Mein von Neid und schmerzlichen Erinnerungen an Tomo genährter Kummer blieb Eliot nicht verborgen. Doch auf seine Frage, warum ich so ein düsteres Gesicht mache, murmelte ich nur eine leise Entschuldigung und presste beide Hände gegen meinen Kopf, damit er nicht sehen konnte, wie hässlich es in mir drin aussah. Mein Kopf kam mir mit einem Mal so riesig und hohl vor, meine Hände grob und rau und alles tat mir entsetzlich leid.
Eliot legte seine Stirn in Falten und fragte, was es zu entschuldigen gebe.
»Alles«, sagte ich kaum hörbar und nahm die Hände wieder runter: ›Alles, was ich Dir angetan habe und noch antun werde‹, fügte ich in Gedanken hinzu und hoffte, dass er sie nicht erraten konnte.
»Was alles?«, fragte er wieder, doch da ich nicht antwortete, schenkte er mir schließlich ein aufmunterndes Lächeln und versuchte mühsam unsere Unterhaltung wieder in Gang zu bringen: Falk habe vergangenen Samstag die Ergebnisse von Annas Arbeit als Skilehrerin gelobt, erzählte Eliot stolz, der weder meine unbändige Eifersucht verstand noch von meinen Zwistigkeiten mit Falk wusste. Er bedauerte jedoch mit einem nicht ganz ernst gemeinten Schmollen in der Stimme, dass seine Fortschritte nicht bis zu mir durchgedrungen waren.
»Falk«, klärte ich Eliot schließlich auf, »redet seit geraumer Zeit nichts mehr mit mir.«
Eliot machte ein betroffenes Gesicht und fragte, was passiert war.
Wenigstens hier konnte ich mit Neuigkeiten aufwarten: »Eigentlich ist gar nichts passiert, aber Falk hat einfach kein Gespür für das rechte Maß. Wir würden besser miteinander auskommen, wenn er mich früher eine Spur weniger vergöttert hätte und mich dafür jetzt eine Spur weniger hassen würde. Es geht alles um diese Lausbubenstreiche und Mutproben, die Pragen ans Tageslicht gezerrt hat. Weißt Du denn etwa nichts darüber?«
»Nein, gar nichts«, erwiderte Eliot und erhob feierlich seine Hand zum Schwur: »Aber vermutlich wüsste ich davon, wenn es etwas Offizielles wäre. Vielleicht handelt es sich dabei nicht um eine Anfrage von Köln oder Bonn, sondern um eine interne Absprache zwischen Pragen und jemandem aus der Kommandantur Eures Standorts. Um was auch immer es geht, es scheint, als ob jemand verhindern wollte, dass der Sache unnötig viel Aufmerksamkeit beigemessen wird.«
»Vermutlich hast Du recht«, seufzte ich und erzählte Elli von Falks geheimen Soldatenclub, der durch seine grausamen Initiationsriten und seinen masochistischen Ehrenkodex, das Leben von Kameraden gefährdet hatte. Ich wechselte ständig zwischen Ernst und Witz hin und her, da ich mir teilweise nicht verkneifen konnte, über Falks absurde Ideen zu lachen: Verzehr von ungegarter Tiefkühlkost als Überlebenstraining für arktische Expeditionen, Kauen von Kaffeebohnen zur Steigerung der Ausdauer und Geschwindigkeitsübertretungen auf frisch gewachsten Hornschlitten, die man aus den Hinterhöfen und Heuschobern der zivilen Anwohner gestohlen hatte. Die besonders Hartgesottenen aus Falks Truppe, fügten sich selbst oder gegenseitig Schmerzen zu, um im bei Übernächtigung oder Erschöpfung die letzten Kraftreserven ihres Körpers freizusetzen. Neue Mitglieder der Truppe wurden als Aufnahmeritual in voller Montur in die eiskalten Fluten der halbzugefrorenen Isar geworfen. Sie nannten sich ›Die Alpinauten‹ und ihr Motto lautete: ›Wer kneift, taut!‹
Eliot war schockiert, konnte sich jedoch ebenfalls das eine oder andere Lachen nicht verkneifen: »Wenn das formal korrekt geahndet worden wäre, müsste sich Falk wohl inzwischen nach einem neuen Arbeitgeber umsehen.«
»Er müsste die Stellenanzeigen aber im Arrestblock lesen und für die Vorstellungsgespräche einen Antrag auf Freigang stellen«, fügte ich hinzu. »Da die Leute freiwillig bei diesem Alpinauten-Quatsch mitmachten, hätte Falks Opfer die Gruppe nicht zerschlagen, sondern schlimmstenfalls den Gruppengeist sogar noch gestärkt und die halsbrecherischen Aktivitäten vollkommen in den toten Winkel der inneren Führung gedrängt. Deswegen beschlossen wir, Falk nicht zum Märtyrer zu machen, sondern auf seine Einsicht zu hoffen. Er ist unser bester Mann und gilt vielen als Idol. Sein Vorbild bringt mehr als Belehrungen und Sanktionen. Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um ihn zu retten. Ich habe mit dem Bürgermeister und der Polizei verhandelt und ich habe einen Teil der Schuld auf mich genommen, indem ich unserem Brigadegeneral erzählt habe, dass Falks Alpinauten durch die ehrgeizigen und hochgesteckten Zielen meiner Stabsabteilung inspiriert wären. Jetzt muss ich bis Ende nächster Woche eine zehnseitige Ausarbeitung über die Vereinbarkeit der Ziele meiner Stabsabteilung mit den Prinzipien der inneren Führung vorlegen.«
»Zehn Seiten?« Eliot schaute mich mitleidig an: »Lass viel Platz am Rand, schreib groß, füg Überschriften ein, zitiere aus den Standardwerken, lass die Rückseiten frei und hefte am Ende alles in einen neuen Ordner.«
»Ja, ja«, sagte ich.
»Allerdings«, fuhr Eliot daraufhin nachdenklich fort und zwirbelte dabei an einer Haarsträhne, »leuchtet mir nicht so ganz ein, warum Falk so wütend auf Dich sein soll. Wo Du doch Deinen Kopf für ihn hingehalten hast. Ich meine, zehn Seiten!«
»Ganz einfach, weil ich als sein direkter Disziplinarvorgesetzter derjenige war, der ihm sämtliche schlechten Nachrichten überbringen und ihn zu guter Letzt vor der versammelten Bataillonsführung zusammenstauchen musste. Pragens freundschaftliches Getue macht mich bei Falk auch nicht gerade beliebter, sondern nährt nur sein Misstrauen und seinen Unmut.«
»Weiß er, wie sehr Du Dich für ihn eingesetzt hast?«
Ich machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Er weiß es nicht?«, bohrte Eliot nach.
»Er weiß, was er wissen muss. Ich habe ihm erklärt, dass unsere Abteilung das Aushängeschild des Standorts ist und Vorbildcharakter hat und dass dieses Vertrauen uns mehr als alle anderen dazu verpflichtet, unser Bestes zu geben und uns an die Regeln zu halten. Ich glaube nicht, dass er sich besser fühlen würde, wenn ich mich als sein Retter aufspiele.«
»Hm«, machte Eliot: »Falk hat von all dem nichts erzählt, aber zwischendurch hatte ich das Gefühl, dass ihn etwas bedrückt. Ab und zu war zwischen seinen Albernheiten und Prahlereien ein Hauch von Verbitterung wahrzunehmen. Vielleicht auch Existenzangst. Ich schätze, er wusste um den Ernst seiner Lage und befürchtete das Schlimmste. Im Nachhinein kam mir auch Anna manchmal ein wenig entmutigt vor, aber sie kann so etwas besser verbergen.«
Ich nickte. Die beiden sind ein komplizierter Fall. Aufgrund einer unglücklichen, wenn nicht gar tragischen Konstellation aus wirtschaftlicher Verlegenheit und unnötig übertriebenem Stolz haben sie es bis heute noch nicht gewagt, sich zu verloben, obwohl niemand daran zweifelt, dass sie zusammengehören. Anna hat zwar das alte Glashaus auf dem Kieselacker an der Weggabelung zum Dammkar als vorzeitige Aussteuer von ihren Eltern überlassen bekommen, kommt damit jedoch auf keinen grünen Zweig. Obwohl sie bereits etliche Herbergen als Stammkunden gewinnen konnte und die gesamte Gebirgstruppe nur bei ihr einkauft, wenn es um Festtagsgestecke fürs Offiziersheim oder den Margeritenstrauß zum Muttertag geht, sind die Erträge zu gering, um aus dem Laden ein florierendes Geschäft zu machen. Deswegen wohnt sie weiterhin bei ihren Eltern und arbeitet je nach Saison als private Skilehrerin oder als Gärtnerin für die Tourismusprojekte der Kurverwaltung. Nur im Frühling und Herbst ist sie hauptsächlich im Glashaus zugange. Falk möchte ihr gerne eine eigene Wohnung und die nötige finanzielle Rückendeckung für ihre Unternehmungen bieten, bleibt jedoch zur Erfüllung seiner Träume auf seinen mageren Feldwebelsold angewiesen, von dem er regelmäßig einen Teil zum Unterhalt seiner Geschwister nach Freising überweist.
»Mach Dir keine Sorgen, die Angelegenheit mit Falk renkt sich bestimmt wieder ein«, sagte Eliot plötzlich zuversichtlich.
»Das glaube ich nicht. Er hat seinen Versetzungsantrag bereits persönlich beim Leiter der ersten Stabsabteilung eingereicht und ihn angewiesen, die Übergabe an seinen Nachfolger vorzubereiten.«
»Das wird sich einrenken, glaube mir«, beharrte Eliot: »Pragen hält große Stücke auf mein empathisches Gespür.«
»Na, dann!«, sagte ich: »Ich hoffe, der Oberstleutnant nimmt es mir nicht übel, dass ich Dich von der Arbeit abhalte.«
»Ich arbeite doch. Es war meine Aufgabe, unseren Gast zum Ausgang zu begleiten und ihm unterwegs die Schwäne zu zeigen.« Eliot verschränkte empört seine Arme über der Brust und spielte den Beleidigten. Was Pragen jedoch genau damit bezweckte, mich von seinem empathischen Großwesir zum Ausgang eskortieren zu lassen, durchschaute auch er nicht so ganz. Für derlei Dienste sei eigentlich Roth zuständig: »Das Arbeitszimmer, das ich mir mit Jan teile, liegt im gegenüberliegenden Gebäudeflügel. Ich musste vorhin einen ordentlichen Sprint hinlegen, um Pragen nicht warten zu lassen.« Eliot lehnte sich über die Brüstung, um mir sein Büro zu zeigen, und deutete an die große gläserne Hausfassade zu unserer Rechten. »Wir sitzen gerade an der urkundentechnischen Untersuchung alter Heeresberichte«, seufzte er: »Köln hat es sich zur Angewohnheit gemacht, alle lästigen Arbeiten in die angegliederten Dienststellen auszulagern. München soll sicherstellen, dass der Aktenkorpus einer ehemaligen Leipziger Kommandoeinheit vollständig ist und dass bei den vorhandenen Dokumenten nichts nachträglich hinzugedichtet, getilgt oder verändert wurde. Ein Schriftgutachter aus dem Forensiklabor der Bundespolizei steht uns dabei als technischer Assistent zur Seite. Jan und ich kümmern uns um die Datierung und die vergleichende Analyse.«
Als sich vor meinem geistigen Auge sich Berge aus vergilbtem Papier und verschimmelten Aktenordnern auftürmten, zuckte ich innerlich zusammen. Eliot akzeptierte das unglückliche Gesicht, das ich bei dieser Vorstellung machte, als Ausdruck meiner Anteilnahme. Er nickte und lächelte, bevor er sich einen Ruck gab und seine kalten Handflächen aneinander rieb: »Zeit, ein guter Freund zu sein und mich wieder ans Aktenwälzen zu machen. Wir haben ohnehin lang genug gefroren. Was meinst Du?«
»Jawohl«, sagte ich und duckte mich unter dem niedrigen Torbogen hindurch, um über den schmalen Holzsteg ans Ufer zurückzulaufen. Eliot folgte mir und brachte mich zum Vorderausgang des Gebäudes, wo ich am Morgen einer Leibesvisitation unterzogen worden war. Nun spielte sich das morgendliche Prozedere in umgekehrter Reihenfolge ab. Nur gefilzt wurde ich nicht und meine Schuhe durfte ich dieses Mal auch anbehalten.
Nachdem ich zu guter Letzt noch einen rechtlichen Wisch unterschrieben hatte, um meinen Mantel wieder in Empfang nehmen zu dürfen, folgte ich Eliot weiter Richtung Ausgang und suchte dabei nach einer Möglichkeit, mein dringendes Bedürfnis nach einem recht baldigen Wiedersehen zum Ausdruck zu bringen, ohne dabei zu leidenschaftlich zu klingen. Doch Eliot kam mir zuvor: »Wann sehen wir uns wieder?«, fragte er, als wäre nichts dabei, und schob mich durch eine elektronische Drehtür hinaus in das weitläufige Besucherfoyer.
Da ich für seinen Geschmack offenbar eine Spur zu lange überlegte, lud er mich, anstatt meine Antwort abzuwarten, kurzerhand für den kommenden Sonntag in die Kirche ein, wo ich ihn spielen hören konnte. Auf meinen entgeisterten Blick hin, erzählte er etwas vom Ende der Weihnachtszeit, von einem Lichtergottesdienst zur Feier der Heiligen Jungfrau Maria und davon, dass er zusammen mit dem Frauenkreis der Kantorei und Amaterasu ein besonderes Chorstück einstudiert habe.
»Frauenchor?«, fragte ich erstaunt: »Frauen? Chor? Du meinst ein Chor aus lauter Frauen?« Eliot lachte und fragte, was er denn sonst meinen solle und was ich gegen das andere Geschlecht habe.
»Nichts, nichts, rein gar nichts«, sagte ich schnell, um nicht für einen in der Bundeswehr häufig anzutreffenden Männlichkeitsfanatiker gehalten werden wollte: »Ganz im Gegenteil«, fügte ich mit Nachdruck hinzu und dachte dabei an Milada, die bis zu dem Tag, an dem sie das Institut verließ, neben Tomo die wichtigste Person in meinem Leben gewesen war.
»Ich werde wiederkommen und Dich zu meiner Familie mitnehmen. Dann wirst Du denselben Namen tragen, der hier auf meinem Schild steht, und er hier wird wie ein kleiner Bruder für Dich sein«, hatte sie mir versprochen, während ich mein Ohr an ihren riesigen Bauch presste, in dem das Ungeborene schlief.
»Und Tomo? Was wird aus ihm?«, frage ich plötzlich besorgt, obwohl ich längst den Unterschied zwischen imaginären Freunden und Menschen aus Fleisch und Blut verstand.
»Das muss Tomo selbst entscheiden«, lautete Miladas diplomatische Antwort. Mit einem festen Kuss auf meine Nase besiegelte sie ihr Versprechen, das sie jedoch nie erfüllte. Obwohl sie Jahre später tatsächlich dafür sorgen sollte, dass ich das Institut verlassen konnte, sah ich sie nie wieder. Anstatt ihren Namen anzunehmen wurde ich zu Wilhelm Fenner und anstatt meinen kleinen Bruder zu treffen, landete ich im Kinderheim. Diesen Betrug habe ich ihr nie richtig verziehen, obwohl ich inzwischen glaube, dass sie nur das Beste für mich wollte, aber durch die Umstände gezwungen war, ihr Versprechen zu brechen. Meine Flucht aus dem Institut ging damals so überraschend und klammheimlich vonstatten, dass ich zunächst selbst nicht verstand, was gerade vor sich ging. Erst im Kinderheim wurde mir klar, dass ich gerade einen riesigen Fehler begangen hatte. Und Milada, so dachte ich damals, hatte mich dazu angestiftet.
An jenem Abend wurde im Garten des Instituts eine Party gefeiert. Das Gelächter, die Musik und das Klirren der Gläser drangen bis zu mir herauf und ließen mich immer wieder neugierig nach unten spähen, wo mir den ganzen Abend über ein recht beleibter Herr mit einem für seine Körperfülle viel zu mageren Gesicht auffiel. Ständig wandte er sich um, ließ nervös den Deckel seiner Taschenuhr auf- und zuschnappen und schaute sogar mehrmals zu mir nach oben. Sehen konnte er mich jedoch nicht, da ich mich hinter den Gardinen versteckt hielt. Als die Dämmerung einsetzte und die Sonnenstrahlen durch bunte Lampions in den Bäumen und Kerzen auf den Tischen ersetzt wurden, bemerkte ich, während ich die Lichter zählte, dass der Mann nicht mehr da war. Dieses Verschwinden war nicht weiter ungewöhnlich. Die Gäste im Garten waren wie die Kristalle in einem Kaleidoskop. Sie setzten sich zu immer neuen, bunten Bildern zusammen. Manche Gäste gingen früh, manche kamen mit Verspätung, manche begleiteten den Professor auf ein Tête-à-tête in sein Büro, manche gingen in dem angrenzenden Wäldchen spazieren und manche verschafften einfach nur ihren menschlichen Nöten Erleichterung. Ich erschrak jedoch, als sich plötzlich die Klinke meiner Zimmertür langsam nach unten bewegte. Tomo konnte keine Türen öffnen, außerdem war es zu früh für ihn, und für den Professor war die Bewegung nicht energisch genug.
Mit angehaltenem Atem beobachtete ich, wie sich die Tür langsam öffnete und schließlich der rundbauchige Mann, der mir die ganze Zeit über wegen seines nervösen Verhaltens aufgefallen war, in mein Zimmer trat. Ohne Hallo oder sich vorzustellen, ging er vor mir in die Hocke legte seinen Finger auf die Lippen und hielt ein Foto von Milada hoch.
»Milada, Milada«, rief ich aufgeregt und ließ die Gardinen los, durch die ich gerade noch hinunter in den Garten gelinst hatte. Meine Wut und meine Traurigkeit darüber, dass sie mich allein im Institut zurückgelassen hatte, waren plötzlich wie weggewischt. Alles war vergeben und vergessen.
»Pst, pst, pst«, zischte mir der Fremde zu und winkte mich mit einer hektischen Geste vom Fenster weg. Angst hatte ich keine. Aufgeregt kletterte ich von der Kiste herab, die ich ans Fenster geschoben hatte, und setzte mich neben den Mann auf den Boden. Er war über meine Zutraulichkeit sichtlich erleichtert und erzählte mir hastig, dass Milada ihn geschickt habe, um mich aus dem Institut zu holen. Es bliebe uns jedoch nur wenig Zeit, den Plan zu besprechen. Wie durch Zauberei förderte er aus den Hosenbeinen seines Anzugs und aus dem Innenfutter seines Jacketts einen Satz schwarzer Kleidung zutage: schwarze Hosen, schwarzes Hemd, schwarze Weste, schwarze Mütze, alles in meiner Größe. Sogar ein Paar flache, schwarze Schuhe waren dabei. Sein Bauchumfang passte nun wesentlich besser zu seinen schmalen Gesicht. Doch er ersetzte seine verlorenen Körperpfunde umgehend mit der im Institut üblichen weißen Wäsche: Laborkittel, Handtücher, Laken, Nachthemden, im Institut war alles weiß. Während er seinen Anzug damit ausstopfte, erklärte er mir Miladas Plan.
Oberstes Gebot war die strikte Geheimhaltung. Niemand durfte von dem Vorhaben erfahren. Der Gedanke an eine geheime Verschwörung gefiel mir und auch der Plan selbst klang recht eingängig: Ich sollte mich unauffällig verhalten und wie gewohnt zu Bett gehen, aber nicht einschlafen. Er träufelte aus einem kleinen Fläschchen ein paar Tropfen auf einen Löffel. Als ich die bittere Medizin, die mich wach halten sollte, ohne Widerrede schluckte, lobte er mich. Um Mitternacht sollte ich aufstehen. Er überprüfte die Einstellungen seiner Taschenuhr, wie ich es bereits vom Fenster aus immer wieder beobachtet hatte, und gab sie mir.
»Kannst Du die Uhr lesen?«, fragte er. Ich nickte und erklärte, wie man auf einer Uhr Mitternacht erkannte. Er lobt mich wieder und fuhr mit seinen Erklärungen fort. Sobald die Zeiger der Uhr, Mitternacht anzeigten, sollte ich meine schwarzen Kleider anziehen, über den schmalen Wendelgang im Westflügel nach unten schleichen und das Haus über den Seiteneingang verlassen. Von dort aus führte mein Weg durch das hohe Gras entlang der Grundstücksgrenzen bis zur Hauptstraße. Falls ich jemandem begegnete oder an ein Auto an mir vorbeifuhr, sollte ich mich flach auf den Boden legen. Meine dunkle Kleidung würde mich dann unsichtbar machen. Ich sollte jedoch nicht auf der Straße laufen, sondern ihrem Verlauf im Schutz der Böschung nach Norden folgen.
Nach einem Griff in seine Jackentasche gab er mir einen Kompass und vergewisserte sich, dass ich wusste, wie man darauf die Himmelsrichtungen ablas. Wieder lobte er mich. Eine Taschenlampe durfte ich allerdings nicht mitnehmen. Das Licht des Vollmonds musste mir genügen. Am Waldrand sollte ich anhalten und mich auf keinen Fall auf das offene Feld hinaus wagen. Ein Auto würde mich dort kurz nach Mitternacht auflesen und fortbringen.
»Milada? Wird mich Milada abholen? Wo werden wir dann hinfahren? Kann ich dann das Baby sehen? Meinen Bruder?«, fragte ich aufgeregt, doch der Mann schnitt mir das Wort ab und sagte, dass wir für diese Details keine Zeit hätten. Auf mein dringendes Betteln hin durfte ich jedoch wenigstens Miladas Foto behalten.
Er ließ mich noch einmal alles wiederholen, bevor er mir das Versprechen abnahm, vorsichtig zu sein und mich strikt an den Plan zu halten. Zuletzt gab er mir einen eigens für meinen nächtlichen Ausbruch angefertigten Universalschlüssel. Der Schlüssel passte in alle Türen, die ich auf meinem Weg nach draußen passieren musste. Er war jedoch nur für den Notfall, da diese Türen allesamt frisch geölt waren und unverschlossen sein sollten.
Mein Ausbruch klappte wie am Schnürchen. Hellwach saß ich in meinem Bett und wartete auf Mitternacht. Unter meiner Decke hatte ich eine Umhängetasche mit frischer Wäsche und verschiedenen Arbeitsgeräten aus dem Labor versteckt – darunter auch das Skalpell, mit dem ich Tomo später töten würde.
Die Schatten erwachten in jener Nacht allerdings erst sehr spät zum Leben, was mich mit dem Voranschreiten der Zeit zunehmend beunruhigte. Als die Zeiger der Uhr endlich beide auf die Zwölf zeigten, war Tomo immer noch nicht da. Trotzdem sprang ich sofort aus dem Bett und machte mich bereit für meine große Reise. Die enganliegende, schwarze Kleidung gefiel mir gut und veränderte mein ganzes Wesen, da ich sonst fast ausschließlich die weiten weißen Flügelhemdchen des Instituts trug. Bevor ich mit klopfendem Herz loszog, hängte ich mir noch den Beutel mit meinen bescheidenen Habseligkeiten um den Hals und nahm den Kompass in die Hand. Gerade in dem Moment, in dem ich nach der Türklinke greifen wollte, erschien Tomo. Er bemerkte sofort, dass etwas anders war als sonst. Er bestaunte meine eindrucksvolle Aufmachung und sagte, ich sehe wie ein echter Shinobi-Krieger aus. Ich genoss seine Bewunderung und weihte ihn wichtigtuerisch in mein nächtliches Vorhaben ein. Er war begeistert und wollte sofort mitmachen.
Gemeinsam stahlen wir uns durch die Totenstille des Instituts und hinaus in die magisch knisternde und mit tausend Stimmen flüsternde Nacht. Als wir die Straße erreichten, die mich zum Waldrand führen sollte, schauten wir auf den Kompass, fassten uns bei den Händen und rannten los. Mehrere Male stolperte ich dabei über meine eigenen Füße und wäre in das hohe, feuchte Gras der Böschung gestürzt, wenn Tomo mich nicht jedes Mal aufgefangen hätte. Ich war froh, dass er bei mir war, denn dies bedeutete, dass unser Schwur auch außerhalb der Institutsmauern Bestand hatte und dass uns nichts und niemand jemals würde trennen können.
Es dauerte nicht lang, bis sich der Wald lichtete und den Blick auf das Feld freigab, wo mich das Auto abholen sollte. Mein Herz schlug vor Aufregung und Anstrengung bis zum Hals.
»Da ist jemand«, flüsterte Tomo plötzlich ängstlich und deutete geradeaus. Als ich jedoch die finsteren Lumpengestalten sah, auf die Tomo zeigte, bemerkte ich sofort, dass es sich dabei nur um Vogelscheuchen handelte. Ich schubste Tomo an, neckte ihn für seine Ängstlichkeit und trat, um meine eigene Unerschrockenheit unter Beweis zu stellen, tapfer auf das offene Feld hinaus.
»Dir wurde doch gesagt, dass Du nicht aufs Feld hinauslaufen sollst«, ermahnte mich Tomos körperlose Stimme, doch ich hörte nicht auf ihn, sondern lief über den steinigen und erdigen Acker bis ich von den Vogelscheuchen umringt war, stumme Schreckgespenster aus alten Kartoffelsäcken und Stroh. Dort breitete ich meine Arme aus, als ob sie Flügel wären, und begann, mich um meine eigene Achse zu drehen. Die Tasche flog dabei wie der Sessel eines Kettenkarussells im Kreis. Ohne anzuhalten, rief ich Tomo zu, dass er sich endlich aus seinem Versteck herauswagen solle.
Als mir durch die Pirouetten schwindelig wurde, ließ ich mich auf den Rücken fallen und starrte taumelig in den Himmel, wo es plötzlich mehr als nur einen Mond gab. Erst jetzt und nur zögerlich löste sich Tomos flimmernde Gestalt aus den Schatten am Rand meiner sich noch immer im Kreis drehenden Welt und schwebte lautlos zu mir her. Er setzte sich neben mich und klopfte neugierig auf den Beutel, der um meinen Hals hing: »Was hast Du da drin?«, wollte er wissen.
»Das ist meine Reisetasche«, prahlte ich einer gehörigen Portion Stolz und setzte mich auf. Trotz der milden Frühlingstemperaturen war der Boden feucht und kalt, und nachdem die Hitze der ersten Aufregung aus meinen Gliedern gewichen war, fing ich an, in den dünnen Baumwollhosen und der eng anliegenden Strickweste zu frieren. Ich streifte die Tasche ab, sprang auf meine Füße und trat auf der Stelle, um mich warmzuhalten. Tomo war gegen Kälte immun. Er kauerte auf dem Boden und inspizierte den Inhalt meines Reisegepäcks.
»Glaubst Du wirklich, dass Du alles brauchen wirst?«, fragte er plötzlich. Ich hielt inne und dachte nach. Während ich Tomo dabei beobachtete, wie er den Inhalt meiner Tasche durchwühlte, spürte ich plötzlich, dass er recht hatte. Um mein altes Leben hinter mir zu lassen, musste ich mich von den Dingen, die mich mit dem Institut verbanden, trennen: »Aber was soll ich mit den Sachen machen, wenn ich sie nicht mitnehme?«, fragte ich Tomo.
»Wir könnten sie hier vergraben«, schlug er vor.
»Vergraben?«, fragte ich skeptisch und stampfte mit dem Fuß auf den harten Ackerboden: »Wir kriegen doch hier ohne Schaufel nie im Leben ein Loch gebuddelt.«
»Stimmt«, pflichtete Tomo mir bei und dachte angestrengt nach: »Dann wirf sie einfach fort, so weit weg, wie Du nur kannst«, sagte er nach einer Weile und hielt mir das Fieberthermometer, das er gerade in der Hand hatte, hin. Der lange, glatte und kalte Glasstab schien mir etwas zuzuflüstern: ›Wirf mich fort‹, säuselte er: ›Lass mich hier und geh Du weg.‹ Ich dachte an Milada und meinen kleinen Bruder, die in meinem neuen Zuhause auf mich warteten, und schleuderte das Fieberthermometer schließlich mit aller Kraft in die Nacht hinaus, wo die Schatten es wortlos verschluckten. Tomo applaudierte und drückte mir gleich das nächste Laborgerät aus der Tasche in die Hand.
Nach und nach warf ich sämtlichen Ballast ab, nicht nur die Laborgeräte, sondern auch die weißen Nachthemden und die übrigen Kleider, die ich aus dem Institut mitgenommen hatte. Sogar das Bild von Milada riss ich in kleine Fetzen und warf es wie Konfetti in die Luft. Wozu an einem Bild festhalten, wenn die Realität zum Greifen nah war? Ein Gefühl von grenzenloser Freiheit und unbändigen Glücks, von Unbezwingbarkeit und Unsterblichkeit beflügelte mich. Ich war nicht mehr zu bremsen, sondern schleuderte mein gesamtes bisheriges Leben hinaus in die alles verschlingende Nacht. Tomo half mir dabei. Zuletzt gab er mir das Skalpell.
Ich wog das gefährliche Schneidewerkzeug prüfend in meiner Hand und konnte mich nicht recht dazu entschließen, es wegzuwerfen. Es flüsterte mir etwas anderes zu als die Dinge zuvor. Es verlangte etwas von mir, etwas Grausames.
Tomo drehte die Tasche auf den Kopf und sagte zufrieden: »Wir haben es geschafft. Die Tasche ist leer.« Er tippte mir auf die Schulter und sagte, dass ich besser in die Deckung des Wald zurückgehen solle. Doch ich wollte mich nicht verstecken. Ich schlug seine Hand zurück und versetzte ihm einen kräftigen Schubs: »Hör auf, mir vorzuschreiben, was ich tun soll«, herrschte ich ihn böse an.
»Was ist los?« fragte Tomo mit zitternder Stimme, als er sich wieder aufrappelte. Ich antwortete ihm jedoch nicht, sondern schaute mir die Kreatur, die mir all die Jahre hinweg als imaginärer Freund zur Seite gestanden hatte, einfach nur an und hasste sie.
»Du machst mir Angst«, wimmerte Tomo plötzlich: »Sag doch etwas! Warum bist Du auf einmal so gemein? Jetzt wird doch alles gut.« Doch daran glaubte ich in jenem Moment nicht mehr. Nichts konnte gut werden, solange ich in meiner Traumwelt gefangen blieb. Ich hielt den schlanken Griff des Skalpells so fest umschlossen, dass sich meine Fingernägel schmerzhaft in meine Handflächen bohrten. Wieder flüsterte mir das Skalpell etwas zu. Dieses Mal versprach es mir sogar etwas. Es versprach mir Freiheit, aber befreien musste ich mich selbst. Der Metallgriff vibrierte ungeduldig zwischen meinen Fingern, bis ich mich schließlich mit einem erbitterten Entschluss auf Tomo stürzte: »Geh weg, geh weg. Geh endlich weg. Verschwinde für immer«, schrie ich und weinte. Ich wollte nur noch, dass es endlich aufhörte, dass Tomo endlich aufhörte, aber es wurde ein langwieriger Abschied. Tomo rief bis zuletzt um Hilfe, während ich reglos und mit zu Fäusten verkrampften Händen danebenstand und zusah, wie er vor Schmerzen gekrümmt zu Boden sank und dort langsam mit den Schatten der Nacht verschmolz.
Erst nachdem das Wimmern, Bitten und Flehen seiner Stimme vollends verklungen waren und das schnurrende Motorengeräusch eines scheinwerferlosen Autos das entsetzte Schweigen der Nacht durchbrach, erwachte ich aus meiner hypnotischen Starre: »Tomo!«, schrie ich plötzlich und ließ mich auf den Boden fallen. Meine Stimme war heiser und meine Finger schmerzten, als ich mit bloßen Händen riesige, schwere Erdklumpen und Steine aus dem Acker riss: »Tomo, Tomo, Tomo! Bitte! Es tut mir leid!« Immer wieder rief ich seinen Namen mit der Bitte um Vergebung, aber Tomo war längst fort und konnte mir weder verzeihen noch mich verurteilen. Nur die gruseligen Schatten der Vogelscheuchen waren Zeugen meiner späten Reue, doch auch sie sagten kein Wort.
~ Wilhelm Fenner