und hatte beim Schlafen den Duft von Farbe und Leim in der Nase. Doch Falks Wohnung stand in jener Nacht leer, da er bei seiner Freundin Anna übernachtete. Ein letzter Anruf führte von der Telefonzelle zu dem Anschluss von Annas Eltern. Dort hatte Wilhelm kurz nach zwei Uhr nachts endlich jemanden erreicht.
Die Nachverfolgung der Anrufe zeichnete ein klares Bild. Wilhelm hatte zunächst versucht, Heinrich zu erreichen. Erst nachdem dieser weder in München noch in Mittenwald ans Telefon gegangen war, hatte er es bei Falk und zu guter Letzt sogar bei Annas Familie probiert.
Das Telefonklingeln hatte alle aus ihren Betten geschreckt. Annas Mutter war im Morgenmantel die Treppen runtergerannt und hatte den Hörer abgenommen, während Annas Vater oben am Treppenabsatz stehengeblieben war und Falk und Anna die Tür zu ihrem Zimmer nur einen Spaltbreit geöffnet und gelauscht hatten.
Kaum hatte Annas Mutter den Telefonhörer in der Hand, hörte man ihre zornige Stimme durchs ganze Haus schallen. Annas Eltern waren es leid, mitten in der Nacht Telefonanrufe von Falks Freunden entgegenzunehmen. Meistens waren sie betrunken oder hatten sich anderweitig in eine prekäre Lage gebracht.
In jener Nacht war es Wilhelm gewesen, der Falks Hilfe brauchte. Als Falk aus dem Gezeter heraushörte, um wen es ging, war er in Pyjamahosen und barfuß zum Telefon gesprungen und hatte Annas Mutter den Hörer aus der Hand gerissen.
Der Polizei gegenüber hatte Annas Mutter später zu Protokoll gegeben, dass Wilhelm ihr nicht hatte sagen wollen, wo er steckte und um was es ging. Diese Heimlichtuerei habe sie misstrauisch gemacht und ihre wegen der nächtlichen Störung ohnehin schlechte Laune nicht gerade verbessert.
Was während des ungefähr zweiminütigen Telefonats zwischen Falk und Wilhelm genau gesprochen wurde, hatte bisher noch nicht vollständig rekonstruiert werden können, da Falk sehr wortkarg gewesen war und nur ein paar Seufzer und Brummlaute in die Sprechmuschel geraunt hatte. Nach dem Gespräch war er dann Hals über Kopf aufgebrochen, ohne jemandem sein Ziel mitzuteilen. Er hatte Anna nur versichert, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauche. Er käme bald zurück und würde dann alles erklären können.
Was danach bis zu Falks Sturz am Paischenhang geschah, hatten sich die Fallermittler der Kriminalpolizei und des Militärischen Abschirmdienstes mühsam aus den Spuren, die Falk ihnen hinterlassen hatte, und aus Streflers verwirrender Aussage zusammenreimen müssen. Falk hatte sich während des Telefonats hastig ein paar Stichworte aufnotiert, die später von der Spurensicherung gefunden wurden. Diesen Notizen zufolge hatte Wilhelm Falk um einige Besorgungen aus seiner Wohnung gebeten und sich mit ihm an einer ›Mine‹ verabredet, die unweit einer alten ›Römerstraße‹ lag. Römerstraßen und Minen gab es in Deutschland zwar zuhauf, doch war aufgrund der Anrufrückverfolgung die richtige Adresse rasch ausgemacht: ein über vierhundert Kilometer nordwestlich von Mittenwald gelegener Steinbruch. Falk musste über vier Stunden unterwegs gewesen sein, um Wilhelm dort treffen zu können. Die Reifenspuren und Schuhabdrücke im Schotter der alten Tagebaumine am Fuße des Odenwälder Hirschbergs bestätigten diese Vermutung.
Zuvor hatte sich Falk über Terrassentür Zugang zu Wilhelms und Heinrichs Haus auf dem Mittenwalder Kapitol verschafft und Wilhelms Notebook und Papiere sowie Kleidung und Kletterzeug mitgehen lassen. Man fand die Abdrücke seiner Bergstiefel auf dem Wohnzimmerparkett, auf den Fliesen von Küche und Flur sowie auf dem Teppichboden in den oberen Stockwerken. Auch Fingerabdrücke hatte er überall hinterlassen. Sie hafteten an Türklinken, Schränken und Vitrinen sowie an Wilhelms Schreibtisch und an der Kiste, in der seine Felsausrüstung verstaut war. Falk hatte offenbar eilig die Gegenstände auf der Liste zusammengesucht, um möglichst schnell die vierstündige Autofahrt zu den Minen antreten zu können, wo er Wilhelm treffen sollte.
Ein letzter Anruf von Falk, der Kilometerstand seines Wagens, die Registrierung seines Nummernschilds an einer Tankstelle, die Belastung seines Girokontos bis zum Tageslimit und Spuren von Autoreifen und Bergstiefeln nahe der tschechischen Grenze erzählten den weiteren Verlauf des Tages nach seinem Zusammentreffen mit Wilhelm: Um acht Uhr hatte sich Falk bei seiner Einheit gemeldet, um sich für den Tag dienstfrei zu nehmen. Nach dem Telefonat waren die beiden auf einer fast schnurgeraden Linie vom Westen der Bundesrepublik Richtung Osten gefahren. Unterwegs hatte Falk an einer Autobahnraststätte Halt gemacht, um den Wagen aufzutanken und eine stattliche Summe von seinem Konto abzuheben, die er vermutlich Wilhelm überließ. Nachdem Falk seit zwei Uhr nachts auf den Beinen war, erreichte er am frühen Nachmittag zusammen mit Wilhelm eine kleines Dorf nahe der tschechischen Grenze. Dort verließen sie die Hauptstraße und fuhren auf holprigen Feldwegen und schmalen Waldwegen weiter. Im matschigen Erdprofil der teilweise unbefestigten Wege waren ihre Spuren leicht zu verfolgen.
Kurz vor der Grenze hatten sie haltgemacht und sich nach der langen Autofahrt die Beine vertreten. Neben den Reifenspuren führte ein frischer Trampelpfad durch das Unkraut entlang einer Wegböschung auf eine unbewirtschaftete Wiese mit hohen Gräsern, Wildkräutern und Spätsommerblüten. Hier trennten sich ihre Wege. Falk ging zum Wagen zurück, wendete umständlich auf dem engen Waldweg und fuhr ohne Umwege nach Mittenwald zurück, während Wilhelm zu Fuß Richtung Osten weiterzog. Seine Spur verlief mit großer Schrittweite und tiefen Abdrücken quer über Wiesen und Felder und verlor sich bald im grünen Dickicht des Grenzwaldes zwischen Deutschland und Tschechien – ein Gebirgsjäger auf einem Leistungsmarsch. Er war vermutlich noch nicht einmal eine halbe Stunde unterwegs gewesen, bis er die nächste größere Stadt auf tschechischem Boden erreicht hatte.
Es war den Ermittlern der Polizei noch immer ein großes Rätsel, wie es Wilhelm innerhalb von zwei Wochen gelungen war, sich ohne die üblichen Kontrollpunkte zu passieren bis nach Lettland durchzuschlagen, dort Meissmanns Institut anzuzünden, um danach erneut von der Bildfläche zu verschwinden und bis heute nicht mehr aufzutauchen
Pragen hingegen hatte dafür eine einfache Erklärung: »Dafür wurde er ausgebildet. Selbst wenn er zu Fuß unterwegs ist, kann er inzwischen praktisch überall sein.« Als er in die ungerührten Minen seiner Kollegen von der internationalen Ermittlungskommission blickte, wurde er präziser: »Mit überall meine ich tatsächlich überall: Lappland, Moskau oder das Schwarze Meer.« Er zeigte auf einer Karte erst nach Norden, dann nach Osten und schließlich Süden Europas und erinnerte die Kommission daran, dass die Bundeswehr nach einem Soldaten suchte, der den Leistungsmarsch von Zermatt nach Verbier innerhalb von sechs Stunden bewältigte und sich für die Besteigung der Eiger-Nordwand nur einen halben Tag freizunehmen brauchte.
Wilhelm war in Einzelkampf- und Überlebenstechniken ausgebildet und selbst Ausbilder für Tarnung und Fortbewegung in unwegsamem und unwirtlichem Gelände. Laut Truppenbericht galt er als genügsam. Trotz karger Mahlzeiten bei gleichzeitigen körperlichen Strapazen, schlief er nicht mehr als sechs Stunden. »Ein Gebiet von vierzig Marschkilometern pro Tag wäre ja fast noch überschaubar, aber«, gab Pragen zu bedenken, »sobald er auf einem Schiff anheuert, das es mit den Personalien seiner Mitarbeiter nicht so genau nimmt, von einem Lastwagenfahrer mitgenommen wird, der einem sympathischen Anhalter über die Grenze hilft, oder sich unter die Reisenden der Transsibirischen Eisenbahn mischt,–« Pragen brach ab, schaute nachdenklich auf die Karte und breitete schließlich seine Arme aus, als wollte er die ganze Welt umarmen. »Dann können wir ihn genauso gut in Brasilien oder Japan suchen.«
Pragen war der Meinung, dass man Wilhelm verstehen musste, bevor man ihn finden konnte, weswegen er sich lieber in Wilhelms Umfeld umschaute, als nach Fingerabdrücken und Fußspuren zu suchen. Die internationale Untersuchungskommission sah zwar ein, dass die Suche nach der Nadel im Heuhaufen wenig Erfolg versprach, doch sie zeigte sich nicht sonderlich motiviert, auf Pragens Ermittlungskurs einzuschwenken.
Für die Letten war der Fall von nachrangigem Interesse und der Ermittlungsarbeit der deutschen Behörden mangelte es nicht nur an Eifer und planvollem Vorgehen, sondern die Schlussfolgerungen schienen oftmals an den Haaren herbeigezogen oder widersprüchlich und nur halb durchdacht. Um seinen Landsleuten nichts Schlimmeres zu unterstellen, musste Pragen davon ausgehen, dass sie einfach träge oder inkompetent oder beides zugleich waren. Dem Militärapparat und den Polizeibehörden war jede Erklärung recht, die sich möglichst schnell und unkompliziert zu den Akten legen ließ: Fahnenflucht, Komplizenschaft, versuchter und vollendeter Mord. Solange Wilhelm verschwunden blieb und Falk nicht aus seinem Koma erwachte, konnten sie den gegen sie erhobenen Anklagepunkten nicht widersprechen.
Pragen befürchtete, dass das ohnehin kaum vorhandene Engagement der Deutschen noch tiefer in den Keller sinken würde, wenn erst einmal der nächste Verfassungsbericht auf dem Tisch lag, der die Sorgen von gestern durch neue Schrecken ersetzte. Dann würden ohnehin die Altlasten unter den Teppich gekehrt, um die Karten neu zu mischen und die Prioritäten neu zu verteilen.
Nur die Briten hatten Pragen angeboten, ihn bei seiner Suche nach tiefer liegenden Wahrheiten zu unterstützen, indem sie versuchten, die vom Feuer zerstörte Festplatte von Wilhelms Laptop wieder lesbar zu machen. Zwei Monate lang hatten die Rechner des britischen Geheimdiensts an der Wiederherstellung der Spuren und Sektoren gearbeitet und schließlich wie ein Archäologe, der unermüdlich tiefer gräbt, bis er etwas findet, Wilhelms Tagebuch freigelegt. Das Tagebuch war für Pragen ein Juwel.
Die Staatsanwaltschaft zeigte sich daran weniger interessiert. Sie wartete darauf, dass Falk aus seinem Koma erwachte. Für sie war er ein Kronzeuge. Sie ging davon aus, dass er Wilhelm zwar geholfen hatte, aber am Ende gegen seinen ehemaligen Zugführer aussagen würde, um seine eigene Haut zu retten. Der junge Oberfeldwebel hatte die Wahl, ins Gefängnis zu gehen oder Hauptmann Fenner, der nicht greifbar war, zum Sündenbock für die Akten zu machen.
Falk war laut aktuellem Aktenstand, nachdem er Wilhelm zur Flucht verholfen hatte, erst am späten Nachmittag nach Mittenwald zurückgekehrt und direkt zu seiner neuen Wohnung gefahren. Obwohl er in der Nacht zuvor nur eine Stunde geschlafen und einen anstrengenden Tag hinter sich hatte, hatte er sich zu Hause jedoch nicht aufs Ohr gelegt, sondern seinen Freund und Kameraden Ferdinand Strefler kontaktiert, um sich mit ihm am Paischenhang zu treffen.
Der verabredete Treffpunkt war ein Ort, den die beiden gut kannten, weil ihn die Mittenwalder Soldaten gerne für ihre Verabredungen nach Dienstschluss nutzten. Er lag abseits der vom Alpenverein für Touristen ausgeschilderten Routen und kaum ein Einheimischer wusste von ihm. Der perfekte Ort zum Feiern.
Falk hatte Strefler am Telefon nicht mitgeteilt, warum er ihn dort treffen wollte und Strefler hatte nicht gefragt, weswegen der Grund für das Treffen noch immer unbekannt war, aber Falk hatte Strefler eingeschärft, dass niemand etwas davon mitbekommen sollte.
Strefler war nicht sofort losgegangen, sondern hatte auf eine günstige Gelegenheit gewartet, seine Kompanie, ohne gesehen oder aufgehalten zu werden, verlassen zu können. Die direkte Route zum Paischenhang erforderte kein großes Geschick oder Ausdauer, aber zimperlich durfte man auch nicht sein. Da Strefler nichts riskieren wollte, nahm er einen Umweg, der sich aus einer anderen Richtung auf weniger steilen Wegen zum Treffpunkt schlängelte. Der Weg wurde auch Versorgungsroute genannt, weil er bei besonderen Anlässen verwendet wurde, um Kisten mit Essen und Getränken auf einem kleinen Karren nach oben zu befördern.
Streflers Abwarten und der längere Weg führten dazu, dass er den Treffpunkt erst bei einsetzender Dunkelheit erreichte und von den beiden Männern, die bereits vor ihm angekommen waren, unentdeckt blieb.
Ab diesem Punkt wurde die Geschichte verwirrend. Zum einen, weil Strefler seine Aussagen ständig revidierte, zum andern, weil sich seine Schilderung der Ereignisse nicht mit den im Zuge der Ermittlungen zutage geförderten Beweisen deckte. Anfangs wollte er Wilhelm gesehen haben, der Falk in die Tiefe stieß. Nachdem jedoch bekannt wurde, dass Wilhelm nie nach Mittenwald zurückgekehrt war, ersetzte er in seiner Erzählung Wilhelm durch einen Fremden und fügte noch einen Schuss hinzu. Da Falks Krankenhausbericht jedoch keine Schusswunde erwähnte, nahm er den Schuss wieder zurück. Er behauptete erst dann wieder, einen Schuss gehört zu haben, als tatsächlich eine Patronenhülse gefunden wurde, die nicht zu einer herkömmlichen Jagdwaffe passte.
Heinrich hatte Strefler die anfängliche und bewiesenermaßen zu Unrecht erfolgte Beschuldigung von Wilhelm nie verziehen. Einen Irrtum ließ er als Ausrede nicht gelten. Selbst wenn er Strefler einräumte, dass seine Augen sich getäuscht hatten, konnte er nicht verstehen, wie Streflers Herz und Verstand Wilhelm in das unklare und unvollständige Bild des Tathergangs einfügen konnten.
Nur eine Sache hatte Strefler in seinen verschiedenen Aussagen niemals geändert: den Grund, warum er erst so spät Hilfe geholt hatte und dadurch eventuell für Falks kritischen Zustand mitverantwortlich war. Er wollte doch nur alles richtig machen, hatte Strefler wie ein Mantra wiederholt. Er wollte dieses Mal doch nur alles richtig machen. Denn vor vier Jahren hatte er alles falsch gemacht. Jedenfalls Wilhelms Meinung nach.
Jeder kannte den Vorfall von vor vier Jahren. Falk und Strefler waren damals als Zweierseilschaft in den verschneiten Bergen ihrer Mittenwalder Zweitheimat unterwegs gewesen, als Falk von einem herabfallenden Gesteinsbrocken getroffen wurde. Sein Helm wendete den schlimmsten Schaden ab, aber der Stein traf ihn mit solcher Wucht, dass er aus der Wand gehauen wurde. Strefler stand noch am Boden und sicherte Falks Vorstieg, doch der Sturz endete noch bevor die Sicherung greifen konnte, da Falk nach ungefähr vier Metern freiem Fall auf einem vorspringenden Felsen aufschlug und sich dabei ein Bein brach.
Falk schrie vor Schmerz und Strefler vor Schreck, als er plötzlich mit einem schlaffen Seil in der Hand dastand. Damals hatte sich Strefler dafür entschieden, Falk allein am Berg zurückzulassen und zur Kaserne zurückzukehren, um Hilfe zu holen. Falk hatte unterdessen auf dem schmalen Sims ausgeharrt und versucht, die Blutung zu stillen, da der gebrochene Beinknochen nicht nur die Haut durchstoßen hatte, sondern dabei größere Gefäße verletzt hatte.
Als der fünfmannstarke Rettungstrupp, der aus drei erfahrenen Bergsteigern, einem Sanitäter und Strefler selbst bestand, Stunden später den verletzten Kameraden vollkommen entkräftet und unterkühlt aus der Wand barg, war Falk kaum ansprechbar. Er hatte viel Blut verloren und stand unter Schock. Als er nach einer medizinischen Erstversorgung transportbereit war, atmeten alle erleichtert auf und klopften Strefler auf die Schulter. Er hatte Falk das Leben gerettet.
Erst als sich Strefler unsicher umblickte, bemerkte er, dass sich eine Person nicht an dem Freudentaumel und Schulterklopfen beteiligt hatte. Der Truppführer, Hauptmann Wilhelm Fenner, hielt mit ernster Miene nach dem Hubschrauber Ausschau, den er per Funk angefordert hatte. Die beiden wechselten keine Blicke. Wilhelm blieb ernst und konzentriert und Strefler versuchte, ihm nicht in die Augen zu schauen.
Als der Hubschrauber schließlich kam und sich einer der Bergretter bereitmachte, gemeinsam mit Falk in den über der Unfallstelle schwebenden Helikopter einzusteigen, klopfte auch Hauptmann Fenner eine Schulter. Er tat dies jedoch nicht wörtlich und es war nicht Streflers Schulter, die er klopfte. Nachdem der Verletzte und sein Begleiter die Sicherheitsgurte angelegt und sich in die Seilwinde, die sie nach oben ziehen würde, eingeklinkt hatten, überprüfte Wilhelm die Gurte und Karabiner und gab dem Bergretter ein Handzeichen: Alles paletti.
Das Handzeichen war nichts Besonderes. Es gehörte zum Protokoll, die Sicherheitsgurte seines Kletterpartners zu überprüfen und entsprechend Meldung zu machen, aber in Wilhelms Gesicht zeigte sich zum ersten Mal seit Beginn der Rettungsaktion eine Gefühlsregung: Stolz. Er war stolz auf den Unteroffizier aus seinem Zug, der mit flinken und sicheren Händen die Gurte angelegt hatte und der gleich ein schwieriges Manöver durchführen würde: mit einer verletzten Person in einen fliegenden Hubschrauber einsteigen. In Wilhelms Blick lag Anerkennung und Erwartung. Er wusste, dass er sich auf den Unteroffizier verlassen konnte. Er war gut ausgebildet und erledigte die Aufgabe mit Professionalität und dem gebotenen Ernst.
Als sich Wilhelm umdrehte, um seinen Rucksack aufzuheben und nach einem Schluck aus seiner Feldflasche den Rettungstrupp ins Tal zurückzuführen, schaute Strefler auf den Boden, um seinen Neid zu verbergen. Er wünschte, er hätte Wilhelm Fenners anerkennenden Blick verdient. Er wünschte, er säße im Hubschrauber, der seinen Freund ins Krankenhaus flog. Er wünschte, er hätte alles richtig gemacht.
Auf dem Rückweg hielt Strefler es schließlich nicht mehr aus. Er rannte an seinen Kameraden vorbei an die Spitze des Zugs und raunte Hauptmann Fenner eine Entschuldigung zu. Seine Stimme war jedoch so leise, dass Wilhelm ihn nicht verstand. Er blieb abrupt stehen und drehte sich mit fragender Miene nach Strefler um. Der ganze Zug kam ins Stocken und alle Augen waren auf Strefler gerichtet, als er seine Entschuldigung laut und deutlich wiederholte.
Einer der anderen Retter wollte Strefler beruhigen, indem er eine Mitschuld bei Falk suchte, doch Wilhelm schnitt ihm das Wort ab. Falk habe einiges falsch gemacht, räumte Wilhelm ein. Falk hatte die erhöhte Steinschlagwarnung für das Gebiet missachtet, die Sicherungen mit zu großen Abständen gesetzt und einen Kletterpartner gewählt, dessen Fähigkeiten nicht dem Schwierigkeitsgrad des Geländes und den besonderen Erfordernissen der Tour entsprachen. Das relativiere oder schmälere jedoch nicht Streflers Schuld. An Strefler gewandt fügte Wilhelm hinzu: »Du musst Dich nicht bei mir entschuldigen, sondern bei Falk. Und wenn Du es tust, wisse wofür.«
Strefler hatte lange Zeit über seine Schuld nachgedacht und war zunächst zu dem Schluss gekommen, dass er hätte seine Angst überwinden und erste Hilfe leisten müssen, hatte dann aber erkannt, dass seine Schuld woanders lag. Er war nie ein echter Bergsteiger gewesen, denn er hatte stets aufgegeben, wenn es anstrengend wurde. Vom theoretischen Teil des Handwerks hatte er nur so viel gelernt, wie man wissen musste, um die gelegentlichen Quizfragen der Gruppen- und Zugführer zu beantworten und in der Praxis hatte er sich immer auf andere verlassen. Falk hatte Streflers Entschuldigung zwar mit einem albernen ‘Joho, nächstes Mal sind wir schlauer’ beiseite gewischt, aber Strefler hatte sein Versagen nicht so leicht genommen und deswegen am Paischenhang alles daran gesetzt, seinen Fehler von damals wiedergutzumachen.
Diese alte Geschichte ging Strefler noch immer nach, als er sich vier Jahre später am Paischenhang zwang, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er musste seine Furcht überwinden und beweisen, dass er dazugelernt hatte. Wilhelm durfte keinen Fehler gemacht haben, ihn aufs Falks Fürsprache hin trotz Bedenken in seine Stabsabteilung aufzunehmen.
Strefler erreichte den Rand der Schlucht mit weichen Beinen und lugte vorsichtig nach unten. Da er jedoch keine Spur von Falk sah und sich aus Angst, der Angreifer könnte ihn hören, nicht zu rufen traute, gab er sich schließlich einen Ruck und kletterte nach unten.
Der Hang war an dieser Stelle nicht als Kletterroute freigegeben und die Naturschützer sahen es nicht gerne, wenn man abseits der vereinbarten Pfade durch die Wildnis pflügte. Strefler sagte sich jedoch, dass es ein Notfall war, und er wusste, dass auch Falk diesen Weg aller Verbote zum Trotz manchmal als Abkürzung benutzte.
Die Route war jedoch tückisch. Fels und Baumwurzeln wechselten einander ab. Die runden Felsausformungen boten kaum Möglichkeiten sich festzuhalten und die Wurzeln waren glitschig und gaben nach. Die Dunkelheit trug ein Übriges dazu bei, den Abstieg zu erschweren. Als Strefler schließlich abrutschte und sich nur mit Mühe wieder fing, wurde seine Furcht so groß, dass plötzlich alles um ihn herum schwarz wurde und sich sein Körper weigerte, auch nur einen einzigen Muskel zu bewegen. Er war gelähmt und blind und atmete wie nach einem Hundertmetersprint.
Die Lähmung und das panische Ringen um Atem hörten erst auf, nachdem sich Streflers Körper so sehr verausgabt hatte, dass er gerade noch die Energie aufbringen konnte, die für die lebenswichtigen Funktionen nötig war. Vollkommen erschöpft fiel Strefler in einen komatösen Schlaf, aus dem er erst Stunden später erwachte. Er fror, hatte Hunger und Durst und fühlte am ganzen Körper Schmerzen, aber er atmete ruhig und die Müdigkeit war einer noch nie dagewesenen Klarheit gewichen.
Er erinnerte sich an die kleine Taschenlampe an seinem Schlüsselbund. Sie war zwar zu schwach um ein Notsignal zu senden, leuchtete aber hell genug, um die nächste Umgebung zu erkennen. Nachdem er sich aufgerichtet hatte, rief er nach Falk, und kletterte, als er keine Antwort erhielt, langsam und vorsichtig tiefer in die Schlucht. In kleinen Etappen arbeitete er sich am Berg entlang so, wie er es gelernt und hundertfach geübt hatte.
Er hatte an seinem Schlüsselbund noch etwas, was ihm dabei half, sicher in die Tiefe zu steigen. Einen einzelnen Klemmkeil der Größe Fünf. Er fuhr mit drei Fingern in die Schlaufe und schob an den Stellen, die menschlichen Fingern keinen Halt boten, den Kopf des Klemmkeils in eine Ritze, sodass er sich kurz daran festhalten konnte. In kleinen Schritten und mit höchster Vorsichtig gelangte er schließlich an die Stelle, wo Falks Sturz in die Tiefe geendet hatte. Dort fand er seinen Freund bewusstlos, aber am Leben.
Nach Falks Einlieferung in ein ziviles Krankenhaus in Garmisch-Partenkirchen hatten sich die Ereignisse überschlagen. Die Hardthöhe hatte von Wilhelms Verschwinden eher Wind bekommen als sein Bataillonskommandeur und wollte den vermissten Soldaten wegen Fahnenflucht und Falk der aktiven Beihilfe anklagen. Heidt konnte dem nicht viel entgegensetzen, schaffte es jedoch, den Tatbestand der Fahnenflucht in den des unerlaubten Fernbleibens zu mindern und Falk, der noch immer um sein Leben rang, aus der Sache herauszuhalten.
Mit Streflers Aussage war nicht viel anzufangen, da sie sich ständig änderte, weswegen sowohl das Ministerium als auch die Polizei und Staatsanwaltschaft begierig auf Falk’s Vernehmungsbereitschaft warteten. Die behandelnden Ärzte weigerten sich jedoch, Personen außerhalb des engsten Familienkreises zu Falk vorzulassen. Neben den schweren Kopfverletzungen, den gebrochenen Rippen und der Lungenquetschung bereiteten ihnen Falks Gefäßverletzungen am meisten Sorgen, die dringen chirurgisch versorgt werden mussten.
Pragen wurde skeptisch, als er erfuhr, dass der Spezialist, der die schwierige Operation durchführen sollte, weder aus dem zivilen Krankenhaus stammte, in dem Falk lag, noch aus dem benachbarten Münchner Militärkrankenhaus, sondern aus dem über fünfhundert Kilometer entfernten Koblenzer Zentralllazarett anreiste. Da der Chirurg über ein Jahrzehnt in Meissmanns Stab gedient hatte, sorgte Pragen dafür, dass ihm medizinisches Personal aus München assistierte und die OP auf Video aufgezeichnet wurde. Die Operation brachte Falk schließlich soweit auf den Pfad der Genesung, dass er auf die Intensivstation des Münchner Bundeswehrkrankenhaus verlegt werden konnte.
Obwohl alle Vitalfunktionen stabil waren, war für Außenstehende schwierig zu erkennen, dass es ihm besser ging, da er zwei Wochen nach der Operation noch immer im Koma lag, künstlich beatmet wurde und die Schürfwunden in seinem Gesicht nicht abheilen wollten. Zudem jagte eine Schreckensmeldung die nächste: permanent ansteigende Entzündungswerte im Blut und kleinere Blutungen in der Lunge. Die Ärzte versicherten den besorgten Angehörigen jedoch, dass es ihm den Umständen entsprechend gut gehe. Das das Einzige, was man für ihn tun konnte, war ihrer fachärztlichen Meinung nach Abwarten.
In der Zwischenzeit hoffte man in den Hinterzimmern des Ministerialgebäudes auf der Hardthöhe auf eine rasche Aufklärung des Falls durch Truppeninstrumentarien wie Feldjäger und Abschirmdienst. Das Ministerium für innere Angelegenheiten unterstützte diese Vorgehensweise und gebot dem Polizeiapparat Zurückhaltung, um unnötiges Aufsehen oder unangenehme Presseberichte zu vermeiden. Erst die Nachricht über die Ermordung von Wilhelms Pflegeeltern übergab den Fall in die Hände der Bundeskriminalpolizei. Plötzlich waren die militärischen Organe, die sich bisher mit dem Fall beschäftigt hatten, nur noch am Rande Teil der Ermittlungen und schlimmstenfalls sogar Verdächtige.
Wilhelms Grenzübertritt nach Osten hatte die Ermittlungen jedoch kurzweilig auf Eis gelegt, weil zu viele politische Entscheidungen damit in Verbindung standen. Das Verteidigungsministerium wollte auf keinen Fall eingestehen, einen Soldaten verloren zu haben, die militärischen Geheimdienstbüros und Feldjäger hatten keine Handhabe bei Interpol und der Präsident des Bundeskriminalamtes wurde von den Bonner Behörden an kurzer Leine gehalten, da das geeinigte Deutschland nicht nur drei Landesparlamente neu zu besetzen hatte, sondern auch um die Prestigestimmen für das Berliner Abgeordnetenhaus rang.
Nach dem Feuer in Lettland verstärkte sich jedoch der Druck auf die deutschen Behörden, sodass die Polizei schließlich eine Verfügung erwirken konnte, Falk zur Befragung aus seinem immer noch andauernden Koma zu wecken.
Obwohl er die Fragen, die man ihm stellte, kaum zu verstehen schien und keine zwei Worte hintereinander stammeln konnte, drängte die Polizeibeamten immer weiter auf ihn ein, was nicht nur die Ermittlungen durch unsinnige Verhörresultate ins Chaos stürzte, sondern auch das Leben des Patienten gefährdete. Während der Befragung kollabierte Falks Atmung und ein erneutes Anschwellen seines Gehirndrucks gebot den Medizinern, ihn in ein künstliches Koma zu versetzen.
Der aufgrund von Falks verwirrten Antworten auf die Suggestivfragen der Ermittler zusammengeschusterte Bericht sollte als Komaprotokoll in die Fallakten eingehen. Er änderte sich jedoch genauso oft wie Streflers Aussage und wurde schließlich durch einen richterlichen Beschluss für ungültig erklärt. In dem Zuge wurde wurde auch die Kommission des Falls neu besetzt und die neu berufenen Bundesbeamten hüteten sich davor, auch nur im Entferntesten in Erwägung zu ziehen, Falk zu einer erneuten Vernehmung aus seinem Genesungsschlaf zu wecken und so schlief ein Teil der Wahrheit tief und fest auf der Intensivstation des Münchner Bundeswehrkrankenhauses.
Als sich Heinrich wieder aufzuschauen wagte, schaute ihn Pragen noch immer mit besorgter Mine an. Heinrich wollte jedoch nicht über Gespenster sprechen. Weder über die, die er im Turm getroffen hatte, noch über die in seinem Inneren.
»Wie geht es Falk?« Heinrich fragte das nicht, um vom Thema abzulenken, sondern weil er plötzlich das Gefühl hatte, dass es ihm unverdient gut ging.
Pragen sog geräuschvoll die Luft ein. Er hätte lieber eine Antwort auf seine Frage gehabt und erfahren, was Heinrich so verunsicherte, ihn quälte. »Noch immer hoffen alle auf sein Erwachen und seine Vernehmungsfähigkeit«, sagte er schließlich. »Wir wüssten vielleicht inzwischen mehr, wenn Du ans Telefon gehen würdest, wenn Strefler Dich anruft.«
Diese Anschuldigung riss Heinrich aus seinen Grübeleien: »Du gehst noch immer die eingehenden Anrufe auf meinem Telefon in Mittenwald durch?«
»Nur für den Fall.« Pragens Stimme klang kalkuliert.
»Nach all der Zeit?« Heinrich schüttelte den Kopf: »Wilhelm wird nicht anrufen. Diese Mühe kannst Du Dir sparen.«
»Du kannst Deine Einverständniserklärung jederzeit widerrufen.«
Heinrich zuckte mit dem Schultern. »Wenn Strefler seine Aussage ändern möchte, soll er die Polizei anrufen. Oder den Staatsanwalt.«
»Du kannst ihm nicht vergeben?«, fragte Pragen mitfühlend. Heinrich war sich jedoch nicht sicher, wem das Mitgefühl galt, ihm oder Strefler, und hatte das Gefühl, sich verteidigen zu müssen: »Ich bin nicht derjenige, den er um Verzeihung bitten müsste. Ich bin nur jemand, der nicht verstehen kann, wieso er gelogen hat. Ohne die Erkenntnisse der Spurensicherung stünde Wilhelm noch heute im Verdacht, für Falks Zustand verantwortlich zu sein. Ist das der Dank dafür, dass Wilhelm Streflers Bitte nachgegeben und ihn in seine Stabsabteilung aufgenommen hat, obwohl er nicht von ihm überzeugt war?«
»Wenn er Zweifel hatte, warum hat er ihn dann aufgenommen?«, fragte Pragen.
Heinrich spürte, dass Pragen den Ausgang des Gesprächs bereits kannte und nun nur noch geduldig darauf wartete, dass sein Gesprächspartner das Ende der Sackgasse erreichte. Das war Pragens Talent.
»Strefler hat versprochen, hart an sich zu arbeiten«, antwortete Heinrich trotzig: »Außerdem hat Falk ein gutes Wort für seinen Freund eingelegt.«
Pragen hob seine Augenbrauen: »Ich bin mir nicht sicher, ob man jemandem einen Gefallen tut, wenn man ihn für eine Aufgabe rekrutiert, der er nicht gewachsen ist. Vielleicht hätte er Strefler einen größeren Gefallen getan, wenn er ihn zurückgewiesen hätte.«
Heinrich hatte die Wand im Rücken und Pragen stand vor ihm und blockierte den Rückweg. Heinrich schüttelte geschlagen den Kopf.
»Vielleicht hat er etwas zu sagen, was er nur Dir mitteilen möchte oder kann«, fuhr Pragen in einem versöhnlichen Ton fort.
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Heinrich: »Wir standen uns nie besonders nah.«
»Vielleicht ist gerade das der Grund dafür, dass er sich an Dich wendet. Vielleicht möchte er etwas beichten. Vielleicht sucht er nach Vergebung.«
Heinrich wandte seinen Blick ab und schaute auf seine Hände. Als er seine Finger bewegte, stellte er fest, dass die Wunde an der linken Hand, die Pragen verbunden hatte, noch immer wehtat. Diese Hände hatten weder den Kobold vorm Ertrinken retten noch Wilhelm festhalten können. »Ich glaube nicht an Vergebung«, sagte er.
Pragen wollte etwas erwidern, überlegte es sich jedoch anders und schwieg. Aus Heinrichs Worten sprachen weder Trotz noch Zorn, sondern ein tiefsitzender Schmerz. Pragen trat einen Schritt zur Seite und ließ seine Beute frei. Schmerz war ein schlechter Gesprächspartner.
»Während Falk und Strefler schweigen, wird hoffentlich Jan etwas Licht ins Dunkel bringen«, sagte Pragen schließlich, während er in seinem Notizbuch blätterte.
Heinrich schaute verdutzt auf.
»Ich habe ihn vor meiner Abreise nach Mittenwald geschickt und erwarte heute Abend seinen Bericht.«
»Was, glaubst Du, wird Jan nach nun bald zwei Monaten dort oben am Paischenhang noch finden können?« Heinrich runzelte die Stirn: »Die Spuren sind nicht frischer geworden und es hat in den letzten beiden Wochen recht heftig geschneit. Alles ist weiß.«
»Ich habe Jan nicht nach Mittenwald geschickt, um in den Bergen herumzuklettern.«
»Sondern?«
»Darüber wollte ich mit Dir sprechen: Was genau weißt Du über Wilhelms Arbeit nach seiner Rückkehr aus Somalia?«
Diese Frage irritierte Heinrich. Warum interessierte sich Pragen plötzlich für Wilhelms Arbeit von vor über einem Jahr? Heinrich zuckte mit den Schultern: »Wenig«, antwortete er wahrheitsgetreu. »Er hing wie viele andere Rückkehrer damals in der Luft. Bei ihm kam jedoch erschwerend hinzu, dass er sich recht wählerisch gab. Er wollte unbedingt in Mittenwald bleiben und lehnte sogar Bad Reichenhall als mögliche Alternative ab. In Köln und Mainz hätte ihm sogar eine Beförderung gewunken. Er wollte jedoch weder ein Kommando noch einen Schreibtischposten.«
»Wenn ich richtig informiert bin, überbrückte er die Zeit bis zum Jahreswechsel mit Beratertätigkeiten im Ausbildungsbetrieb und setzte alles daran, seine Stabsabteilung wieder aufzubauen«, sagte Pragen nach einem Blick in sein Notizbuch.
Heinrich dachte kurz nach, schüttelte dann jedoch den Kopf: »Das stimmt schon in etwa, aber er ging diese Sache nicht ganz so beherzt und enthusiastisch an, wie das aus Deinem Mund klingt. Bereits im Jahr zuvor hatte er die Bestätigung seiner Übernahme in das Dienstverhältnis eines Berufssoldaten erhalten. Besonders froh ist er darüber jedoch nicht gewesen.«
»Normalerweise ist es die negative Mitteilung, die Bitterkeit oder sogar tiefe Depressionen auslöst. Warum diese paradoxe Reaktion?«
»Wilhelm sah dreißig weiteren Jahren hinter den mit Stacheldraht umwickelten Mauern der Kaserne entgegen. Er wusste, dass er sich dort in Wirklichkeit nur vor dem echten Leben verkroch. Wie ein gefangenes Tier blieb er in seinem Käfig, obwohl die Tür weit offen stand.«
Pragen nickte und schaute zum Institut. Heinrich konnte sich noch immer nicht überwinden, zur Ruine zu schauen. Er fühlte jedoch, was Pragen gerade sah, da jeder Schlag, mit dem die Abrissbirne auf das alte Mauerwerk traf, eine Vibrationswelle durch den Boden schickte. Heinrich hatte sich inzwischen an die donnernden Schläge und das sanfte Beben der Erde gewöhnt.
Als Pragen seinen Blick wieder Heinrich zuwandte, lag darin die Aufforderung mit seiner Erzählung fortzufahren. Heinrich musste jedoch eine Weile nachdenken, bis er den Faden wiederfand: »Wilhelms Laune hellte sich erst ein wenig auf, als Falk von seiner Verwendung in einer Versorgungseinheit des Kölner Heeresamtes nach Mittenwald zurückkehrte und die beiden als Ausbilderduo in die Gebirgs- und Winterkampfschule einzogen. Für kurze Zeit war fast alles wieder wie früher: Wilhelm leitete eine Sondereinheit zur Ausbildung von Heeresbergführern, die aber auch Lehrgänge für Fernspäher, Pioniere und andere Truppengattungen anbot, die sich im Zuge ihrer Ausbildung mit verschiedenen Geländearten und Witterungsbedingungen vertraut machen mussten, und Falk erledigte für ihn den Leutejob.«
Heinrich hielt inne. Diese Zeit schien bereits ewig zurückzuliegen, obwohl seit damals erst knapp anderthalb Jahre vergangen waren. Er spürte, wie das Tier, das sich hinter seiner Stirn eingenistet hatte, mit seinen Fühlern nach einer verwundbaren Stelle tastete. Hatte er bereits damals Wilhelms Hand losgelassen? Heinrich kniff die Augen zusammen, als ein Schmerz durch seinen Kopf flammte.
Um Pragens fragenden Blick auszuweichen, fuhr er schnell mit seiner Schilderung fort: »Neben seiner täglichen Arbeit als Skilehrer und Bergführer organisierte Wilhelm Klettertouren und Wettkämpfe. Er plante weniger, seine ehemalige Stabsabteilung wieder auf die Beine zu stellen, als vielmehr seine über die Zeit gewonnenen Erkenntnisse und Fertigkeiten für die taktische und technische Weiterentwicklung der Gebirgsjägertruppe zum Einsatz zu bringen. Sein Konzept beeindruckte den Schulungsstab der Infanterie und fand auch bei der Truppe Anklang, sodass er schnell die nötige Unterstützung für die Umsetzung seiner Pläne fand.«
»Und dann? Was ging schief?«
Heinrich sah auf. Er wusste nicht, worauf Pragen hinaus wollte.
»Mitte dieses Jahres verließ Wilhelm die Winterkampfschule. Mit seinem Weggang starben auch die von Dir erwähnten Vorhaben. Er hängte seine Felsausrüstung an den Nagel und ließ sich an den Schreibtisch einer Logistikeinheit in der Edelweißkaserne versetzen. Was kannst Du mir über diese Zeit erzählen?«
Heinrich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, warum er in seine alte Kaserne zurückkehrte oder was er dort genau gemacht hat. Er hat nicht groß darüber geredet. Und ich habe nicht gefragt.«
Pragen schaute Heinrich verwundert an: »Nach Deiner Beschreibung von Wilhelm hätte ich erwartet, dass diese berufliche Veränderung auf sein Gemüt schlägt. Du hast jedoch nichts bemerkt? Weder sein drastischer Sinneswandel noch sein plötzliches Faible für Verwaltungsarbeit haben Dich stutzig gemacht?«
Als hinter Heinrichs Stirn ein gehässiges Kichern laut wurde und Pragen daraufhin die Augenbrauen hob, legte Heinrich seine Hand auf die Stirn, um die Stimme dahinter zum Schweigen zu bringen. »Ich weiß nicht, was ich damals dachte«, sagte er niedergeschlagen. »Bei solcherlei Entscheidungen ging es oft um Zuständigkeiten, Gelder, Nähe zu den Ausbildungskompanien oder andere praktische Überlegungen. Mir fiel nur auf, dass er mehr Zeit hatte. Das war nach meinem Empfinden nichts Schlechtes. Es entfielen die Bergtouren, die über mehrere Tage gingen oder für die er ins Ausland fahren musste.« Heinrich seufzte und ballte seine linke Hand zur Faust, um den Schmerz zu fühlen.
»Ich denke, Wilhelm hat sich Mühe gegeben, dass niemand von seiner Situation erfuhr,« sagte Pragen, während er ein gefaltetes Stück Papier aus seinem Notizbuch nahm.
»Situation? Welche Situation?«, fragte Heinrich, obwohl er bereits zu verstehen begann und sich nicht sicher war, ob er für die Wahrheit bereit war.
»Diese Situation.« Pragen faltete das Stück Papier auf und gab es Heinrich.
Das Erste, was Heinrich ins Auge sprang war Wilhelms Unterschrift am Fuß des Dokuments, ein altes deutsches W gefolgt von einem Punkt und dem schnörkellosen Schriftzug ›Fenner‹ in moderner Schreibschrift.
Heinrich ließ seine Augen über das Papier wandern, um möglichst schnell herauszufinden, um was es ging. Ein mittig eingerückter Sperrdruck betitelte das Schriftstück als ›Vereinbarung‹, eine formelle Nennung der Vertragsparteien blieb jedoch aus. Die oberste Zeile datierte das Dokument auf den 19. Mai 1995 in Murnau. Die Angaben zu Zeit und Ort wiederholten sich am Fuß des Dokuments und durch ein Komma von Wilhelms Unterschrift getrennt.
Heinrich drehte das Blatt um. Die Rückseite war leer. Es handelte sich offenbar um eine Kopie, was das teilweise viel zu dunkle und stellenweise doch unvollständige Wasserzeichen erklärte, das offenbar den Bundesadler darstellen sollte. Somit ergab auch der graue Streifen am Rand Sinn. Die unterschiedlichen Grautöne waren im Original vermutlich schwarz, rot und gold gewesen.
Die sogenannte Vereinbarung war in zwei Abschnitte unterteilt, die mit ›Protokoll zur Übereinkunft‹ und ›Ausgleich‹ übertitelt waren. Heinrich strich das Papier glatt und begann zu lesen. Im ersten Abschnitt wurde festgelegt, dass Hauptmann Wilhelm Fenner sein Heeresbergführerabzeichen abzulegen habe und fortan vom Ausbildungsbetrieb sowie von der Führungsverantwortung auszuschließen sei. Ferner verzichtete Wilhelm auf jegliche Beförderung und verpflichtete sich, seinen Dienst binnen Ablauf des Kalenderjahres zu quittieren.
Als Heinrich mit einem fragenden Blick zu Pragen hinüberschaute, schüttelte dieser nur den Kopf und deutete auf das Dokument. Heinrich behielt seine Fragen vorerst für sich und las weiter.
Es folgte eine Liste von Vergütungsschlüsseln, die für die Berechnung von Wilhelms Sold nicht mehr angewandt werden durften. Heinrich wusste nicht genau, was die einzelnen Schlüssel bedeuteten, glaubte jedoch, dass es um den Ausschluss von Zulagen und Prämien jeglicher Art ging.
Bis zu seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst hatte Wilhelm einem Urteil des Ministeriums und des Wehrsenats Folge zu leisten, seine Klage vor dem Bundesverwaltungsgericht zurückzuziehen und auch in Zukunft von Rechtsschritten abzusehen. Heinrich fühlte den Drang, das angegebene Aktenzeichen zu markieren. Er wollte wissen, um was es in dem Urteil ging. Er unterdrückte jedoch den Impuls, nach einem Stift zu greifen. Pragen hatte bestimmt längst alle nötigen Schritte für eine Einsichtnahme in die Wege geleitet.
Der erste Abschnitt endete damit, dass Wilhelm seine ehemaligen Kameraden zum Stillschweigen anzuhalten und öffentliche Auftritte zu vermeiden habe. Außerdem musste er mit dem Tag der Vereinbarungsunterzeichnung die Winterkampfschule verlassen und sich für eine Verwendung in der Militärverwaltung zur Verfügung stellen.
Heinrich holte tief Luft, bevor er mit dem zweiten Abschnitt fortfuhr. Dieser war wesentlich kürzer als der erste. Dort sah man im Gegenzug für Wilhelms Kooperation von einer Dienstgradherabsetzung ab und sicherte ihm eine Verwendung am Mittenwalder Standort zu. Darüber hinaus war man bereit, es bei einem Eintrag in seiner Dienstakte zu belassen und von weiteren rechtlichen oder disziplinarischen Schritten gegen ihn und Personen in seinem Umfeld abzusehen.
Heinrich schaute sich erneut die Unterschrift an und versuchte zu erahnen, was damals in Wilhelm vorgegangen sein musste. Hatte er das Dokument, nachdem er es unterschrieben hatte, trotzig über den Tisch gefegt? Hatte er mit der Schulter gezuckt und so getan, als ob es ihm nichts ausmachen würde? Oder war der Schmerz zu groß gewesen für diese Art der Theatralik?
Pragen trank einen Schluck aus einer Wasserflasche. Vermutlich machte er sich bereit für die Flut an Fragen, die Heinrich gleich an ihn richten würde. Heinrich wusste jedoch nicht, was er zuerst fragen sollte. Woher Pragen dieses Dokument hatte? Wer die zweite Vertragspartei war? Oder worum es in dem Senatsurteil ging? Als ihm jedoch bewusst wurde, welche Frage er zuerst stellen musste, entfuhr Heinrich ein lautes Stöhnen. Er fasste noch einmal den Fuß des Dokuments ins Auge: Murnau, 19. Mai 1995, W. Fenner.
»Wo war ich am 19. Mai 1995?«, fragte er schließlich niedergeschlagen. Nun wusste er, wann er Wilhelms Hand losgelassen hatte. Er hatte den genauen Ort, das genaue Datum und Wilhelms Unterschrift.
Heinrich hatte keine Antwort von Pragen erwartet, doch der Oberstleutnant hatte sich offenbar auf diese Frage vorbereitet: »Der Neunzehnte war ein Freitag gewesen. Du hattest an diesem Tag keinen Dienst.«
»Freitag«, wiederholte Heinrich und nickte. Freitags hatte er meistens dienstfrei. So konnte er schon Donnerstag abends oder spätestens an Tag darauf nach Mittenwald fahren und das Wochenende dort verbringen, bis er am Sonntag oder Montag wieder nach München in sein Feldwebelapartment zurückkehrte. Freitag war für Heinrich immer ein besonderer Tag, ein Tag ohne Verpflichtung, ohne frühes Aufstehen, ohne Stress. Es war ihm unmöglich zu sagen, was er an einem Freitag, der inzwischen fast ein halbes Jahr zurücklag, getan hatte.
Vielleicht hatte er noch geschlafen, als Wilhelm nach Murnau gefahren war. Vielleicht hatte er sich auch gerade am Bahnhofskiosk ein paar Hobbyzeitschriften gekauft oder war ins Schwimmbad gegangen, um ein paar Bahnen zu schwimmen, während man Wilhelm die Vereinbarungspunkte vorgelesen hatte. Vielleicht hatte er Flöte gespielt oder bei Anna vorbeigeschaut, während Wilhelm seine Unterschrift unter das Dokument gesetzt hatte. Vielleicht war er auch gerade einkaufen oder auf der Couch eingenickt, als man Wilhelm mit dem Rücken an die Wand gestellt und aus kurzer Entfernung auf ihn angelegt hatte.
Da Heinrich keine weiteren Fragen stellte, fing Pragen an zu reden: »Auf der Kopie ist es nur schwer zu erkennen, aber das Dokument wurde nicht auf offiziellem Amtspapier geschrieben. Das Wasserzeichen und die schwarz-rot-goldene Borte wurden auf normales Schreibmaschinenpapier gedruckt. Wenn man sich das Wappentier genauer anschaut, stellt man zudem fest, dass es sich dabei nicht um den üblichen Bundesadler handelt. Achte auf die leicht gespreizten Schwingen, den unnötigen Zierrat an Kopf und Schwanzgefieder und das fehlende vierte Krallenglied.«
Heinrich schaute sich die genannten Stellen genauer an.
Pragen fuhr fort: »Man wollte offenbar vor Wilhelm einen offiziellen Anschein erwecken, um zu verhindern, dass er sich gegen die Schlinge, die man um seinen Hals geworfen hatte, wehrte. Entweder hatten sie jedoch kein authentisches Papier mit Hoheitsinsignien zur Hand oder wagten nicht, es missbräuchlich zu verwenden. Ich tippe auf Letzteres, denn das würde auch die falsche Darstellung des Bundesadlers erklären. Die Fälschung sieht dem Original ähnlich genug, um das naive Auge zu täuschen, enthält jedoch genügend Abweichungen, um dem Vorwurf der Insignienfälschung zu entgehen. Jedenfalls, wenn man einen wohlwollenden Richter darüber urteilen lässt.«
Heinrich nickte.
»Wie Du selbst weißt, existiert der im Protokoll erwähnte Eintrag in Wilhelms Dienstakte nicht in den uns vorliegenden Daten«, erzählte Pragen weiter. »Entweder hat es ihn nie gegeben oder er wurde präzise und rückstandslos aus dem Gedächtnis der Militärbehörden entfernt. Ich konnte nirgends einen Hinweis darauf finden. Weder in Wilhelms digitalem Aktenprofil in Köln noch in den Sicherheitskopien der vergangenen Monate. Das Gleiche gilt für die erwähnten Ministerialbeschlüsse. Sie existieren nicht und haben vermutlich nie existiert. Das Einzige, wozu ich etwas finden konnte, war Wilhelms Klage beim Bundesverwaltungsgericht. Sie lag jedoch unter Verschluss und bedurfte einer Sondergenehmigung zur Einsichtnahme. Erst nach etlichen Telefonaten, in denen ich die Notwendigkeit und Dringlichkeit darlegen musste, und nachdem ich wie ein Autogrammjäger verschiedene Unterschriften zusammengesammelt hatte, erhielt ich Zugriff. Es wunderte mich dann jedoch nicht mehr, dass die Computerdatei zu dem Fall ungültig war und die Schreibtischakte ohne Inhalt.«
Pragen seufzte: »Deswegen habe ich Jan nach Mittenwald geschickt. Vielleicht findet er noch etwas. Jans Gespür und Deine Erinnerungen sind nun die Hauptsäulen auf die ich baue, um das Murnauer Protokoll zu verstehen.«
Nach einem letzten Blick auf Wilhelms Unterschrift, faltete Heinrich das Blatt Papier wieder zusammen und gab es Pragen zurück. Er schloss die Augen, presste seine Stirn gegen das kalte Glas der Fensterscheibe der Wagentür und spulte im Geiste erneut die Geschehnisse vor und nach dem 19. Mai ab. Als die Abrisskugel weiter ihre Arbeit verrichtete, fühlte Heinrich das Beben durch die Glasscheibe direkt in seinem Kopf. Die Kälte und die Erschütterung taten gut, aber seiner Erinnerung halfen sie nicht auf die Sprünge.
»Am 23. April wart Ihr beide in Zermatt, die Woche darauf hattest Du dienstfrei, bist aber dennoch an einem Tag für ein paar Stunden ins Büro gekommen. Von da an vergehen nur noch drei Wochen, bis Wilhelm dieses unheilvolle Dokument unterschreibt. Eine dieser Wochen haben Du und Jan bei den Fliegern in Fürstenfeldbruck verbracht. Drei Tage nach der Unterzeichnung des Murnauer Protokolls kehrte Wilhelm in die Edelweißkaserne zurück. Ab diesem Punkt wird es sehr still um ihn. Sein monatlich überwiesener Sold ist das einzige Lebenszeichen, was man noch von ihm in den Akten finden kann. Gab es während dieser Wochen irgendeinen Vorfall, der ungewöhnlich war? Ein Besuch von einem alten Freund, ein Streit unter Kollegen, ein Brief ohne Absender, einen Telefonanruf mitten in der Nacht, eine versäumte Verabredung, eine überraschende Geldinvestition? Manche unwichtig erscheinende Ereignisse erhalten erst in der Rückschau ihre wahre Bedeutung.«
Heinrich presste seine Stirn an eine andere Stelle der Glasscheibe. Die Kälte wirkte betäubend. Er dachte nach.
»Warum warst Du in Zermatt? Ich habe nachgeforscht. Es fand dort zu diesem Zeitpunkt ein Wettkampf statt. Warst Du deswegen dort?«
Heinrich nickte: »Wilhelm.«
»Wilhelm ist bei dem Wettkampf angetreten?«, fragte Pragen, um Heinrichs wortkarge Antwort nicht falsch zu verstehen.
Heinrich nickte erneut: »Alle. Falk auch. Anna auch.« Er sog geräuschvoll die Luft ein und biss sich auf die Lippen, als er spürte, wie ihm Wilhelms Hand erneut entglitt.
»Dein Besuch in der Dienststelle, obwohl Du dienstfrei hattest. Was hast Du an dem Tag im Büro gemacht?«
»Ich habe in Zermatt Bilder geschossen und Falk hat mich gebeten, sie so schnell wie möglich zu entwickeln. Er brauchte sie für einen Zeitungsbericht, glaube ich. Ich habe das Fotolabor benutzt.«
»Irgendwelche Überraschungen beim Entwickeln der Fotos?«, fragte Pragen.
Heinrich schüttelte den Kopf.
»In welchen Zeitungen sind sie erschienen? Gab es darauf Reaktionen von Lesern? Hast Du noch die Negative?«
Heinrich antwortete, so gut er konnte, und Pragen machte Notizen: »An was erinnerst Du Dich noch aus dieser Zeit?«
Heinrich fiel etwas ein, aber er bezweifelte, dass es etwas mit dem Murnauer Protokoll zu tun haben konnte. Die beiden Ereignisse lagen zeitlich viel zu nah beieinander, als dass das eine eine Reaktion auf das andere hätte sein können. Es sei denn jemand hatte nur darauf gelauert, Wilhelm einen Strick drehen zu können. Heinrich drückte seine Stirn erneut an eine kalte Stelle der Glasscheibe. Er wollte nicht, dass die beiden Ereignisse etwas miteinander zu tun hatten.
Heinrich öffnete seine Augen, als er eine Hand an seiner Schulter fühlte.
»Woran denkst Du gerade«, fragte Pragen.
Heinrich fuhr auf: »An nichts«, sagte er hastig und strich sich über die Stirn. »An nichts Wichtiges jedenfalls«, ergänzte er, da er sich ertappt fühlte. Als er jedoch in Pragens Gesicht blickte, erkannte Heinrich, dass er bereits zu viel gesagt hatte. Nicht mit Worten, aber Pragen hatte seine Aufgewühltheit und seinen Versuch zu verdrängen und zu vergessen durchschaut. Da ihm nichts anderes übrigblieb, rang sich Heinrich schließlich doch dazu durch zu erzählen, was ihm gerade durch den Kopf ging: »Zermatt war für die Mittenwalder ein großer Erfolg gewesen. Nicht nur das bundeswehrinterne Blatt berichtete über sie, sondern auch richtige Zeitungen zum zwei Mal auffalten und Magazine für Sportklettern und Alpinismus. Auch in ihrem Bataillon wurden sie gefeiert. Heidt hielt eine feierliche Rede und erteilte großzügig Sonderurlaub. Die Siege in Zermatt waren das Topthema im Mannschaftsheim und im Saloon. In dieser euphorischen Stimmung gelang es Falk, Wilhelm zu überreden, eine Einweihungsparty für ihn ausrichten zu dürfen. Er lag Wilhelm damit schon länger in den Ohren. Obwohl wir bereits eine Weile in dem Haus lebten, wollte Falk unbedingt die versäumte Einweihungsparty nachholen.«
Heinrich zog nachdenklich an seinen Ponyfransen, bevor er fortfuhr: »Feste, Partys und Feiern sind Wilhelm zuwider. Falk hingegen liebt Feiern. Und wenn er erst einmal einen Grund zum Feiern gefunden hat, richtet er mit Feuereifer die perfekte Feier aus. Er sorgt für Speis und Trank, Musik, Anreise der Gäste, Übernachtungsmöglichkeiten für Leute von weiter weg, Vorkehrungen gegen schlechtes Wetter, und meistens gibt es noch eine kleine Überraschung wie eine Bootsfahrt oder ein Schlittenwettrennen. Die Einweihungsparty sollte ein großes Ding werden. Wilhelm wollte damit so wenig wie möglich zu tun haben und gab Falk einfach seine Kreditkarte mit der Bitte sich im Rahmen zu halten.«
»Was hieß in diesem Fall ein großes Ding?«, wollte Pragen wissen.
»Zunächst einmal lud er ziemlich viele Leute ein.«
»Wen?«, fragte Pragen und zückte einen Stift.
»Wirklich viele Leute, nicht nur enge Freunde und vertraute Kameraden wie Anna, André und Gunnar, sondern alle Soldaten aus Andrés Hochzug und Wilhelms ehemaliger Stabsabteilung. Auch der Mittenwalder Bataillonskommandeur war eingeladen sowie neue Kameraden aus der Winterkampfschule und alte Kameraden aus Wilhelms Rekrutenzeit. Manche kamen mit Anhang und Familie. Auch ein paar Leute aus dem Dorf waren dabei.«
Pragen machte sich Notizen und fragte weiter: »Und was war die besondere Überraschung? In eurem Garten kann man nicht Boot fahren. Und Schlittenfahren scheidet im Mai wohl ebenfalls aus.«
Heinrich kam nicht umhin kurz zu schmunzeln und den Kopf zu schütteln, bevor er fortfuhr: »Falk,« sagte er nur und dachte nach, weil er nicht wusste, wo er genau anfangen sollte. »Die Gäste durften das Haus nicht ebenerdig betreten, sondern mussten über das Haus klettern, um in den Garten hinter dem Haus zu gelangen, wo die Feier stattfand.«
Pragen schaute Heinrich an, als wäre er nicht sicher, ob er ihn gerade auf den Arm nahm: »Über das Haus klettern?«
Heinrich nickte: »Direkt am Gartentor vorm Haus musste man an einer Kletterwand auf eine ungefähr zwei Meter über dem Boden an einem Baum angebrachte Plattform klettern. Von dort führte eine Hängebrücke direkt aufs Dach«, erklärte Heinrich. »Auf dem Dach war ein Klettersteig angelegt, sodass man relativ gefahrlos den Dachfirst überqueren konnte. Auf der anderen Seite des Dachs führte eine Seilrutsche in den Garten. Man raste mit enormen Schwung in die Tiefe und wurde schließlich von einem Netz aufgefangen, das zwischen zwei Bäumen aufgespannt war.«
Pragen nickte langsam und bedächtig. Er schien sich alles genau vorzustellen. »Gebirgsjäger«, sagte er schließlich.
»Falk«, präzisierte Heinrich. »Der Durchgang durch das Haus war nur gestattet, um Essen und Getränke zu transportieren. Und um am Minnespiel teilzunehmen.«
Pragen hörte gespannt zu.
»Es war eigentlich ein Spiel für Liebespärchen«, fuhr Heinrich fort: »Eine Person stellte sich oben auf den Balkon und eine zweite Person versuchte, an der Hauswand zu ihr hinaufzuklettern und ihr einen Kuss zu geben. Der kurze Kletterparcours war nicht besonders anspruchsvoll. Sogar ich konnte das schaffen. Als mit foranschreitendem Abend die Stimmung jedoch ausgelassener wurde, fingen die Gäste, die nicht nur Sunkist getrunken hatten, an, daraus einen Wettkampf zu machen. Sie erklommen die Wand auf Zeit, mit nur einer Hand oder verbundenen Augen. Wer die Wand zuletzt erklommen hatte, wartete oben auf den nächsten, sodass bald jeder jedem einmal Minnedienst erwiesen hatte. Manche hielten aus einer Albernheit heraus an der Pflicht zu küssen fest, andere verteidigten ihre Keuschheit und alle badeten in den Zurufen und den Kusshänden, die ihnen von der Menge zugeworfen wurden.«
Nach einem nachdenklichen Blick in die Notizen, die er gerade aufgeschrieben hatte, stellte Pragen fest, dass Major Heidt eingeladen gewesen war, er jedoch nicht.
»Es war lustig, aber es war auch wild«, ergänzte Heinrich, unsicher, ob der Oberstleutnant darüber enttäuscht war, nicht dabei gewesen zu sein. Erst als Pragen schmunzelte, erlaubte sich auch Heinrich den Mund zu einem schiefen Lächeln zu verziehen. Falk schaffte es am Ende immer, allen Leuten ein Lachen oder wenigstens ein Lächeln zu entlocken. Die Erinnerung an die Feier hatte Heinrich selbst in dieser unglücklichen Lage zum Schmunzeln gebracht und sogar Pragen hatte für einen Moment seinen Ernst verloren. Das war Falks Talent.
»Wilhelm hat versucht, sich so weit wie möglich aus dem ganzen Treiben herauszuhalten. Er steht nicht gerne im Mittelpunkt. Das mag paradox klingen, da er sowohl im Beruf als auch in sportlichen Wettkämpfen stets nach Anerkennung sucht und die Spitze anführen will. Aber so sehr er das Konzept von Feiern auch verabscheut, konnte er nicht seine eigene Feier verlassen. Er hatte mit Falk jedoch abgemacht, dass der Spuk um Mitternacht enden würde. Eine letzte Überraschung hatte Falk jedoch noch vorbereitet.«
Pragen nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. In seinem Blick lag die Aufforderung, kein Detail auszulassen.
»Punkt null Uhr erschienen plötzlich alle Soldaten aus Wilhelms früherer Stabsabteilung auf dem Dach. Sie trugen Kerzen, die in der Dunkelheit wie Glühwürmchen flimmerten. Mit den Kerzen zündeten sie Wunderkerzen an, die sie dann zusammen mit Geschirr aus Porzellan und Ton und mit einem lauten Horridoh-Joho vom Dach auf die Terrasse warfen. Es war eine regelrechte Pyroshow mit Feuerfunken und lautem Getöse. Als nach einer Minute alle Wunderkerzen abgebrannt waren, war die Feier offiziell zu Ende. Am Tag darauf–« Heinrich hielt inne, als er Pragens skeptischen Blick sah.
»Wieso haben Falk und die anderen Porzellan und Keramik vom Dach geworfen?«
Heinrich zuckte mit den Schultern. Er hatte den Teil der Geschichte erreicht, den er nicht erzählen wollte, weil an der Stelle der lustige Teil endete und seine Schuld begann.
»Auf Einweihungsparties wirft man nicht mit Geschirr und Blumentöpfen. Das ist ein Brauch, mit dem man Verlobten kurz vor ihrer Hochzeit Glück wünscht«, sagte Pragen.
»Das Einzige was man in Zermatt tun kann ist Bergsteigen, Wandern und Skifahren. Keine Aktionen, mit denen man sich vor oder nach einem anstrengenden Wettkampftag die Zeit vertreibt, weswegen wir abends oft einfach im Hotelpool entspannten oder die Einkaufstraßen entlangstapften.«
»Wer ist wir?«, fragte Pragen, der ein bisschen von dem Sprung zurück nach Zermatt überrascht war.
»Wilhelm, Falk, Anna, Gunnar, André–« Heinrich überlegte.
»Ich verstehe, aber was hat es mit dem Hotelpool und den Einkaufstraßen auf sich?«, fragte Pragen, als Heinrich nicht weitersprach.
»Abgesehen von Souvenir- und Delikatessenläden gibt es in den Einkaufsstraßen von Zermatt vor allem Juweliere und Sportgeschäfte. Wir schauten uns oft die Schaufenster an, um über die Preise zu staunen, bis Wilhelm plötzlich zum noch größeren Erstaunen aller einen der Juwelierläden betrat.«
»Um Ringe zu kaufen?«, fragte Pragen.
Heinrich nickte.
»Das erklärt die Scherben. Und auch das Minnespiel ergibt so mehr Sinn. Die Einweihungsparty war in Wirklichkeit eine Verlobungsparty oder zumindest hat Falk eine daraus gemacht«, stellte Pragen fest. »Diese Ringe–«, setzte er erneut an, doch er musste seinen Satz nicht zu Ende sprechen, da Heinrich bereits die obersten Knöpfe seines Hemds geöffnet und eine Nylonschnur darunter hervorgezogen hatte.
Es war eine dünne, aber robuste Schnur, wie sie beim Klettern oft zum Festbinden von Material oder für den Bau von Flaschenzügen verwendet wurde. Heinrich löste den Knoten, mit dem die Schnurenden zusammengebunden waren, und ließ auf Pragens auffordernden Blick hin den Ring, der an der Schnur baumelte, in Pragens Hand fallen.
»Falk mag Pomp und Radau«, erklärte Heinrich, während Pragen den Ring eingehend betrachtete. »Deswegen nahm er es mit dem Feiern und den Bräuchen ernster als wir selbst.«
Pragen hielt den Ring ins Licht, um die Inschrift zu lesen: »Das klingt sehr ernst«, sagte er, bevor er Heinrich den Ring zurückgab. »Wilhelm hat den gleichen?«, fragte er und nahm wieder seinen Stift zur Hand, um sich Notizen zu machen.
Heinrich nickte zuerst, schüttelte dann jedoch den Kopf: »Fast, statt eines großen, runden blauen Steins enthält seiner drei kleine schwarze Steine. Sie sind quadratisch und unterscheiden sich untereinander leicht in ihrer Größe.«
Pragen zeichnete etwas in sein Notizbuch. Als er Heinrich die Zeichnung mit einem fragenden Blick zeigte, nickte dieser: »So in etwa.«
»Schwarze Steine?«, fragte Pragen weiter: »Welche? Turmalin? Obsidian? Jaspis?« Heinrich wusste es jedoch nicht. Die Edelsteine selbst hatten keine Bedeutung gehabt, sondern nur ihre Farben.
»Falks Pomp und Radau gaben unbeabsichtigt jedem, der gegen Wilhelm einen Groll hegte, eine Repressalie gegen den beliebten Hauptmann der Gebirgsjäger in die Hand«, fuhr Pragen fort, als von Heinrich keine Antwort kam. Er klopfte nachdenklich mit seinem Stift auf sein Notizbuch und brummte: »Ich werde dem nachgehen.« Es klang wie ein Versprechen.
Anstatt den Ring wieder an die Kette zu knoten, schob Heinrich ihn mit überraschend wenig Mühe über den Ringfinger seiner rechten Hand. Er hatte in den vergangenen Monaten Gewicht verloren. Da er jedoch ohnehin kaum über Reserven verfügte, waren sogar seine Finger abgemagert. Er musste achtgeben, dass er den Ring nicht verlor, so wie er Wilhelm verloren hatte.
»Verlust ist ein großartiger und grausamer Lehrmeister«, sagte Pragen als hätte er Heinrichs Gedanken gelesen: »In der Trennung erkennt man die Stärke der Verbundenheit. Durch Fehler beginnt man sein Handeln zu überdenken und im Angesicht des Todes wird das Leben doppelt teuer. Man darf sich von diesen Gefühlen jedoch nicht überwältigen lassen. Es gibt kein Leben ohne Reue. Deswegen wurden die Religionen und andere Bewältigungsstrategien erfunden.«
Ohne Pragen wirklich zugehört zu haben, nickte Heinrich.
»Ich werde Dir Deine Selbstvorwürfe nicht ausreden können«, fuhr Pragen fort: »Aber ich muss Dich daran erinnern, dass der Fall nicht so einfach gelagert ist, wie Du ihn in Deiner Befangenheit vielleicht gerade wahrnimmst. Wenn Du jetzt die Schuld bei Dir allein suchst, ist es, als würdest Du aufgeben.«
Heinrich nickte wieder. Dieses Mal hatte er sogar zugehört, kam jedoch nur schwer von seinem Gedanken los.
»Ich bin auch nicht ohne Schuld, wie Du Dir sicherlich inzwischen zusammenreimen konntest.« Pragen zog ein zusammengefaltetes Stück Papier aus dem Schubfach am Ende seines Notizbuchs und hielt es Heinrich hin.
Als Heinrich den Stempel auf der Rückseite des Zettels sah, sog er scharf die Luft ein. Die hellblaue Stempeltinte zeigte das Gebäude eines typischen Alpenhotels mit Blumenbalkon und romantischem Hüttendach. Darunter stand der Name des Oberstdorfer Hotels, wo er Wilhelm zum ersten Mal begegnet war.
Heinrich presste seine Lippen aufeinander. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Wilhelm hatte vor vier Jahren also tatsächlich eine Nachricht für ihn hinterlassen, aber Pragen hatte sie nicht an ihn weitergegeben. Heinrich nahm den Zettel und faltete ihn auf. Er erkannte Wilhelms Handschrift sofort.
In der Nachricht entschuldigte sich Wilhelm dafür, dass er ihre Verabredung zum Frühstück nicht einhalten konnte, da er überraschend zu anderen Pflichten befohlen wurde. Er wollte die versäumte Verabredung jedoch nachholen, weswegen er unter seiner Unterschrift zwei Telefonnummern hinterlassen hatte. Heinrich kannte die Nummern. Eine gehörte zu Wilhelms altem Büro, wo er als Chef der Stabsabteilung für Sicherheit in Fels, Eis und Schnee gearbeitet hatte, die andere zu seiner damaligen Wohnung auf dem Kasernengelände.
Es war seltsam, dass die Nachricht Heinrich jetzt erreichte. Für einen kurzen Moment fühlte es sich so an, als wären die vergangenen sechs Wochen der Unsicherheit und Sorge unnötig gewesen. Heinrich musste nur eine der beiden Nummern wählen und Wilhelm würde ans Telefon gehen: »Fenner.«
»Wilhelm, ich bin’s. Was ist los? Wo steckst Du?«
»Eliot, gut, dass Du endlich anrufst. Keine Sorge, alles in Ordnung. Ich werde Dir alles erklären. Treffen wir uns zum Frühstück?«
»Diese Nachricht wurde mir damals, als ich die Rechnung für unsere Zimmer beglich, zusammen mit den Zahlungsbelegen und einem Rabattgutschein für den nächsten Besuch in die Hand gedrückt.« Pragens Stimme holte Heinrich in die Wirklichkeit zurück, wo die beiden Telefonnummern vermutlich nicht mehr gültig waren oder inzwischen zu anderen Anschlüssen führten. Er schaute verwirrt auf.
»Als ich Dich an jenem Morgen zu den Soldaten befragte, die mit uns im gleichen Hotel abgestiegen waren, hast Du behauptet, keinen von ihnen zu kennen«, erklärte Pragen auf Heinrichs verwirrten Blick hin und beantwortete damit eine Frage, die Heinrich auf der Zunge lag.
»Dir war dennoch klar, dass die Nachricht für mich war oder hast Du versucht, den Irrtum an der Rezeption aufzuklären?«, fragte Heinrich.
Pragen wiegte seinen Kopf. »Mir war klar, dass Du«, er suchte kurz nach den richtigen Worten, »Informationen zurückhältst. Ich habe Dich mehrfach darauf angesprochen, Dir sogar eine Liste vorgelegt, auf der Wilhelms Name stand. Du hast jedoch stets den Kopf geschüttelt.«
»Ich war ihm am Abend zuvor zum ersten Mal begegnet. Ich hatte nicht das Gefühl, dass diese flüchtige Bekanntschaft für Dich von Interesse sein könnte. Außerdem rechnete ich nicht damit, ihn wiederzusehen. Er versäumte nicht nur, ohne etwas zu sagen, unsere Verabredung zum Frühstück, sondern war auch nicht unter den Soldaten, die nach und nach in den Essenssaal trudelten. Hätte ich von der Nachricht gewusst, hätte ich das Ganze in einem anderen Licht gesehen«, verteidigte sich Heinrich.
Pragen wiegte seinen Kopf erneut. »Was wäre damals Dein unparteiischer Rat an mich gewesen?« Heinrich machte eine abwehrende Geste. Er wusste, dass Pragen nichts falsch gemacht hatte. Er hatte ihm eine Lüge durchgehen lassen und ausgenutzt, dass er die Wahrheit kannte. So arbeitete Pragen.
»Ich bin nicht unparteiisch«, erklärte Heinrich deswegen knapp.
»Es tut mir leid«, sagte Pragen und gab sich dabei spürbar Mühe, dass die Worte nicht einfach so dahingesagt klangen. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ich habe versucht, diesen Fehler wiedergutzumachen.«
Heinrich sah Pragen an: »Die Weihnachtsfeier?«
»Die Weihnachtsfeier«, bestätigte Pragen.
Heinrich fuhr mit seinen Fingern an den Kanten des kleinen Zettels entlang und fragte sich, ob Pragen die Notiz die ganzen vier Jahre in seinem Notizbuch aufbewahrt hatte: »Warum gibst Du mir diese Nachricht jetzt?«
»Ich wollte Dich nicht mit diesen Ungereimtheiten oder gar bitteren Gefühlen aus meinen Diensten entlassen«, seufzte Pragen.
»Entlassen?«, fuhr Heinrich auf.
Pragen machte eine schicksalsergebene Geste: »Köln erwirkte gestern die sofortige Aufhebung Deines Agentenstatus und stellte Dich unter direkte Dienstaufsicht des Heeresführungskommandos. Ich habe nun keine disziplinarische Handhabe mehr über Dich.«
Heinrich verzog das Gesicht. Er wünschte, sich verhört zu haben, doch die Worte des Oberstleutnants waren unmissverständlich.
»Damit war über kurz oder lang zu rechnen«, sagte Pragen. »Wilhelms Tagebuch hat die Entwicklungen sicherlich beschleunigt.«
Heinrich schaute Pragen aus dem Augenwinkel an: »Das Tagebuch, verstehe«, sagte er.
»Im Grunde hat es Dich noch recht glimpflich getroffen. Ich hatte Schlimmeres befürchtet und womöglich steht Dir noch Schlimmeres bevor.«
»Wie viel schlimmer kann es kommen?«
»Suspendierung vom Dienst, Disziplinararrest«, zählte Pragen auf und hielt inne. Er wusste, dass Heinrich die Möglichkeiten des Militärapparats, seine Soldaten zu züchtigen und zu strafen, kannte.
»Welche Vergehen wirft man mir konkret vor?«, fragte Heinrich.
»Keine Vergehen«, korrigierte ihn Pragen, während er in seinem Notizbuch nach vorne blätterte, »sonst säßen wir jetzt hier nicht so friedlich beisammen. Dennoch halt Köln einiges an Schnitzern zusammengetragen. Erstens«, sagte Pragen und holte tief Luft: »Unerlaubtes Entfernen aus dem Einzugsbereich Deines Standorts während des Diensts.«
»Aber Du selbst hast mich doch freigestellt«, unterbrach Heinrich Pragen beim Vorlesen der Liste.
Pragen sah Heinrich ernst an: »Ich hatte Dir ausrichten lassen, dass Du zu Hause bleiben und an der Akte weiterarbeiten sollst. Deine ständige Verfügungsbereitschaft vorausgesetzt. Du hast jedoch nicht nur ohne Einwilligung Deines Einheitsführers den Kommandobereich Deiner Dienststelle verlassen, sondern sogar das Gebiet der NATO. Zudem trägst Du vertrauliches Material mit Dir herum.« Pragen zeigte auf Heinrichs Tasche, aus der ein ihm bekannter brauner Umschlag herausragte. »Auch wenn ich auf Deiner Seite bin, konnte ich diesen Vorwürfen nichts entgegnen. Das Einzige, was ich für Dich tun kann, ist, auf eine Belehrung in militärischer Geheimhaltung und Gehorsam zu verzichten.«
Heinrich zuckte leicht mit den Mundwinkeln, sagte jedoch nichts.
»Zweitens«, fuhr Pragen nach einem Blick auf seine Liste fort: »Zweckentfremdung von ausschließlich für den Dienstgebrauch bestimmten Geräten und Informationen. In einem ähnlichen Dir bekannten Fall haben solche Vorwürfe zu einem Prozess wegen Spionage und Zersetzung geführt.«
Heinrich spannte seine Lippen, behielt jedoch auch dieses Mal seinen Kommentar für sich.
»Drittens–« Pragen ignorierte Heinrichs aufgewühltes Schweigen: »Vernachlässigung der Pflicht der Gesunderhaltung.« Auf Heinrichs Stirnrunzeln hin fügte er erklärend hinzu: »Doktor Jascheroff sagt, Du hast Deine Sitzung versäumt und ignorierst seit über einem Monat seine Bitte um Rückmeldung.«
»Ich zweifle an der Sinnhaftigkeit dieser Sitzungen mehr denn je und mache deswegen von meiner Entscheidungsfreiheit gebrauch, keine weiteren unnützen Termine wahrnehmen zu müssen. Jascheroff sollte mit dankbar sein, dass ich seine Zeit nicht weiter verschwende.«
Pragen wiegte seinen Kopf: »Es ist nicht wirklich Deine Entscheidung, sondern Teil der Übereinkunft, der du nach den Ereignissen in Leipzig zugestimmt hast. Die medizinische Beobachtung und therapeutische Behandlung der Spätschäden Deines–«, Pragen suchte kurz nach dem geeigneten Wort, »–Unglücks sind nun einmal Teil des Genesungsprogramms zur Erhaltung Deiner Wehrtauglichkeit. Die Sitzungen waren doch zuletzt nur alle halbe Jahre fällig.«
»Ich möchte Leipzig einfach nur vergessen. Darf ich das nicht?«
»Köln hätte diesem Versäumnis vermutlich keine weitere Beachtung geschenkt, wenn Wilhelms Tagebuch Deine Version der Leipziger Ereignisse nicht erneut auf den Tisch gebracht hätte.«
Heinrich starrte auf den braunen Umschlag.
»Du hast Wilhelm von Leipzig erzählt und er hat alles aufgeschrieben.«
»Alles?«, fragte Heinrich mit einem schnaubenden Lachen.
»Alles«, bestätigte Pragen. »Auch die Sache mit dem Agenten der Stasi. Selbst ich war überrascht.«
»Wilhelms naive und unbestechliche Aufrichtigkeit sowie sein Geltenlassen von unwahrscheinlichen Möglichkeiten machten ihn für mich von Anfang an zu einem wertvollen Zuhörer. Ihm konnte ich alles anvertrauen. Jascheroff hingegen erwartet, dass ich ihn belüge. Diese Form der Gesunderhaltung macht mich krank.«
Pragen machte ein betroffenes Gesicht.
»Ich habe mich auf diese Vereinbarung nur eingelassen«, fuhr Heinrich fort, »um Luise zu schützen und weil mir sonst eine Zwangsverordnung durch den zentralen Sanitätsdienst gedroht hätte. Es genügt jedoch nicht, dass ich die Termine bei Doktor Jascheroff absitze. Ich muss mich kooperativ zeigen, auswendig gelernte Antworten runterleiern und regelmäßig einen Heilungserfolg und mein Interesse an weiteren Behandlungen unterschreiben. Tue ich es nicht, verliere ich meine Tauglichkeit für alle Einheiten, in denen ich bisher gedient habe.«
Pragen nickte. Auf seiner Stirn hatten sich tiefe Falten gebildet: »Ich weiß, Du glaubst, ich habe Dir das eingebrockt, und ich fürchte, ich kann eine Mitschuld nicht abstreiten. Ich wünschte jedoch, Du hättest Dich mir eher anvertraut. Mir war nicht bewusst, dass deine Freiwilligkeit durch Nötigung und Erpressung erzwungen wurde. Dennoch kenne ich die von dir geschilderten Strukturen aus eigener Erfahrung. Die erste Regel, die ich nach meinem Eintritt in die Bundeswehr lernen musste war: jeder gegen jeden. Die Großen gegen die Kleinen und die Vielen gegen den Einen. Ich dachte schon mehr als ein Mal daran, meine Uniform mit dem goldenen Adler ein für alle Mal an den Nagel zu hängen.
»Und was hindert Dich daran, es zu tun?«
»Seien wir ehrlich: Ich bin mit das Beste, was diesem Laden je passiert ist. Das mag eitel klingen. Aber meine Arroganz macht zusammen mit einem leichten Hang zum Größenwahn einen wichtigen Teil meiner Persönlichkeit aus. Hätte ich damals zur Richterrobe des Zweiten Senats anstatt zur Uniform gegriffen, hätte ich sicherlich ein bequemeres Arbeitsleben gehabt und mehr Anerkennung verdient, aber hier kann ich kämpfen.«
Pragens Bekenntnis machte Heinrich verlegen. Er bedauerte, dass es während seiner Dienstzeit unter dem Oberstleutnant nie zu einer solchen Aussprache gekommen war, und er fragte sich, ob diese Offenheit erst am Ende eines gemeinsamen Weges möglich war.
»Viertens …« Als Pragen unvermittelt mit der Aufzählung fortfuhr, seufzte Heinrich laut. Er hatte genug gehört. Er schüttelte den Kopf und bat Pragen, es sein zu lassen. »Vielleicht kannst Du ja ein gutes Wort für mich einlegen«, bat er zerknirscht.
»Das habe ich bereits getan, doch wird Dir mein Beistand wenig nützen, da ich selbst in Ungnade gefallen bin. Kein noch so gutes Wort von mir wird Dich jetzt noch retten können. Auch nicht Dein Lächeln, Deine Verdienste und Auszeichnungen oder der Ruf Deines Vaters.«
Heinrich schnaubte: »Das Einzige, was mir der Ruf meines Vaters jemals beschert hat, sind die Demütigungen durch diejenigen, die meinen Vater kannten und schätzten und mich seiner unwürdig erachten. Zurecht, ich weiß. Sein Nachruf gibt mehr her als mein gesamter Lebenslauf, dabei war er mir nur etwa fünfzehn Jahre voraus.«
»Du hast den alten Luv doch längst überragt. Es war der dringende Bedarf der jungen Bundeswehr an nachwachsendem Führungspersonal, um die überalterten Wehrmachtsoffiziere auszukadern, was für ehrgeizige und vielversprechende Talente wie Deinen Vater und seinen Busenfreund Hans-Joachim Meissmann ein gutes Sprungbrett nach oben bot. Sie stiegen auf wie Sterne und machten sich selbst zu Göttern einer neuen Soldatengeneration. Die Gelder wurden ihnen geradezu hinterhergetragen und sie konnten sich in dem neu organisierten deutschen Heer so einige Freiheiten herausnehmen, die man heutzutage nicht einmal zu denken wagen würde. Aber Lysander Josef Luv hat nicht seinem Land gedient, sondern nur sich selbst.«
»Und was braucht das Land? Lakaien wie mich?«
»Nein, es braucht Menschen, die an die Idee unserer Verfassung glauben. Ich trage den Toten nichts nach, ich habe an den Lebenden genug. Aber wenn Dein Vater weiter gekommen ist als andere, dann nur deshalb, weil er sich nicht an die Regeln gehalten hat.«
»Was meinst Du damit?«
»Dein Vater, posthum ehrenhalber in den Dienstgrad eines Generalarztes gehoben, hat zu Lebzeiten zwei Eide geschworen und beide gebrochen.«
Heinrich, der bisher nur Lobreden auf seinen Vater und dessen Lebenswerk und Verdienste gewohnt war, runzelte überrascht die Stirn.
»Das, was Dich von Deinem Vater unterscheidet, ist das, was Dich für mich wertvoll macht. Erinnerst Du Dich noch an unsere erste Begegnung?«
Natürlich erinnerte sich Heinrich daran, wie der Oberstleutnant ihn damals während eines Wettkampfs aufgetaucht war und ihm eine von den Siegbedingungen abweichende Aufgabe für die bevorstehende Runde gestellt hatte. Pragens Anforderungen zu erfüllen, hatte Heinrich und Jan, die als Scharfschützenteam gemeinsam angetreten waren, damals den Sieg gekostet. Heinrich warf Pragen einen vorwurfsvollen Blick zu, um ihn wissen zu lassen, dass er sich sehr gut erinnerte.
Pragen ließ sich von Heinrichs Trotz nicht ablenken: »Weißt Du, warum ich es gerade auf Dich abgesehen hatte?«
»Wegen meines mit Bestleistungen abgebrochenen Studiums? Wegen der Ehrenurkunden und Medaillen, die ich an der Unteroffiziersschule und auf Führerlehrgängen errungen hatte? Wegen meiner herausragenden Leistungen als Schütze?«
»So ein Unsinn. Mit Auszeichnungen überhäufte Unteroffiziere gibt es zuhauf und welche Verwendung hätte ich für einen auch noch so guten Schützen? Pistolen und Gewehre sind nicht die Waffen, mit denen ich kämpfe. Ich brauchte jemanden mit Feingefühl, Instinkt und gesundem Menschenverstand.«
Heinrich verzog die Lippen. Lob machte ihn immer skeptisch.
»Alle Soldaten in unserer Dienststelle sind begabt und geben ihr Bestes. Aber Du warst mein bester Fährtenleser, wenn es darum ging Hintergründe, oder besser menschliche Abgründe, zu verstehen. Auch wenn formal Roth diese Aufgabe zusteht, warst immer Du meine rechte Hand. Ich konnte mich immer auf Dein waches Auge, Deine Sinnesschärfe und Loyalität verlassen.«
»Jetzt nicht mehr.« Heinrichs Stimme klang trotzig. Aber der Trotz galt nicht Pragen.
»Die vergangenen Wochen haben Deine emotionale Klarsicht getrübt. Das, was für mich immer Deine größte Stärke war, war am Ende auch Deine verwundbarste Stelle.« In Pragens Stimme lag aufrichtiges Bedauern. Er öffnete die Papierfalte am Ende seines Notizbuchs, wo er zuvor Wilhelms Nachricht hervorgeholt hatte, und zog ein Kärtchen mit dem Namen und der Telefonnummer eines Offiziers aus dem obersten Kölner Heereskommando heraus. Er gab es Heinrich: »Melde Dich noch vor Ablauf der Woche bei Oberst Loy. Er ist mit den Details Deines Falls vertraut und wird Dir beistehen.«
Heinrich nahm die Visitenkarte entgegen, und steckte sie, nachdem er sich mit einem wortlosen Nicken bedankt hatte, in seiner Brusttasche. Um es Pragen nicht unnötig schwerzumachen, entfernte er den goldenen Adler von seinem Jackenkragen und hielt ihn dem Oberstleutnant hin.
Pragen nahm ein durchsichtiges Plastikbeutelchen, die gewöhnlicherweise zur Aufbewahrung von Beweismaterial verwendet wurden, und deutete Heinrich, an die Anstecknadel in den Beutel zu legen. Dem Adler folgten Heinrichs Truppenausweis und seine Schlüsselkarte für die Münchner Büros. Mit jedem verlorenen Gegenstand fühlte sich Heinrich ein bisschen leerer, aber auch ein bisschen leichter.
Nachdem Pragen den Beutel verschlossen hatte, beschriftete er das aufgeklebte, weiße Etikett und ließ den Beuel in seiner Tasche verschwinden.
»Das Tagebuch, Heinrich, dann wären wir soweit quitt.« Pragen deutete auf den braunen Umschlag, der aus Heinrichs Tasche lugte.
Heinrich spürte einen Stich in der Brust. Obwohl er sich zunächst nur zögerlich mit dem Gedanken angefreundet hatte, Wilhelms Tagebuch zu lesen, war er inzwischen sicher, dass er es lesen musste: »Marcus«, sagte er bittend.
»Heinrich?« Pragen machte eine entschuldigende Geste.
»Ich schreibe eine Verlustmeldung«, schlug Heinrich vor. Er war verzweifelt.
Pragen Blick war jedoch unerbittlich: »München kann sich den Verlust einer Kölner Verschlusssache zurzeit nicht erlauben. Heinrich, die Lage ist ernst.«
Heinrich zog den Umschlag aus seiner Tasche und wagte zum ersten Mal, seit der Abrisskran seine Arbeit aufgenommen hatte, Richtung Institut zu schauen. Der Kobold, der nachts allein durch das leere Institut wanderte, und das Tagebuch, waren alles, was Heinrich noch von Wilhelm geblieben war. Mit Schrecken stellte Heinrich fest, wie weit der Abriss schon vorangeschritten war. Vom Dach und vom oberen Stockwerk war nichts mehr übrig und im Osten waren bereits die äußeren Seitenwände eingerissen.
Zwei der Polizisten und die Jäger saßen in ihren Autos. Nur der Polizeichef stand etwas abseits und beobachtete den Abriss. Er hatte den Kragen seines Mantels gestellt und die Hände in den Taschen und schaute einmal kurz zu Pragens Auto. Er schien auf den Oberstleutnant zu warten. Von dem Kobold war keine Spur zu sehen. Heinrich war sich nicht sicher, was er erwartet hatte. Er wusste auch nicht, ob es ihm lieber gewesen wäre, wenn sich der Kobold noch einmal gezeigt hätte.
Als sich Pragens Hand auf den Briefumschlag legte, bemerkte Heinrich wie fest er seine Hände darum geschlossen hatte. Er musste sich überwinden, um ihn loszulassen.
Pragen öffnete den Umschlag, ging den Papierstapel flüchtig durch und trug seine Kennung, seine Unterschrift und den Zustand der Verschlusssache in das dafür vorgesehene Formular und gab Heinrich die Übergabebestätigung.
Als Heinrich statt dem dicken Briefumschlag, plötzlich den dünnen Papierfetzen in der Hand hielt, spürte er, wie sich die Leere, die er bereits beim Verlust seiner Dienstabzeichen verspürt hatte, nun endgültig in ihm ausbreitete. Eine Leichtigkeit verspürte er dieses Mal nicht.
Während Pragen den Briefumschlag in einer schwarzen Mappe verschwinden ließ, nahm Heinrich seine Tasche auf den Schoß. Da er nicht wusste, wie er sich verabschieden sollte, sagte er einfach: »Na dann«, bevor er den Tragegurt seiner Tasche packte und sich zur Tür wand.
»Moment, Heinrich«, rief Pragen und hielt Heinrich an der Schulter zurück.
Heinrich ließ den Türgriff los: »Ich dachte, mit dem Tagebuch wären wir quitt?«
»Das sind wir auch, soweit es die dienstlichen Formalitäten betrifft.«
Heinrich schaute Pragen fragend an.
»Ich möchte, dass Du weiterhin für mich arbeitest.«
Heinrich verstand noch immer nicht.
»Lass es mich klar und deutlich sagen: Ich schätze Deine Dienste zu sehr, um wegen ein paar Lappalien darauf zu verzichten.« Er zeigte auf sein Notizbuch, das die Liste der Vorwürfe gegen Heinrich enthielt. »Bleibe mein Berater, meine rechte Hand, mein Freund. Du bist wie ich auf der Suche nach Wahrheiten. Lass uns unsere Informationen teilen und uns gegenseitig unterstützen.«
»Ich?«, fragte Heinrich und zeigte auf seine Nase. Er verstand langsam, worauf Pragen hinauswollte.
»Heinrich, Du und ich sind nicht die einzigen Suchenden. Ich kenne viele gute Menschen. Sie haben Zugang zu Informationen, sind Experten in ihrem Fachgebiet und haben ihr Herz am rechten Fleck.«
Heinrich schüttelte den Kopf: »Der Schattenstab, von dem Jan immer gesprochen hat, es gibt ihn wirklich?«
»Schattenstab?« Pragen schien das Wort zum ersten Mal zu hören. »Jeder hat seine eigenen Ziele und Methoden. Es gibt keine festen Strukturen. Das Einzige, was uns eint, ist unsere Suche nach Wahrheit.«
»Du rekrutierst mich für Deinen Schattenstab?« Heinrich konnte noch immer nicht ganz glauben, was hier gerade passierte.
»Ich helfe Dir, Wilhelm zu finden, und Du hilfst mir, mehr Meissmann herauszufinden.«
»Was müsste ich dafür tun? Bei Vollmond ein geheimes Pergament mit meinem Blut unterzeichnen?«
»Wir sind keine Jäger. Du musst keinen Bund mit dem Teufel eingehen und es gibt auch keine Freikugeln, die Dich am Ende Deine Seele kosten. Sag einfach ja.«
Heinrich versuchte zu ignorieren, wie unwirklich das alles klang, dachte einen kurzen Augenblick nach und sagte schließlich: »Ja.«
»Ich hatte gehofft, dass Du Dich für die Wahrheit entscheiden würdest.« Pragen griff in die Innentasche seiner Jacke und faltete ein weißes Blatt Papier auf: »Ich habe hier ein paar Informationen für Dich aufgeschrieben: Chiffrierverfahren und Kodierungsschlüssel, Radiofrequenzen und Sendezeiten, Telefonnummern, Adressen toter Briefkästen und die wichtigsten Standardprotokolle auf zwei Seiten. Diese Informationen könnten im Notfall für Dich hilfreich sein.«
Heinrich nahm das Blatt entgegen, ließ seinen Blick über die zwei handbeschriebenen Seiten schweifen und wollte das Papier gerade zusammenfalten und in seine Brusttasche zu dem Visitenkärtchen stecken, als Pragen ihn aufhielt: »Ich muss Dich bitten, Dir diese Informationen einzuprägen und das Dokument danach zu vernichten.«
Die Sache schien nun also doch eine Spur ernster, als Pragen es hatte scheinen lassen. »Okay«, sagte Heinrich: »Dann habe ich jetzt ja was zu tun.«
»Du wirst sehen. Die Chiffrierverfahren sind Dir bekannt und die Zahlen habe ich so aufgeschrieben, dass sie sich beim Lesen reimen. Reicht Dir eine Stunde? Ich habe ohnehin noch etwas mit dem Polizeichef zu besprechen.«
Heinrich machte eine verabschiedende Geste und Pragen stieg aus.
Der Stoß frischer Luft, der ins Auto geweht war, als Pragen ausgestiegen war, tat gut. Nach Lernen war Heinrich jedoch nicht zumute. In der vergangenen Stunde waren so viele Worte gesprochen und Gedanken gedacht worden, dass sein Kopf davon überquoll. Das Murnauer Protokoll, die drohende Disziplinarermittlung, Pragens Geschichten über Freikugeln und Jäger und nun musste er für die Aufnahmeprüfung in Pragens Schattenstab büffeln.
Wenn Jans Theorie stimmte, bestand Pragens Schattenstab aus Agenten verschiedener Geheimdienstorganisationen, zivilen Informanten, unabhängigen Sachverständigen und Freigeistern. Laut Jan setzte Pragen seine Schattenkanäle ein, um schnell und unkompliziert an Informationen zu gelangen, unnötiges Aufsehen zu vermeiden, unparteiische Meinungen einzuholen oder um moderne Technik zum Einsatz zu bringen. Nun sollte Heinrich selbst zu diesem Kreis gehören. Das musste er Jan erzählen.
Interessiert beobachtete Heinrich, wie Pragen auf den Polizeichef der Rigaer Polizei zusteuerte und sich dieser mit einem freundlichen Lächeln und einer ausschweifenden Geste dem Oberstleutnant der Bundeswehr zuwandte. Die beiden schienen wie alte Vertraute. War der Polizeichef etwa auch Teil von Pragens Schattenstab?
Heinrich schaute auf den Zettel, den Pragen ihm gegeben hatte. Eine Matrix aus Telefonnummern und Kürzeln bedeckte den oberen Teil der Vorderseite mit Ziffern und Buchstaben. Darunter befand sich auch eine geheime Rufnummer von Pragen selbst sowie eine Nummer, die Heinrich zugedacht war. Das System war einfach zu durchschauen. Heinrich brauchte sich nur eine der Nummern sowie den Aufbau der Matrix und die Berechnungsvorschrift zu merken, um die übrigen Informationen jederzeit aus diesen drei Bausteinen zusammenstellen zu können.
Die Zahlenreihen und -spalten erinnerten Heinrich an seine Zeit bei den Fernspähern, wo er als Scharfschütze ähnliche Tabellen verwendet hatte. Für jede Waffe und jeden Munitionstyp gab es eine eigene Tabelle. Da die Flugkurve jedoch von weiteren Faktoren wie Distanz, Höhe, Wind und Temperatur beeinflusst wurde, gab es für die dadurch bedingten Abweichungen ebenfalls Tabellen. Die meisten seiner Kameraden hatten deswegen stets eine ausgedruckte und regendicht eingeschweißte Kopie dieser Tabellen griffbereit in ihrer Tasche gehabt oder einen Rechner verwendet. Heinrich hatte zu denjenigen gehört, die die wichtigsten Stützwerte zur Ermittlung der Flugbahnen von Projektilen einfach auswendig gelernt hatten, weswegen er sich mit Pragens Lernauftrag nicht sonderlich schwertat.
Auch im nächsten Abschnitt profitierte er von seiner Ausbildung bei den Fernspähern. Die Einteilung von Deutschland in Planquadrate, deren Kreuzungen die Adressen von toten Briefkästen ergaben, ähnelte den Gitterlinien, mit denen er damals Geländekarten in Zonen eingeteilt hatte, um relative Ortsangaben machen zu können. Er prägte sich die Metrik und die Regeln ein, bevor er zu den Protokollen überging. Auch diese fand Heinrich recht eingängig. Er musste sich nur wenige Signale merken, um sie verstehen und selbst anwenden zu können. Zuletzt folgten die Verschlüsselungsalgorithmen. Da Heinrich mit den Verfahren ohnehin vertraut war, musste er sich lediglich die Zahlenschlüssel einprägen. Obwohl sich alles in ihm gegen die Lernerei sträubte, hörte er sich die langen Zahlenfolgen im Geiste so oft ab, bis er sie fehlerfrei wiedergeben konnte.
Als Heinrich auf die Uhr schaute, war erst eine halbe Stunde vergangen. Er legte eine kurze Pause ein und schaltete das Radio ein, um sich ein wenig abzulenken. Draußen waren inzwischen auch die beiden Polizisten aus dem Wagen ausgestiegen, um sich die Beine zu vertreten und etwas zu trinken. Aus der Thermosflasche, aus der sie ihre Tassen füllten, stieg Dampf auf. Vermutlich tranken sie Kaffee oder Tee. Der Kranführer brachte gerade den Kran in eine neue Position. Er musste dazu das Fahrzeug umsetzen und neu stabilisieren, was ein aufwändiger Vorgang war.
Heinrich drehte das Radio leiser, wiederholte die Formeln und dachte an Wilhelm. Der Kobold und das Murnauer Protokoll hatten ihm Wilhelms verletzliche Seite gezeigt. Er kannte zwar Wilhelms gelegentliches Hadern, wenn er sich unsicher war, und auch seinen Unmut, wenn seine Beharrlichkeit auf die seiner Dienstvorgesetzten traf und er sich seiner Meinung nach unsinnigen Befehlen fügen musste, aber der Kobold hatte Heinrich Wilhelms Einsamkeit und Verlorenheit gezeigt. Der kleine Junge war tapfer gewesen, aber Tapferkeit war eine Tugend, der Entmutigung und Schmerz vorausging. Das Gleiche galt für das Murnauer Protokoll.
Erneut ging Heinrich Pragens Liste durch. Die Zahlenketten machten ihn jedoch müde, weswegen er die Fenster zu seiner Rechten und seiner Linken öffnete, um nochmals einen Schwung frischer Luft hereinzulassen. Als er sich zur Fahrertür rüberlehnte, um das Fenster herunterzukurbeln, fiel sein Blick auf Pragens schwarze Mappe, in der sich der Briefumschlag mit Wilhelms Tagebuch befand. Nach einem Blick nach draußen, wo sich Pragen noch immer mit dem Polizeichef unterhielt, entschied sich Heinrich jedoch, der Versuchung nicht nachzugeben. Stattdessen ließ er sich zurück in das Polster des Beifahrers sinken, zerknüllte den Zettel, den er sich inzwischen oft genug abgehört hatte, und setzte ihn mithilfe des Zigarettenanzünders in Flammen. Mit spitzen Fingern hielt er den glühenden und züngelnden Papierklumpen zum Fenster der Beifahrertür hinaus.
Als die Flammen zu groß wurden und seine Fingerspitzen erreichten, ließ Heinrich das brennende Knäuel fallen und beobachtete wie die Flammen langsam auf der nassen Wiese erloschen und nur ein schwarzes Häufchen aus Asche und verkohlten Papierresten zurückließen. Während er auf die Überreste starrte, wiederholte Heinrich ein letztes Mal das Gelernte und sank zurück in den Autosessel.
Pragen hatte die Flammen gesehen. Er gab Heinrich jedoch mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er sich noch einem Moment gedulden sollte. Heinrich kam diese Aufforderung gerade recht. Er schloss die Fenster, kippte die Lehne seines Sessels nach hinten und schloss die Augen. Er wollte nicht schlafen, nur kurz nichts sehen und an nichts denken.
In Heinrichs Unterbewusstsein war es stockfinster und es blieb selbst dann dunkel, als er seine Augen öffnete. Vorsichtig streckte er seine Hand aus und machte ein paar zögerliche Schritte. Das Gehen fiel ihm jedoch schwer, weil seine Füße am Boden festzukleben schienen. Er hatte Mühe sie zu heben, und wenn er sie wieder absetzte, schien er im Boden zu versinken.
Er wusste, wo er war. Er war an dem Ort gelandet, an dem sich verschiedene Welten überlagerten, die Erinnerungen des Kobolds mit seinen eigenen Träumen und mit Wilhelms Gegenwart. Er wusste allerdings nicht, wie er an diesem Ort seinen Kurs bestimmen konnte. Letzte Nacht hatte der Kobold die Geometrie des Raums und die Wirklichkeit vorgegeben und Heinrich war seinen Launen wehrlos ausgeliefert gewesen. Dieses Mal wollte er seinen eigenen Weg gehen.
Das Vorankommen fiel ihm jedoch zunehmend schwer. Auch die Luft schien immer dicker zu werden, sodass er sich bei jedem Schritt mit Kraft nach vorne stemmen musste. Seine Augen hatten sich jedoch inzwischen genügend an die Dunkelheit gewöhnt, dass er die Schatten um sich herum ausmachen konnte, die ihn am Boden halten wollten und ihn nach hinten zogen, wenn er vorwärts lief. Mit einem Ruck riss sich Heinrich los und versuchte ein paar schnelle Schritte, um sich mit Anlauf in die Luft zu erheben. Sein plötzlicher Widerstand schüttelte die Schatten für kurze Zeit ab und es gelang ihm, der Reichweite ihrer tentakelartigen Finger zu entfliehen.
Als er in der Luft schwebend nach unten sah, bemerkte er, wie der Boden aufbrach und weitere Schatten daraus hervorströmten. Es waren jedoch, wie Heinrich bald erkannte, keine einzelnen Tentakel, sondern Fühler und Gliedmaßen einer gewaltigen insektenartigen Gestalt. Heinrich flog weiter in die Höhe, um Abstand zu gewinnen. Er kannte das Insekt. Es lauerte in dunklen Träumen, war immer hungrig und stillte seinen Hunger, indem es Schmerzen zufügte.
Heinrich bewegte sich immer weiter von dem riesigen Insekt weg, ohne ihm den Rücken zuzuwenden. Er hoffte, dass es seine Fährte verlor, wenn er keine Angst zeigte. Er hatte das Gefühl, dass ihn die Ereignisse der letzten Nacht stark gemacht hatten, doch gerade, als er begann, sich sicher zu fühlen, öffnete das Insekt langsam ein Auge.
Obwohl er sich befahl, ruhig zu bleiben, ließ ihn ein unkontrollierbarer Fluchtreflex mit den Beinen strampeln. Die Plötzliche Bewegung kostete ihn sein Gleichgewicht, sodass er mit beiden Armen durch die Luft ruderte, um sich wieder zu fangen. Wie durch diesen Aufruhr aus seiner Lethargie geweckt, öffnete das Insekt sein Auge nun vollständig und visierte seine Beute an.
Heinrich starrte zurück und war fest entschlossen, diesen Kampf so zu gewinnen, wie er in der Nacht zuvor den Kobold bezwungen hatte. Das Insekt zeigte sich von seiner Entschlossenheit jedoch unbeeindruckt, als es nach vorne schoss und eine silberne Klinge zwischen Heinrichs Rippen fahren ließ.
Für einen Augenblick war Heinrich zu überrascht, um Schmerz zu empfinden. Es war jedoch nicht der unerwartet stürmische Angriff oder die plötzlich sehr zu seinen Ungunsten veränderte Lage, was ihn so sehr in Überraschung versetzte, sondern die schlanken, bleichen Hände, die den Griff der Waffe, die in seiner Brust steckte, umklammert hielten.
Heinrich war verwirrt. Der Kobold lebte und streunte am helllichten Tag außerhalb der Institutsmauern umher? Heinrich hatte ihn ertrinken lassen und ein Kran war gerade dabei, das Geisterhaus dem Erdboden gleichzumachen. Dennoch war der Fluch ungebrochen. Heinrich überlegte, ob er den Kobold mitgenommen hatte und er nun ein Teil von ihm war. Heinrich wollte eine seiner vielen Fragen laut werden lassen, doch in diesem Moment zog der Kobold die Klinge aus der Wunde. Heinrich schrie vor Schmerz, als sein Körper zersprang wie ein Gefäß aus Glas, aus dessen Inneren sich ein gefangenes Wesen befreite, indem es die Wände um es herum aufsprengte.
Die Scherben hingen einen kurzen Moment schwerelos in der Luft und Heinrich verging vor Schmerz Hören und Sehen. Während die Dunkelheit um ihn herum langsam wieder Form annahm, hörte er das Zischen, mit dem die zu Boden fallenden Splitter die Luft zerschnitten. Jedes Mal, wenn ein Splitter auf dem Boden aufschlug und in kleinere Splitter zerbrach, durchfuhr ihn eine Welle des Schmerzes.
Als Heinrichs Körper schließlich am Boden lag, schwebte über dem Scherbenhaufen eine glitzernde Wolke in der Luft und in der Wolke befand sich sein Sehen und Denken. Der Kobold trat einen Schritt zurück. Er hatte nichts mehr gemein mit dem selbstsicheren Jungen von der Nacht zuvor. Er wirkte ängstlich, verwirrt: »Du hast gesagt, ich müsse alles zurücklassen«, sagte er schließlich. Er imitierte seinen eigenen Trotz, doch seine Stimme zitterte.
Heinrich nahm die ihm verbliebene Kraft zusammen und versuchte zu sprechen, doch seine Stimme war nur ein Windhauch, der die glitzernde Staubwolke aufwirbelte und seine Schmerzen vergrößerte. Statt zu sprechen, blickte sich Heinrich deswegen vorsichtig um.
Er befand sich auf einem Acker. Es gab jedoch keine Bepflanzung, sondern nur kantige Erdklumpen, aus denen hier und da kurze, vertrocknete Getreidehalme ragten. In einer der Furchen, die wohl von den Klingen einer Landmaschine in den Boden geschnitten worden waren, lagen Heinrichs Scherben. Es war kalt, der Boden gefroren. Heinrich hatte das Gefühl, von innen heraus zu erfrieren. Der Frost drang in sein Herz, seinen Verstand und in jede einzelne Körperzelle. Das unerfüllbare Verlangen, sich zusammenzurollen, die Beine anzuziehen und die Arme um sich zu schlingen, schmerzte fasst mehr, als die Zerbrochenheit.
»Ich habe nur getan, was Du gesagt hast.« Die Stimme des Kobolds zitterte noch immer und schlug bei dem Versuch, laut und beherrscht zu klingen, in ein Schluchzen um.
Trotz der Schmerzen und der Kälte, hob Heinrich seinen Blick. Dem Jungen liefen Tränen über beide Wangen, während er auf Heinrich herabblickte. In seiner Hand hielt er ein Skalpell, das im Mondlicht silbern leuchtete.
Heinrich erinnerte sich, als läge es Jahre zurück, an den Stich in seiner Brust. Das war also das Skalpell, das ihn getötet hatte. Und so fühlte es sich an, zu sterben, schmerzvoll und kalt.
»Ich werde jetzt ein richtiger Junge. Wie Du.« Die Stimme des Kobolds war lauter geworden. Er schrie, um nicht zu schluchzen, und wich über den unebenen Acker ein paar Schritte zurück, bis er stolperte und fiel. Erschrocken schaute er sich um und warf das Skalpell vor sich auf den Boden, als hätte ihn jemand ertappt.
Als Heinrich seinem Blick folgte, sah er jedoch, dass die Gestalten, die um sie herumstanden, sich weder um den Jungen noch das Skalpell scherten. Obwohl sie kein Gesicht hatten, erkannte Heinrich sie sofort. Wie in unzähligen Träumen zuvor standen sie in ihren zerlumpten Gewändern in der Dunkelheit und sahen ihm beim Sterben zu. Er versuchte erst gar nicht, um Hilfe zu rufen. Die Gestalten hörten ihn nicht. Und sie regten sich nicht. Sie starrten nur. So war das immer.
Als das Glimmen der Kristallwolke nachließ, wurde es langsam dunkel um Heinrich herum. Nicht weil der Mond aufgehört hatte zu scheinen, sondern weil mit dem verlöschenden Glimmen Heinrich seine Fähigkeit zu sehen verlor. Erst verschwanden die dunklen Gestalten und dann der Junge. Eine Zeitlang sah er noch die silbernen Kristalle in der Luft schweben, doch dann erloschen auch sie vollständig. Es war immer wieder ein scheußliches Gefühl. Er würde sich nie daran gewöhnen.
Heinrich wurde von einem stechenden Schmerz in seiner linken Hand geweckt. Die Wunde, die er von der Glasscherbe der Lampe erhalten hatte, brannte. Als er die Augen öffnete und bemerkte, dass er sich an Pragens Jacke festhielt, löste er erschrocken seinen Griff, woraufhin das Brennen langsam wieder abklang.
Pragen sagte nichts. Er sah Heinrich nur besorgt an, strich schließlich seine Jacke glatt und reichte Heinrich eine Flasche Wasser.
Bevor Heinrich die Flasche nahm, fuhr er sich mit dem Handrücken über die Lippen, weil er befürchtete, dass er mit Nasenbluten erwacht war. Pragen verfolgte die Bewegung mit einem scharfen Blick.
»Hast Du schlecht geträumt?«, fragte er betont. Sein Blick war noch immer eindringlich und forschend.
Heinrich schüttelte den Kopf. »Alles bestens«, erklärte er. »Du möchtest mich bestimmt die Protokolle abhören.«
Pragen nickte: »Nur um sicherzugehen, dass Du alles richtig verstanden hast.«
Obwohl er sich nach dem kurzen Schlaf erschöpfter fühlte als zuvor, gelang es Heinrich, alles fehlerfrei wiederzugeben. Pragen erlaubte sich, Heinrich nochmals die Regeln einzuschärfen, die oft vergessen wurden und zu verlorenen Nachrichten führten oder zu einem Zahlen-und-Buchstabenwust, der nicht entschlüsselt werden konnte, bevor er die Prüfung mit einem zufriedenen Nicken als bestanden erklärte.
Nachdem der Theorieteil der Ausbildung abgeschlossen war, wusste Heinrich jedoch nicht, wie er das Gelernte zum Einsatz bringen konnte. Er brauchte jedoch nicht zu fragen. Nach einem Griff auf die Rückbank, wo er zuvor die Backwaren und die Thermoskanne hergeholt hatte, gab ihm Pragen die Antwort auf seine unausgesprochnen Fragen in Form eines Mobiltelefons.
Überrascht wog und wendete Heinrich das Gerät in seiner Hand. Sein minimalistisches Design und sein ungeheures Gewicht, ließen ihn erahnen, dass er hier einen Prototyp der Rüstungsindustrie oder ein Stück Weltraumtechnologie in der Hand hielt.
»Jäger kämpfen mit Freikugeln. Ich ziehe moderne Technologie einem Pakt mit dem Teufel vor«, kommentierte Pragen Heinrichs neugierigen Blick.
»Erwarte allerdings nicht zu viel von dem Gerät«, schob Pragen schnell hinterher: »Du kannst Dich damit zwar fast weltweit mit dem vorkonfigurierten privaten Netz verbinden, aber wie so oft sind die Ausnahmen das Problem. Damit meine ich nicht die Polregionen oder die Hochsee, wo das Netz unerreichbar ist, sondern sämtliche Areale mit schlechter Sicht auf den Himmel: Wälder mit hohen Bäumen, tiefe Schluchten, dicht bebaute Stadtbezirke. Auch in Gebäuden und Fahrzeugen wird der Verbindungsaufbau schwer bis unmöglich. Deswegen bietet das Netz die Möglichkeit, Rückrufgesuche zu hinterlassen. Je nach Verbindung ist es ratsam, unser Subprotokoll zu verwenden, anstatt einen Sprachanruf zu versuchen. Aber wenn es funktioniert, ist es abhörsicher und erreicht die Übertragungsgeschwindigkeiten von gewöhnlichem Funk.«
Als Heinrich das Gerät einschaltete, deutete Pragen nach oben.
Heinrich nickte. Nicht in Fahrzeugen und nicht im Wald. Er schaltete das Gerät wieder ab und verstaute es in seiner Tasche: »Ich bin müde«, seufzte er entschuldigend.
»Ich hätte Dich vorhin schlafen lassen, aber Dein Schlaf schien ungesund.« Pragen sah Heinrich mit demselben durchdringenden Blick an, mit dem er ihn nach dem Aufwachen angeschaut hatte.
»War es derselbe Traum?«, fragte Pragen schließlich. Als Heinrich nur die Stirn runzelte, wurde Pragen konkreter: »Der Traum von der Dunkelheit, den reglosen Gestalten und dem Sterben?«
Nach einem kurzen Moment der Überraschung wurde Heinrich klar, dass Wilhelm seine dunklen Träume in seinem Tagebuch erwähnt haben musste. Er räusperte sich und dachte nach. Es war nicht derselbe Traum gewesen. Pragen hatte bis zu einem gewissen Grad Recht: Die stummen Gaffer und der tödliche Stich in die Brust gehörten zu seinem immer wieder kehrenden dunklen Traum. Aber der Kobold gehörte nicht dazu. Er war neu. Auch das Skalpell war neu.
Heinrich fragte sich, wie der Kobold in seinen Traum geraten war. War er immer schon dagewesen und war erst jetzt sichtbar geworden? Oder hatte er sich in Heinrichs Träume gerettet, um nicht zusammen mit dem Institut dem Erdboden gleichgemacht zu werden? Der Kobold hatte der Dunkelheit in Heinrichs Traum jedoch Substanz verliehen. Endlich hatte die Wunde einen Verursacher. Die Trauer ein Ziel. Und aus dem Sterben war ein Mord geworden. Der Traum war nicht mehr derselbe.
»Ich schließe auf ein ja«, sagte Pragen nach Heinrichs langem Schweigen. »Seit wann ist es wieder schlimmer geworden?«
Nun war es Heinrich, der Pragen durchdringend ansah. Wie viel hatte Wilhelm über ihn in seinem Tagebuch festgehalten?
»Als wir uns heute Morgen begegneten, war Dein Gesicht voller Blut. Und als ich Dich vorhin aufgeweckt habe, hast Du Dir besorgt über die Lippen gewischt«, erklärte Pragen.
»Und?«, fragte Heinrich.
Pragen seufzte: »Ich nehme an, Du hattest Nasenbluten und ich frage mich, ob das alles zusammenhängt: Meissmanns Institut, Deine Träume und Wilhelms Tagebuch. Wilhelm erwähnt dort eine Person namens Tomo und er verwendet eine Art Geheimsprache. Sie taucht sehr früh, gleich am Fuß des ersten Eintrags auf. Du hast den Anfang des Tagebuchs gelesen, sagtest Du. Vielleicht kennst Du sie–«, Pragen nahm sein Notizbuch und blätterte darin.
»Oy miwuen hoalan haatohoalsong, haatomisong mian hoalwuen Yo,«, sagte Heinrich, um Pragen die Suche nach seiner Abschrift der Textzeile zu ersparen, nahm seine Tasche und stieg aus. Er brauchte frische Luft. Er musste sich bewegen.
Pragen sprang ebenfalls aus dem Auto und war erleichtert, als er sah, dass Heinrich seine Tasche auf der Kühlerhaube abgestellt hatte: »Was sagst Du dazu?«, fragte er, während Heinrich auf und ab lief, beide Hände zu Fäusten ballte, kurz das Gesicht verzog und nach ein paar Schlägen in die Luft erneut auf und ab lief.
»Die Worte sind Dir gerade mit Leichtigkeit über die Lippen gesprudelt«, sagte Pragen.
»Ich habe mich intensiv damit beschäftigt und mich auch an einer Übersetzung versucht«, sagte Heinrich etwas atemlos, während er erneut in die Luft schlug. Er spürte, wie trotz des kurzen, unruhigen Schlafs seine Kräfte zurückkehrten. »Ich bin jedoch zu keinem Ergebnis gekommen.«
»Du weißt, ich bin immer offen für Spekulationen«, sagte Pragen. Als Heinrich darauf nichts erwiderte, fügte er hinzu: »Ich war gestern in Genf.« Beim letzten Wort blieb Heinrich abrupt stehen und ließ die Fäuste sinken.
»Im maison de santé de l’âme et de la vie oder zu Deutsch Sanatorium für die Gesundheit von Geist und Leben«, erklärte Pragen, um Heinrich nicht auf die Folter zu spannen.
Heinrich verstand. Wilhelm hatte in seinem Bericht über Heinrichs Träume nichts ausgelassen, weder das Nasenbluten noch Genf.
»Auf den ersten Blick hat das maison bis auf den ähnlich klingenden Namen nichts mit Meissmanns Institut gemein. Von der Lage her unterscheiden sie sich jedenfalls deutlich.« Pragen schaute sich um und nickte, um seine Aussage zu unterstreichen. »Wären die Umstände erfreulicher gewesen, hätte mein Besuch im maison, so kurz er auch war, sicherlich eine erholsame Wirkung gehabt. Das Sanatorium liegt auf einem sonnigen grünen Hügel und bietet einen wundervollen Ausblick auf den schneebedeckten Gipfel des Mont Blanc und auf den Genfer See«, fuhr Pragen fort.
Heinrich schwieg.
»Die Ärzte und das Personal waren allesamt freundlich und hilfsbereit. Sie boten mir sogar ein Zimmer für die Nacht an, doch ich hatte keine Zeit zu bleiben, da ich aus Dir bekannten Gründen nach Lettland reisen musste.«
»Wenn Du Dich über die schöne Aussicht des Sanatoriums und die freundlichen Mitarbeiter unterhalten möchtest, bist Du bei mir an der falschen Adresse. Mein Zimmer hatte keine Fenster und die Mitarbeiter behandeln Besucher offenbar zuvorkommender als Patienten. Das Ganze liegt bald zwei Jahrzehnte zurück. Ich war damals dreizehn Jahre alt und der Autorität meines Vaters sowie der Willkür der Ärzte, die mich quälten und es Behandlung nannten, ausgeliefert. Wieso erteilt man Dir dort Auskunft?«
»Als Jascheroff wegen Deiner säumigen Therapiesitzungen Kontakt zu mir aufnahm, nutzte ich die Gelegenheit und bat ihn als medizinischen Sachverständigen und Deinen behandelnden Arzt darum, eine Anfrage zur Akteneinsicht an das Schweizer maison zu stellen. Die Schweizer zeigten sich äußerst kooperativ. Sie wollten uns zwar keine Kopie Deiner Krankenakte zuschicken, luden uns aber ein, vor Ort Einsicht in die auf Mikrofilm gespeicherten Akten zu nehmen und uns die begleitenden Tonbandaufnahmen anzuhören. Jascheroff war Genf zu weit weg, aber ich nahm den nächsten Flieger und stand in weniger als zwei Stunden vor dem Eingangstor des maison.«
»Und was erhofftest Du Dir davon, in den Leiden meiner Jugend herumzustochern?«
»Ich wusste, dass Meissmann und Lysander Josef Luv des öfteren Kongresse in der Schweiz besucht hatten – in Genf um genau zu sein. Als ich den Namen des Sanatoriums las, in dem Du behandelt worden warst, musste ich herausfinden, was es damit auf sich hat.«
»L’âme et la vie – Seele und Leben, naja«, sagte Heinrich zweifelnd. Er fand Pragens Euphorie übertrieben und die angebliche Ähnlichkeit zu Meissmanns Institut für Geist und Leben weit hergeholt: »Wenn man die Branchenbücher nach Institutionen dieser Art durchsucht, findet man sicher viele ähnlich klingende Namen.«
»Wie lebendig sind Deine Erinnerungen an das maison?«, fragte Pragen.
Heinrich erinnerte sich an nichts, was für Pragen von Bedeutung sein konnte. Deswegen schwieg er und wartete darauf, dass Pragen seine Erinnerung auffrischen würde.
»Professor Laurentius war Dein behandelnder Arzt.«
Heinrich zuckte mit den Schultern. Er war sich nicht sicher, ob er selbst auf den Namen gekommen wäre. Er klang jedoch vertraut.
»Er diagnostizierte Dir damals eine schwere Form von Nachtschreck«, fuhr Pragen fort, »eine auch unter dem Begriff Pavor Nocturnus bekannte Schlafstörung. Laut den Aufzeichnungen des maison war Dein Schlaf von rastlosen Phasen durchsetzt, während derer Du zuckend im Bett lagst oder verängstigt im Zimmer umherliefst. Dabei redetest Du entweder wirres Zeug oder schriest. Dein Puls und deine Atmung waren am Anschlag und wurden von Schweißausbrüchen und Nasenbluten begleitet. Diese körperlichen Stressreaktionen wurden während der Behandlung schwächer und hörten schließlich ganz auf. Von den Alpträumen selbst wurdest Du jedoch nie wirklich kuriert.«
Pragen schaute Heinrich eindringlich an und fragte schließlich, da dieser beharrlich schwieg, ausdrücklich nach: »Der Nachtschreck ist zurückgekehrt, nicht wahr? Und mit ihm das Nasenbluten. Ich hatte es bereits befürchtet, als ich Dich heute morgen sah, und Dein unruhiger Schlaf vorhin hat meine Befürchtung bekräftigt.«
Heinrich schüttelte den Kopf. Die Umstände der vergangenen Nacht waren zu kompliziert, um sie Pragen zu erklären. Er bezweifelte, dass es außer seiner Großmutter einen Menschen gab, der die Ereignisse der letzten Nacht verstehen konnte.
»Amnesie gehört ebenso zu dem Krankheitsbild wie die ständigen Alpträume. Es tut mir leid, dass Du als Kind so sehr gelitten hast.« Obwohl das Mitgefühl in Pragens Stimme aufrichtig klang, zuckte Heinrich wieder nur mit den Schultern. Er hatte keine Lust auf Pragens Mitleid. Ihm war das ganze Gespräch unangenehm.
»Ich habe mir auch die Tonbandaufnahmen angehört«, erzählte Pragen weiter. »Dein Wimmern und Schreien klang so verzweifelt, dass es mich Überwindung kostete, die Aufnahmen bis zum Ende durchzuhören. Es gab zwar auch Abschriften der Tonbandaufnahmen, aber die waren sehr lückenhaft. Als ich nachfragte, woran das lag, erklärten sie mir, dass schlafende Patienten oft schwer zu verstehen seien, da im Schlaf die Muskeln nicht richtig mitspielen und durch die Stresssituation Krämpfe im Zwerchfell und Kehlkopfbereich entstehen. Diese Erklärungen passten zu dem, was ich hörte. Du sprachst wie nach einer Zahnarztspritze, oder als würde jemand auf Deinem Brustkorb sitzen und Dir den Hals zudrücken. Es gab jedoch einen zweiten Grund, warum Deine Traumprotokolle so viele Lücken aufwiesen.«
Heinrich machte ein skeptisches Gesicht. Er ahnte, worauf Pragen hinauswollte.
»Du sprachst manchmal in einer Fantasiesprache. Und für diese Passagen interessierte ich mich am meisten. Warte kurz«, sagte Pragen und holte etwas aus dem Auto. »Ich habe zwar keine Kopien der Tonbänder, aber ich habe einzelne Sätze aufgenommen. Hör Dir das an.«
Als Heinrich ein Diktiergerät in Pragens Hand sah, machte er eine abwehrende Geste: »Ich möchte es nicht hören. Das meine ich ernst. Mach das nicht an.« Heinrichs Stimme klang so eisig, dass Pragen das Diktiergerät auf die Motorhaube legte und die leeren Hände hob.
»Wenn Du Geister jagen willst, Marcus, bitte«, sagte Heinrich: »Aber nicht in meinem Kopf. Ich bin froh über alles, was dort oben noch intakt ist.«
»In Ordnung«, sagte Pragen in einem beschwichtigenden Tonfall, während er langsam die Hände runternahm. »Aber lass es mich erklären.«
Heinrich verschränkte die Arme über der Brust und hörte zu.
»Ich habe Wilhelms Kauderwelsch von einem Sprachlabor modulieren lassen. Unterschiedliche Sprecher imitierten verschiedene Sprachen und erzeugten durch Heben und Senken der Stimme und anderen Techniken zusätzliche Variationen. Mal klang es fließend, mal hart. Mal nasaliert, mal klar. Mal sprachen sie mit gerolltem r, mal mit gehauchten h. Mal machten sie lange Pausen, mal lasen sie den Satz wie ein einziges langes Wort. So sind vierzig verschiedene Sprachmuster zustande gekommen, die ich mir auf meiner Reise nach Genf immer wieder angehört habe. Deswegen erkannte ich die Worte sofort wieder, als ich Dich auf den Tonbändern des Sanatoriums dasselbe Kauderwelsch sprechen hörte. Die Melodie passte sogar zu einer der Modulationen des Sprachlabors, eine Mischung aus Französisch und Deutsch. Aber so wie Du es vorhin gesagt hast, klingt es perfekt.«
Heinrich schüttelte den Kopf.
»Hast Du je die Parallelen zwischen Dir und Wilhelm gezogen?«, fragte Pragen unnachgiebig, woraufhin Heinrich nur mit den Augen rollte. »Ihr wurdet beide am 21. Januar 1963 geboren«, fuhr Pragen hastig fort, bevor Heinrich seinen Unwillen vehementer kundtun konnte. »Beide in Lettland: Du in einem großen Rigaer Krankenhaus, während Wilhelms genauer Geburtsort ungewiss bleibt. Er selbst glaubt zwar, in diesem Institut geboren zu sein«, Pragen deutete mit einer Kopfbewegung zur Brandruine, »aber ich würde mich in diesem Punkt nicht unbedingt auf Wilhelms Aussage verlassen. Über den Tag unserer Geburt wissen wir alle nur vom Hörensagen Bescheid. Er könnte in demselben Krankenhaus zur Welt gekommen sein wie Du.«
Heinrich blieb unbeeindruckt.
»Dein Vater, Lysander Josef Luv, und Hans-Joachim Meissmann, dessen Verflechtung mit Wilhelm noch geklärt werden muss, aber offenbar der einer Vaterfigur nahekommt, waren eng vertraute Kameraden und Kollegen. Die dienten im gleichen Bataillon, besuchten die gleiche Universität und hatten denselben Doktorvater, Viktor von Leyden, den Gründer des Instituts. Zwei Dir und Wilhelm sehr nahstehende Personen waren somit, was man durchaus als gute Freunde bezeichnen kann.«
»Ich stand meinem Vater nicht nahe«, brummte Heinrich so leise, dass Pragen nachfragen musste, weil er ihn nicht verstanden hatte. Heinrich winkte jedoch nur ab. Pragen würde seinen Einwand ohnehin nicht gelten lassen.
Gegen Heinrichs Schweigen hatte er hingegen nichts einzuwenden und fuhr fort: »Da Wilhelm dreizehn Jahre lang in Meissmanns Institut aufwuchs und Du Deine ersten Lebensjahre ebenfalls hier im Rigaer Raum verbracht hast, wart ihr quasi Nachbarn. Auch ohne auf einer Karte nachgemessen zu haben, glaube ich nicht, dass Luftlinie mehr als vierzig Kilometer zwischen Euch lagen, eher weniger, vielleicht fünfzehn oder zwanzig.«
»Aber diese Kilometer führen durch den Wald und über holprige, enge Straßen«, sagte Heinrich und deutete Richtung Tor, wo die gekieste Zufahrt zum Institut in den trassierten, aber nicht ausbetonierten Waldweg überging. »Bei diesen Verkehrswegen kann man selbst bei fünfzehn Kilometern nicht von Nachbarschaft sprechen.«
»Dass zwei deutsche Kinder so fern der Heimat so nah beieinander wohnen, verringert die Entfernung. Nicht, wenn man sie auf einer Karte einzeichnet, aber wenn man denkt, wie Meissmann und Dein Vater damals gedacht haben müssen.«
»Mein Vater hat in meinem Leben keine Rolle gespielt. Meine Mutter war meine Welt. Sie brachte mir damals Französisch und Englisch bei, weil ihr Fremdsprachen wichtig waren. Ihre Muttersprache Japanisch beherrschte ich nur bruchstückhaft und die Muttersprache meines Vaters, Deutsch, war mir bis auf ein paar Worte vollkommen fremd. Japanisch lernte ich erst, als ich mit vier Jahren Lettland verließ und zu meiner Großmutter gebracht wurde. Deutsch dann mit acht, als ich auf eine deutsche Schule kam. Das zeigt, wie wenig Einfluss mein Vater auf mein Leben hatte.«
Pragen hörte aufmerksam zu. Angespornt durch das Interesse seiner Zuhörerschaft, sprach Heinrich nachdenklich weiter: »Ich weiß, dass Wilhelm erst in der Schule Französisch und Englisch lernte. Fließend sprechen kann er die beiden Sprachen erst seit seiner Zeit bei den französischen Gebirgsjägern und seiner Teilnahme an internationalen Wettkämpfen und Expeditionen. Also selbst wenn Wilhelm und ich in Lettland Tür an Tür gewohnt hätten,–« Heinrich seufzte, als er bemerkte, dass seine Argumente Pragens Theorie mehr unterstützten als seine Gegenposition.
Der Oberstleutnant verzog jedoch keine Miene, sondern fuhr fort, als wäre der Punkt geklärt: »Lass mich Dir noch weitere Parallelen aufzeigen: Im Alter von dreizehn Jahren bist Du bei einem schweren Nachtschreck kollabiert und wurdest in ein Schweizer Sanatorium eingeliefert, während Wilhelm in genau diesem Jahr – vermutlich sogar am selben Tag, ich lasse das gerade prüfen – Meissmanns Institut verließ und in ein russisches Waisenheim auf lettischem Boden kam. Ihr entschiedet Euch beide, in der Armee zu dienen, und zogt in den süddeutschen Raum.«
»Du argumentierst aus der falschen Richtung«, wandte Heinrich ein: »Wilhelm und ich sind Soldaten. Natürlich gibt es in unser beider Leben etwas, das uns auf diesen Weg geführt hat. Du selbst hast mir beigebracht, dass es zu jedem Zustand zwingende Vorbedingungen gibt. Dass sich zwei beliebige Kinder bei ihrer in der Zukunft liegenden Berufswahl für Soldat entscheiden werden, ist unwahrscheinlicher, als dass sich zwei Soldaten bei ihrer in der Vergangenheit liegenden Berufswahl für Soldat entschieden haben. Die eine Wahrscheinlichkeit liegt bei nahezu Null, die andere bei Hundert«, sagte Heinrich.
Pragen lächelte. Es gefiel ihm, wenn seine Agenten seine Lektionen verinnerlicht hatten und sie anzuwenden wussten. Seine Position sah er durch Heinrichs Einwand nicht geschwächt: »Du hast recht. Eure Berufswahl als Beweis anzuführen, wäre töricht, aber sie als Indiz außer acht zu lassen, ebenso. Die Liste der Indizien ist lang und es ist die Summe der einzelnen Punkte, die meiner Theorie Gewicht verleiht. Ein weiteres Indiz wäre Euer Blut.«
»Unser Blut?« Heinrich war überrascht: »Wilhelm und ich haben noch nicht einmal dieselbe Blutgruppe.«
»Ich habe es etwas laienhaft ausgedrückt. Ich meine Eure DNS. Koblenz legt inzwischen für jeden Soldaten mit besonderer Sicherheitsstufe einen genetischen Fingerabdruck an. Das gilt nicht nur für die Agenten des Geheimdiensts und die Generäle des Verteidigungsministeriums, sondern für jeden Offizier, der als Berufssoldat eingestellt wird, also auch für Wilhelm.«
Heinrich nickte. Er erinnerte sich, dass Wilhelm im Zug seiner Bewerbung um die Übernahme als Berufssoldat eine eingehende gesundheitliche Eignungsprüfung durchlaufen hatte. Er war dafür mehrere Tage nach Köln gefahren. Es wunderte ihn nicht, dass man dabei nichts ausgelassen hatte. Ein genetischer Fingerabdruck war für Heinrich eine Spielerei der Mediziner. Für seine Arbeit war eine solche Information bisher noch nicht von Relevanz gewesen. »Und?«, fragte er, weil er nicht verstand, worauf Pragen abzielte.
»Im Rahmen der Ermittlungen um Wilhelms Verschwinden wollte ich mir diesen genetischen Fingerabdruck von ihm einmal anschauen, aber er hat keinen.«
»Wurde keiner erstellt? Wurde er entfernt?« Pragen hatte es tatsächlich geschafft, Heinrichs Interesse zu wecken.
»Weder noch«, sagte Pragen: »Er hat einfach keinen.«
Heinrich verstand nicht: »Wie wenn man von jemandem die Fingerabdrücke nehmen würde, der Handschuhe trägt?« Er fuhr mit dem Daumen über seine Fingerkuppen: »Oder so, als wären die Fingerkuppen vernarbt?«
»Nicht ganz«, sagte Pragen: »Ich habe mir das von einem Mediziner erklären lassen: Es ist eher so, als ob Du von einer Person die Fingerabdrücke nimmst und anschließend zehn weitere Personen ihre Fingerabdrücke darüber stempeln. Am Ende siehst Du kein Fingerkuppenprofil mehr, sondern nur noch schwarze Tinte.«
Heinrich hörte konzentriert zu.
»Um herauszufinden, ob Wilhelm tatsächlich keinen Fingerabdruck besitzt, oder ob es sich vielleicht doch um einen Laborfehler oder – wie Du vorgeschlagen hast – um ein Versäumnis oder eine Manipulation der Akte handelt, ließ ich Wilhelms DNS erneut prüfen: einmal über unser wehrmedizinisches Labor in Koblenz und einmal über ein unabhängiges Institut.« Pragen versicherte sich Heinrichs anhaltenden Interesses, bevor er fortfuhr: »Das Ergebnis aus Koblenz war dasselbe wie zuvor, ein unlesbares Bild. Das Ergebnis des zweiten Labors war jedoch äußerst interessant. Anstatt wie Koblenz ein einfaches DNS-Profil zu erstellen, hatte es eine mehrschichtige DNS-Analyse durchgeführt und dabei acht verschiedene DNS-Muster erkannt.«
Heinrich verstand nicht, was das zu bedeuten hatte, und forderte Pragen mit einem forschenden Blick auf, ihn aufzuklären.
»Die Zellen von Wilhelms Gewebe enthalten unterschiedliche Erbinformationen. Herkömmliche Analysen ergeben nur deswegen ein verschwommenes Bild, weil die Auswertungen über mehrere Zellkerne laufen und am Ende eine Art Mittelwert über alle Muster berechnen. Die Spezialanalyse des externen Labors extrahierte jedoch eins zu eins die DNS von jeweils genau einer Zelle und stellte die Resultate getrennt dar. Dabei stießen sie auf acht unterschiedliche Muster.«
»Mutationen?«, fragte Heinrich.
»Nein. Die Zellen enthielten keine mutierte Erbsubstanz, sondern komplett autarke Erbstämme. Der Experte aus dem Labor war selbst erstaunt und nannte das Phänomen eine extreme Form von Chimärismus.«
Heinrich macht eine auffordernde Geste.
»Es kommt manchmal vor, dass Individuen fremde Körperzellen in sich tragen. Dies tritt sehr häufig zwischen Mutter und Kind oder bei Zwillingen auf. Auch nach Organtransplantationen und Bluttransfusionen sieht man dieses Phänomen.«
»Dann ist es also nichts besonderes?« Heinrich war etwas ernüchtert, dass die ganze Ausführung am Ende zu nichts führte.
»Mir ist nicht bekannt, dass Wilhelm eine Organspende oder eine Bluttransfusion erhalten hätte. Auch von einem Zwilling wüsste ich nichts und Mutterschaft schließe ich ebenfalls aus. Aber selbst wenn einer der genannten Umstände auf ihn zuträfe, würde das noch nicht das Ausmaß des bei ihm festgestellten Chimärismus erklären. Acht deutlich von einander abweichende Genmuster! Und es ist nicht auszuschließen, dass eine umfangreichere Analyse weitere Erbgutstrukturen zutage fördern würde.«
»Wilhelm eine Chimäre? Das klingt wie das Ergebnis eines modernen Doktor Frankenstein oder nach einem misslungen alchemistischen Versuch.« Heinrichs Stimme schwankte zwischen Unglauben und Bestürzung.
»Von einem misslungenen Versuch kann keine Rede sein«, erwiderte Pragen: »Obwohl die fremde DNS in der Regel vom Wirt geduldet wird, kann es auch dazu kommen, dass die Chimärenzellen vom Wirt angegriffen werden. Aber bei Wilhelm scheinen sich die unterschiedlichen Erbgutstämme gegenseitig zu unterstützen und gleichermaßen an der Bildung von organspezifischen Stammzellen für den regenerativen Prozess beteiligt zu sein. Das könnte zum Beispiel erklären, warum er niemals krank war und abgesehen von den Routineuntersuchungen keine Lazarettberichte von ihm existieren. Für genauere Analysen und Aussagen bräuchten wir weitere Gewebeproben.«
Heinrich schüttelte energisch den Kopf. Die Vorstellung, Wilhelm wie einer Laborratte Gewebeproben zu entnehmen, um sie zu analysieren, widerstrebte ihm. Im gleichen Atemzug fiel ihm der kleine Junge aus dem Institut wieder ein, der ihm voller Stolz erzählt hatte, wie tapfer er die Behandlungen ertrug. Heinrich erinnerte sich an den Kopfverband, die Druckstellen, die Pflaster und die Blutergüsse.
»Eine Sache konnte ich jedoch auch ohne weitere Analysen von Wilhelms DNS prüfen.«
Heinrich schüttelte erneut den Kopf, obwohl er nicht wusste, wogegen er genau protestierte. Pragen fuhr dennoch fort: »Ich konnte die bisherigen acht Ergebnisse mit anderen bekannten DNS-Profilen abgleichen.«
Als Heinrich seufzte, nickte Pragen: »Eines der Muster stimmt mit Deinem genetischen Fingerabdruck überein.«
Heinrich verzog das Gesicht, als hätte ihm ein scharfer Luftzug ins Gesicht geblasen: »Marcus«, sagte er beschwörend: »Das klingt absurd.«
»Wogegen wehrst Du Dich?«, fragte Pragen. »Wovor hast Du Angst?«
»Ich habe vor nichts Angst«, sagte Heinrich: »Aber vielleicht sollte ich mir Sorgen um Dich machen. Du siehst Gespenster.«
»Wenn Du mir zugehört hast, wirst Du die Parallelen und Verknüpfungen zwischen Wilhelm und Dir nicht von der Hand weisen können und selbst zu dem Schluss kommen, dass ihr dieselbe geheime Sprache sprecht. Er in seinem Tagebuch und Du in Deinen Träumen.«
»Träume und Chimären«, sagte Heinrich, als würde er mit diesen zwei Worten etwas beweisen.
Wie um einen Gegenbeweis zu erbringen, nahm Pragen sein Notizbuch zur Hand. Heinrich beobachtete schweigend, wie Pragen das Buch an einem Lesezeichen aufschlug und ein paar Seiten zurückblätterte.
»Was ist das?«, fragte Heinrich misstrauisch.
»Einzelne Sätze, die ich mir beim Anhören Deiner Alpträume notiert habe.« Ohne Heinrich Gelegenheit zu weiterem Protest zu geben, las Pragen vor: »Hinoko, Du musst alles zurücklassen.«
Das Letzte, woran Heinrich erinnert werden wollte, war seine Zeit in einer Nervenheilanstalt. Mochten die Ärzte und Pfleger des maison seinen Oberstleutnant auch noch so freundlich und hilfsbereit empfangen haben, hatte sein kurzer Aufenthalt dort genügend Schaden für ein ganzes Leben verursacht. Statt jedoch etwas zu sagen, presste er aus Angst, dass das schlafende Insekt hinter seiner Stirn erwachen könnte, beide Hände gegen den Kopf.
»Hinoko, geh nicht ohne mich«, las Pragen weiter vor, woraufhin Heinrich seine Hände noch fester gegen den Kopf presste. Er erreichte damit jedoch nur, dass die Wunde an seiner linken Hand zu schmerzen begann. Heinrich stöhnte.
Es war jedoch nicht der Schmerz, der Heinrich aufstöhnen ließ, sondern der dunkle Schatten, der sich plötzlich hinter seiner Stirn erhob. Das Monster, das sich dort seit Wochen von seinen Erinnerungen und Ängsten ernährte, war inzwischen so fett und prall geworden, dass Heinrich schwarz vor Augen wurde, als es sich zu seiner vollen Größe aufrichtete und mit seinen Zangen in die Luft schlug. Dieses Mal schien es jedoch nicht hungrig zu sein. Statt seine Kiefer in die unglücklichen Erinnerungen an das maison zu schlagen, würgte es etwas hoch. Zwischen dem Röcheln und Sabbern hörte Heinrich einzelne Silben: ›hi‹, ›no‹ und ›kun‹.
»Hinoko, du hast es versprochen«, las Pragen draußen weiter vor. Und nach einer kurzen Pause: »Oy miwuen hoalan ainana yo.«
»Hinokun«, sagte das Insekt hinter Heinrichs Stirn, nachdem es einen unförmigen schwarzen Klumpen ausgespien hatte: »Sein Name war Hinokun. Du weißt es ganz genau.«
Heinrich nahm seine Hände runter und wischte sich über die Augen, als könnte er die Schreckgestalt wie einen bösen Traum wegwischen, doch als er nach ein paar Mal Blinzeln die Augen wieder öffnete, war das Insekt immer noch da. Der schwarze Panzer ragte wie ein Turm vor Heinrich auf und aus dem Inneren dröhnte erneut die Stimme des Parasiten. Sie klang rasselnd und raspelnd: »Hinokun.«
Hinokun?, dachte Heinrich. »Hi-no-kun«, wiederholte der Parasit und betonte dabei die letzte Silbe. Trotz der rasselnden Insektenstimme, klang sie stimmhaft und sogar etwas nasaliert. Und vertraut.
»Wer ist Hinoko?«, hörte Heinrich plötzlich wieder Pragens Stimme. Sie kam von weit weg und klang dumpf, als wären sie durch eine Wand voneinander getrennt. Erst als Heinrich eine Berührung an seiner Schulter fühlte, öffnete er die Augen, und erst als er die Augen öffnete, bemerkte er, dass er sie zuvor geschlossen hatte. Verwirrt befühlte er seine Stirn, doch dahinter war es ruhig geworden. »Hinokun«, flüsterte er und lauschte in sich hinein, aber die Dunkelheit schwieg. Als er bemerkte, wie Pragen ihn mit einem forschenden Blick musterte, zuckte er zurück.
»Geht es?«, fragte Pragen. Er gab sich Mühe, sanft und beruhigend zu klingen. Heinrich antwortete nicht. Pragens Sorge störte ihn fast noch mehr, als sein rücksichtsloses Stochern in alten Wunden. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und zog daran.
Wie bei einem verängstigten Wildtier achtete Pragen darauf, Heinrich nicht zu nah zu kommen, als er ihm eine kleine schwarze Tonbandkassette hinhielt: »Es tut mir leid«, sagte er noch immer um einen beruhigenden Tonfall bemüht: »In Deiner Genfer Akte habe ich auch Fotos gesehen und ahne, was Du damals durchmachen musstest. Ich würde Dich nicht bedrängen, wenn ich nicht glauben würde, dass uns die Erlebnisse, die zu Deiner Einweisung ins maison geführt haben, helfen können, Wilhelm zu finden.« Er legte die Tonbandkassette vor Heinrich auf der Kühlerhaube ab und trat einen Schritt zurück.
»Das sind die Sprachlaboraufnahmen, von denen ich vorhin gesprochen habe. Nur ein paar Minuten Bandlaufzeit«, erklärte Pragen.
Heinrich atmete tief durch. Nachdem der Schreck langsam nachließ, wuchs in ihm eine Wut auf sich selbst. Er hätte sich vor Pragen nicht so schwach zeigen sollen.
»Am Ende von Wilhelms Tagebuch befinden sich ganze zehn Seiten dieses Kauderwelschs«, erklärte Pragen weiter: »Ich bin mir sicher, dass Du den Code knacken kannst, an dem die Experten und Computerprogramme gescheitert sind.«
Heinrich befühlte ein letztes Mal seine Stirn. Nachdem er sich sicher war, dass sich das Wesen dahinter endgültig in sein Nest zurückgezogen hatte, schaute er trotzig auf. Er wollte sich weder von dem Widerling hinter seiner Stirn noch von den Geistern aus dem maison einschüchtern lassen.
Pragen begrüßte Heinrichs Trotz mit einem Kopfnicken: »Richte Deine Sturheit nicht gegen die Falschen. Hör Dir die Aufnahmen an. Finde heraus, wer Hinoko ist. Finde heraus, wer Tomo ist. Und finde heraus, was Deine Rolle in diesem Spiel ist. Das bringt uns der Wahrheit ein Stück näher. Das möchtest Du doch auch?«
Heinrich schüttelte den Kopf: »Meine Wünsche sind eher bescheiden, Marcus«, sagte er. »Ich möchte einfach abends in Frieden einschlafen und am nächsten Morgen von einem frischen Luftzug geweckt werden, weil jemand das Fenster geöffnet hat.«
Heinrich nahm die Kassette und drehte sie zwischen seinen Fingern. Als sein Blick dabei auf den Verband fiel, den ihm Pragen angelegt hatte, erinnerte ihn das Blut, das den Verband an der Handinnenseite rot gefärbt hatte, an sein Vorhaben, seine Heimreise zu seiner Großmutter. Durch ihre Augen und ihr Blut hatte er in der vergangenen Nacht den Kobold besiegt: Nankurunaisa.
Er brauchte nur ein paar Stunden Schlaf ohne Alpträume. Sobald er ausgeschlafen war und noch bevor er wieder nach Deutschland zurückreiste, wollte er seiner Oma einen Brief schreiben, damit sie Bescheid wusste, dass er bald nach Hause kam. Dann musste er sich nur noch bei Oberst Loy melden, der ihm in der aktuellen Situation sicherlich dabei helfen würde, eine dienstliche Auszeit zu bekommen. Danach konnte er direkt von Köln Richtung Japan weiterreisen. Er musste sich nur noch über eine günstige Reiseroute von einem der großen Flughäfen nach Nakijin informieren.
Seiner Großmutter würde Heinrich von der Begegnung mit dem Kobold erzählen können. Sie würde ihn verstehen. Sie würde ihn sicherlich aufmuntern und wissen, wie es weitergehen sollte. Sie musste inzwischen achtzig Jahre oder älter sein, aber das war kein Alter für eine Okinawain. Heinrich war sich sicher, dass er nach wie vor Probleme haben würde, mit ihr Schritt zu halten, bergan und bergab, die langen Küstenstreifen entlang oder im Zickzack durch die Stadt. Diese Aussichten hoben Heinrichs Laune. Er wünschte, Wilhelm wäre hier, um diese neue Zuversicht mit ihm zu teilen, um mit ihm zu den Inseln zu reisen. Er berührte den Ring an seinem Finger mit dem Daumen und dachte erneut: Nankurunaisa.
Es fühlte sich gut an, einen Plan zu haben. Heinrich atmete befreit auf und tippte zwei Mal mit der schwarzen Kassette auf die Motorhaube, bevor er sie Pragen zurückgab.
Pragen schwieg. Er schien zu überlegen, was er noch sagen konnte, um Heinrich zur Kooperation zu ermutigen. Als er schließlich etwas sagen wollte, kam Heinrich ihm zuvor, indem er ihm, nachdem er kurz in seiner Tasche gewühlt hatte, eine zweite Tonbandkassette in die Hand drückte. »Marcus«, sagte er: »Du hast bei Deiner Theorie über meine flüssige Aussprache vorhin nicht in Betracht gezogen, dass ich diese Aufnahmen bereits gehört haben könnte.«
Heinrich ließ Pragen Zeit, die beiden Tonbandkassetten zu betrachten und festzustellen, dass sie beide aus der Münchner Dienststelle stammten. Pragen wusste ohnehin, dass Jan Heinrich mit einem Navigationsgerät und Dokumenten aus Wilhelms Akte versorgt hatte. Die Tonbandkassette fiel da nicht sonderlich ins Gewicht.
»Ich brauche keine Kassette mit Sprachaufnahmen. Ich brauche etwas anderes.«
Pragen schaute Heinrich fragend an.
»Das Tagebuch, Marcus. Ich brauche Wilhelms Tagebuch.«
»Heinrich,« Pragen machte eine hilflose Geste und wollte etwas sagen, doch Heinrich unterbrach ihn: »Ich bettle nicht, Marcus, ich handle.«
Pragen war Heinrichs plötzlicher Gemütswandel nicht entgangen. Heinrichs Zuversicht, Klarblick und Elan waren zurück, fast zu viel von allem. Er wirkte aufgedreht und fiebrig. Pragen wartete gespannt auf Heinrichs Angebot.
»Wilhelms Tagebuch im Gegenzug für die Adamsakten«, sagte Heinrich schließlich bestimmt und triumphierte innerlich, als er Pragens verblüfften Blick sah. Der Oberstleutnant hörte nicht zum ersten Mal von diesen Akten.
»Was weißt Du über die Adamsakten? Und woher?«, fragte Pragen.
»Das Tagebuch gegen die Akten?«, fragte Heinrich.
»Du meinst, Du kannst mir die Adamsakten beschaffen?«, fragte Pragen skeptisch.
Heinrich deutete Richtung Institut: »Hier wirst Du sie jedenfalls nicht finden. Dafür hat Meissmann gesorgt.«
»Aber Du kannst sie mir beschaffen?«, fragte Pragen erneut. Er schien einen Bluff zu wittern.
Heinrich gab sich Mühe, nicht zu zögern: »Ich kann Dir sagen, wo Du sie finden kannst«, sagte er selbstsicher. Er hatte den Kobold als Joker. Er musste nur einschlafen, um dem kleinen Jungen aus Meissmanns Institut wieder zu begegnen. Er würde ihm zwar vermutlich wieder ein Skalpell zwischen die Rippen stoßen, aber vielleicht konnte ihm Heinrich davor ein paar Fragen zu den Adamsakten stellen.
»Sie zu bergen, wird nicht einfach«, fügte Heinrich schließlich hinzu: »Aber der Abriss des Instituts soll nur den Anschein erwecken, dass die Adamsakten unwiederbringlich verloren sind.«
Pragen nickte bedächtig, während Heinrich aus seinem Geldbeutel eine Visitenkarte heraussuchte und sie auf der Motorhaube ablegte: »Die Adresse meines Hotels«, sagte er: »Ich werde mich dort vor meiner Heimreise noch einmal aufs Ohr legen. Die Adamsakten für Wilhelms Tagebuch, Marcus. Du kannst mich ruhig wecken. Ich sage an der Rezeption Bescheid, dass ich Besuch erwarte.« Mit diesen Worten nahm er seine Tasche. Er wartete noch einen kurzen Moment, ob Pragen etwas erwidern wollte, bevor er zu seinem Wagen davonschlenderte.
Obwohl er noch ein paar Dinge in Deutschland zu erledigen hatte, war Heinrich im Herzen bereits auf dem Weg nach Hause zu seiner Großmutter. Dem Zeck hinter seiner Stirn gefiel die plötzliche Euphorie und Zuversicht gar nicht. Er zog winselnd seine Fühler ein und verkroch sich tiefer in sein Nest.
Heinrich kümmerte sich nicht um das gequälte Winseln seines Widersachers. Jede Träne, die dieser vergoss, hatte Heinrich zuerst geweint, und jeder Schmerzenslaut, der ihm entwich, war ein Schrei, den Heinrich zuvor unterdrückt hatte. Heinrich forderte nun jede Träne und jeden Schrei zurück. Er würde beides auf den Inseln brauchen, um dort vor Freude zu weinen und aus vollen Lungen zu lachen.
Bevor Heinrich in den Wagen stieg, schaute er sich noch einmal nach dem Eichelhäher um. Er war jedoch nirgends zu sehen. Er würde sich vermutlich erst wieder blicken lassen, wenn die Polizei, das Abrisskommando und vor allen Dingen die Jäger wieder abgezogen waren.
Trotz des rutschigen Untergrunds, wendete Heinrich den Wagen zügig und verabschiedete sich von Pragen im Vorbeifahren mit einer vagen Geste, etwas zwischen einem angedeuteten Winken und soldatischen Gruß. Nachdem er durch das große Eisentor gerollt war, schaute Heinrich nicht mehr zurück. Er hatte in dem Institut mehr gefunden, als er anfangs zu hoffen gewagt hatte, und der Kobold, Segen oder Fluch, war nun ein Teil von ihm. Jetzt musste er nur noch darauf warten, dass Pragen ihm Wilhelms Tagebuch ins Hotel brachte.