Tagebuch

Liste der Winter

Gespeichert von eloroke am Mi., 15.03.2023 - 19:29

Ich habe schon immer Listen geschrieben. Eine Liste der Dinge, die ich mag, und eine Liste der Dinge, die ich nicht mag. Eine Liste der Dinge, die ich tun würde, wenn ich nur noch eine Minute zu leben hätte, und eine Liste der Dinge, die außer mir niemand sieht. Eine Namensliste, eine Bücherliste und eine Regelliste. Eine Liste für Länder, eine Liste für Städte, eine Liste für Berge, eine Liste für Seen und Flüsse und Wälder. Silben-, Buchstaben- und Zahlenlisten. Und natürlich eine Liste der Listen. Dies war meine Art, die Dinge zu begreifen, zu ordnen und zu sammeln.

Freitag, 27. Sep. 1991
Kapitel
1

Eine neue Einsamkeit

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 17:55

Ich dachte, die Begegnung hätte mich verändert und meiner ursprünglich selbst gewählten, aber im Laufe der Jahre zu einem regelrechten Zwang ausgereiften Isolation ein Ende gesetzt. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Ich flüchte mich stärker in die Einsamkeit denn je, nur dass sie, seit ich Eliot getroffen habe, ihre heilende Wirkung verloren hat. Sie wirkt nun feindselig und vernichtend. Dennoch suche ich sie.

Donnerstag, 17. Okt.. 1991
Kapitel
2

Das blaue Band

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 18:03

Die drei Wochen in der Großstadt haben nichts verändert. Nicht dass ich der Stadt eine Chance gegeben hätte. Entgegen Falks gut gemeintem Rat, mied ich ihre Menschen, ihre Plätze, ihren Flair. Falk hat es mir dieses Mal aber auch einfach gemacht und sich zurückgehalten. Ich bin mir jedoch im Nachhinein nicht sicher, ob ich ihn am Ende dafür bestraft habe, dass er meinen Hang zur Eigenbrötelei respektiert hat oder weil er mich dazu gebracht hat, an einem zum Scheitern verurteilten Plan festzuhalten. Wie ich es auch drehe und wende, ich komme nicht gut dabei weg.

Dienstag, 17. Dez.. 1991
Kapitel
2

Das blaue Band II

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:45

Ich habe es über die Jahre hinweg geschafft, mich mit einer Welt zu arrangieren, in der es keinen Tomo mehr gibt. Doch nun ist Elli in dieser Welt aufgetaucht und alles geht wieder von vorne los. Ihn wiederzusehen, scheint jedoch ein unerfüllbarer Traum, eine kräftezehrende und zermürbende Situation. Das Leben ist so einfach, wenn man keine Träume hat. Und auch wirklich nur dann.

~ Wilhelm Fenner

Dienstag, 17. Dez.. 1991
Kapitel
2

Das Verhör

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 18:06

Morgen ist Weihnachten. Der Standort ist wie ausgestorben. Die Fußpfade und Sammelplätze, die sonst täglich von abertausend schweren Stiefeltritten platt gewalkt werden, liegen unter einer zwanzig Zentimeter hohen Schneedecke begraben. Nur hier und da ist einer lang gegangen oder wurde eine schmale Schneise freigeschaufelt. Die Spur, die ich am Morgen von meiner Wohnung zum Büro gelegt hatte, konnte ich am Abend zurückverfolgen. Niemand hatte ihr Gesellschaft geleistet, niemand sie gekreuzt.

Montag, 23. Dez.. 1991
Kapitel
6

Wiedersehen

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:01

Wieso bin ich nicht eher darauf gekommen? Luv! Ein so seltener Name und dennoch gestattete er mir bereits zwei Mal die Ehre. Um jedweden Irrtum ausschließen zu können, zog ich gleich bei meiner Rückkehr die bis zum Rand mit mehr oder minder unwichtigem Papierkram gefüllte Apfelkiste hinter meiner Wohnzimmercouch hervor und wühlte mich durch die feinen Sedimentschichten aus Formularen, Urkunden, Verträgen, Bescheinigungen und Amtsbriefen bis zu den ältesten Fossilien meiner Lebensgeschichte durch.

Sonntag, 29. Dez.. 1991
Kapitel
7

Ein neues Jahr

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:06

Meine Welt ist geschrumpft. Das ursprünglich neunzig Autominuten entfernte München ist nun nur noch neun Ziffern auf dem Nummernblock meines Telefons entfernt und mein Phantomschmerz ist einer greifbaren Sehnsucht gewichen. Drei Monate lang zählte ich auf meinem Weg in die Stadt, zum Bahnhof oder ins Gebirge, wie oft ich die Isar überqueren musste, und schickte in jedem unbeobachteten Moment einen heimlichen Gruß mit dem Lauf des Wassers nach Norden. Doch meine Grüße blieben stets unerwidert, da der Fluss naturgemäß nur in eine Richtung fließt und keine Antworten zurückbringt.

Donnerstag, 2. Jan.. 1992
Kapitel
8

Ein neues Jahr II

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:08

Doch irgendwann und scheinbar ohne triftigen Grund ging Tomos Leidenschaft für hontonihontoniyorusu verloren und er wollte fortan nur noch Deutsch sprechen. Zurecht beschwerte er sich darüber, dass unsere eigene Sprache umständlich, unvollständig und begrenzt sei, aber er nannte sie sogar kindisch. Hatte sie sich bisher selbständig und intuitiv entwickelt, begann ich nun mit aktiver Sprachpflege und verbrachte ganze Tage damit, unser Kauderwelsch zu systematisieren.

Donnerstag, 2. Jan.. 1992
Kapitel
8

Dreikönigsmarsch

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:11

Die Sternsinger ziehen heute zum letzten Mal in dieser Saison mit ihren heiligen Stimmen und samtenen Klingelbeuteln durch die Straßen der Stadt. Für einen kleinen Betrag kann man die Ministranten der Dorfgemeinde für das Glück seiner Familie singen und beten lassen und mit Gott einen Handel über den heimischen Haussegen abschließen. Glücklicherweise erspart mir die Abgeschiedenheit meiner Dienstwohnung auf dem Kasernengelände den Besuch der hohen Gesandtschaft aus dem Morgenland. Denn selbst Könige werden nicht ohne gültigen Truppenausweis auf das Kasernengelände gelassen.

Montag, 6. Jan.. 1992
Kapitel
9

Judastee II

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:15

Mein von Neid und schmerzlichen Erinnerungen an Tomo genährter Kummer blieb Eliot nicht verborgen. Doch auf seine Frage, warum ich so ein düsteres Gesicht mache, murmelte ich nur eine leise Entschuldigung und presste beide Hände gegen meinen Kopf, damit er nicht sehen konnte, wie hässlich es in mir drin aussah. Mein Kopf kam mir mit einem Mal so riesig und hohl vor, meine Hände grob und rau und alles tat mir entsetzlich leid.

Eliot legte seine Stirn in Falten und fragte, was es zu entschuldigen gebe.

Freitag, 31. Jan.. 1992
Kapitel
11

Judastee III

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:18

Diese Erinnerung verfolgt mich bis heute, doch unabhängig von Miladas Betrug oder Eliots frommem Engagement im Frauenchor, konnte ich an einem Freitagmorgen unmöglich bis Sonntag warten, bis ich ihn wiedersehen würde: »Wann hast Du Dienstschluss?«, fragte ich deswegen, ohne weiter auf seine Einladung zum Gottesdienst einzugehen. Eliot lachte zunächst nur, weil er glaubte, ich würde Witze machen, bevor wir uns schließlich nach einigem Hin und Her für vier Uhr in der Lesehalle der Münchner Stadtbibliothek verabredeten …

Freitag, 31. Jan.. 1992
Kapitel
11

Vorsichtshalber

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:27

Seit nun bald einer Woche geistert ein neuer Kalauer durch die Kantinen, Büros und Stuben unseres Standorts. Wer ihn noch nicht kennt, gilt als Hinterwäldler, die wenigsten wissen jedoch, welche Geschichte sich dahinter verbirgt. Der Witz ist leicht zu merken, denn er besteht nur aus einem einzigen Wort: vorsichtshalber.

Freitag, 6. März. 1992
Kapitel
12

Welt aus Wasser

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:29

Einen Monat lang hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Eine Ewigkeit. Vielleicht keine ganze Ewigkeit, aber doch Zeit genug, um zu bereuen, seine Einladung zu dem Scharfschützenlehrgang ausgeschlagen zu haben. Vielleicht wäre es gar nicht so schlimm gewesen, zehn Tage lang durch den Schlamm zu robben, im nassen Gras zu liegen und sich von einem amerikanischen Drillfeldwebel anbrüllen zu lassen, bis einem das Blut zu den Ohren rauskommt. Denn immerhin hätten wir die Quälereien gemeinsam durchstehen können.

Samstag, 4. Apr.. 1992
Kapitel
11

Welt aus Wasser II

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:29

Natürlich besaß Eliot eine Regenjacke. Er schlüpfte zudem in ein Paar ausgetretene, aber noch immer wettertaugliche Kampfstiefel und war plötzlich von dem Gedanken, durch den Regen zu spazieren, geradezu begeistert. Mehr als begeistert sogar. Denn plötzlich kam er auf die Idee, in einem nahegelegenen Baggersee baden gehen zu wollen. Dank des ungastlichen Wetters stünden die Chancen ganz gut, den gesamten See für uns alleine zu haben.

Samstag, 4. Apr.. 1992
Kapitel
11

Revanche

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:33

Es ging mir die ganze Woche über schlecht. Und auch jetzt geht es mir schlecht, obwohl ich ihn am Wochenende gesehen habe. Eigentlich sollte ich mich nicht beklagen. Wir verstehen uns blendend. Sind sogar beste Freunde. Aber eben auch nicht mehr als das. Seit jener Nacht sehe ich die Welt nur noch als Gleißen aus Vergangenheit und Zukunft. Absichtlich. Das ist mein ganz persönlicher Trotz. Dieser Trotz richtet sich allerdings weniger gegen den Professor, der mit eindringlich eingeschärft hat, das Rauschen der Vektoren zu unterdrücken, sondern vielmehr gegen mich selbst.

Samstag, 11. Apr.. 1992
Kapitel
13

Schwarzenfels

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:21

Doch im Museum machte ich eine schauerliche Entdeckung. Eliot und ich schlenderten durch eine riesige Halle, in der unzählige Schiffsmodelle aus den letzten vier Jahrhunderten ausgestellt waren. Hier und da erzählten kleine Wandtafeln mit Bildern, Seefahrerkarten, Texten und Fotos die Geschichte der einzelnen Objekte. Elli hatte jedoch keinen Interesse für die maßstabsgetreuen Nachbildungen.

Samstag, 18. Apr.. 1992
Kapitel
11

Schwarzenfels II

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:26

Über die Antarktis weiß ich nicht besonders viel. Nur dass der Professor oft unzufrieden war, weil die Mittel des Instituts keine Forschungsreise zum Südpol gestatteten. Für eine so großangelegte Expedition in eine noch dazu so ausgesetzte Region mangelte es einfach an allem, an Zeit, an Personal und an der Risikobereitschaft möglicher Sponsoren.

Samstag, 18. Apr.. 1992
Kapitel
11

Die Nachricht

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:42

Es schien, als wollte die ganze Welt an diesem Abend nach München verreisen, und zwar mit dem Zug ab Mittenwald Bahnhof. Doch trotz des ungeheuren Menschenauflaufs herrschte eine verhaltene Stille, denn die meisten Reisenden waren zum Schutz vor dem beißenden Abendwind bis zur Nasenspitze in ihre dicken Regenjacken und Winterparkas vermummt und stumm.

Sonntag, 8. Nov.. 1992
Kapitel
13