Ein neues Jahr

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:06

Meine Welt ist geschrumpft. Das ursprünglich neunzig Autominuten entfernte München ist nun nur noch neun Ziffern auf dem Nummernblock meines Telefons entfernt und mein Phantomschmerz ist einer greifbaren Sehnsucht gewichen. Drei Monate lang zählte ich auf meinem Weg in die Stadt, zum Bahnhof oder ins Gebirge, wie oft ich die Isar überqueren musste, und schickte in jedem unbeobachteten Moment einen heimlichen Gruß mit dem Lauf des Wassers nach Norden. Doch meine Grüße blieben stets unerwidert, da der Fluss naturgemäß nur in eine Richtung fließt und keine Antworten zurückbringt. Meine Hoffnungen trieben zusammen mit meinen Wünschen und Träumen flussabwärts in eine leere Zukunft und alles, was mir blieb, war die Erinnerung an einen Abend. Aber mit dem kleinen Zettel, auf dem Ellis Name und Telefonnummer stehen, hat sich die Lage geändert. Mein Pessimismus wurde von einer für mich untypischen guten Laune vertrieben, der selbst die drei Tage im Marienschrein auf dem Piz Curvér nicht anhaben konnten, obwohl das ewige Knien auf den harten Holzbänken meine Geduld bisweilen so sehr strapazierte, dass ich mehr fluchte, als um mein Seelenheil zu beten.

Seit gestern Nacht bin ich nun wieder zurück und war auch heute Morgen gleich in den Winterställen, um mich um Leto zu kümmern. Da wir uns vor meiner Abreise in die Schweiz nicht mehr gesehen hatten, erzählte ich ihr von meinem Treffen mit Elli. Sie nahm es genauso gleichmütig auf, wie all die anderen Dinge, die ich ihr bisher anvertraut habe. Leto hat nicht besonders viel Platz in ihrem Stall und bewegt sich deshalb kaum. Ich brachte sie dennoch ein wenig auf Trab, indem ich ein paar Heubüschel in meine Manteltaschen stopfte und sie danach suchen ließ. Nachdem sie alle Grashalme aus den Taschen gefressen hatte, rieb ich sie ein wenig ab und versprach ihr, dass der Winter nicht ewig dauern werde und sie bald wieder raus dürfe, hoch auf die Bergweide, die zurzeit unter einer dicken Schneedecke begraben liegt. Ich verabschiedete mich und klopfte in der Hoffnung, dass sie Brot gebacken hatten, bei den Gessners an den Fensterladen. Da jedoch niemand öffnete, zapfte ich lediglich ein paar Liter Milch und vermerkte meinen Besuch im Melkbuch.

Als ich auf das Kasernengelände zurückkehrte, fand ich die Dienstgebäude genau so düster, trist und menschenleer vor, wie ich sie drei Stunden zuvor verlassen hatte. Die Wachpatrouille war gerade auf Streife. Ein junger Unteroffizier öffnete mir das Tor für Fußpassanten. Es war bereits kurz vor acht, doch die meisten Fußstapfen auf der weißen Schneedecke stammten von zierlichen Krähenfüßen anstatt von den breiten Sohlen der an unserem Standort üblichen Bergstiefel und der Schlagbaum trug eine dicke Schneehaube. So kurz nach Jahresumbruch ist das nichts Ungewöhnliches. Die Kaserne wird erst wieder zum Leben erwachen, wenn die Sternsinger durch sind.

Ich folgte einer einsamen Fußspur zum Gebäude der Stabskompanie. Das Muster des Profils passte zwar zu meinen Stiefeln, aber ich hatte diese Tritte nicht gespurt. Die Abdrücke waren ein wenig kleiner und tiefer als meine. Die Tatsache, dass in den Büros meiner Stabsabteilung Licht brannte, verstärkte meine dunkle Vorahnung, dass Falk seinen Dienst im neuen Jahr anscheinend entgegen gängiger Standortgepflogenheit bereits vor den Heiligen Drei Königen angetreten haben könnte. Diese Planung war mir anscheinend entgangen. Ich hatte fest damit gerechnet, die erste Januarwoche in eigenbrötlerischer Zurückgezogenheit verbringen zu dürfen. Nun gut.

Als ich durch die offenstehende Tür von Falks Büro spähte, sah ich, wie er gerade die Papierhäckselmaschine mit unserem alten Aktenkram fütterte. Der Motor und die Messer ratterten so laut, dass Falk mich nicht bemerkte. Gedankenverloren schob er der Maschine ein Blatt nach dem anderen in den Rachen. Auf seinem Schreibtisch lag ein aufgeschlagenes Comicheft, daneben ein angebissener Müsliriegel. Wie ich ihn so dasitzen und grübeln sah, erinnerte ich mich an Pragens Vorwürfe: ein gestohlener Hornschlitten, eine Lebensmittelvergiftung aufgrund ungegart verzehrter Fischstäbchen, eine Koffeinüberdosis durch Kauen von Kaffeebohnen, lebensgefährliche Klettereien auf den Kabeln der Bergbahn und die Simulation arktischer Klimaverhältnisse in der Kühlkammer der Mannschaftsküche. Wenn diese Aufzählung stimmt, könnte Falk tatsächlich ganz schön in der Bredouille sitzen.

Die Bundeswehr kennt prinzipiell zwei Führungsmittel, um mit derartigen Missständen umzugehen: Bestrafung oder Erziehung, also Degradierung, Zwangsversetzung und Arrest oder Belehrung, Schikanedienst und Androhung von Schlimmerem. Ich mag keinen der beiden Wege, würde jedoch im Zweifelsfall jede Form von erzieherischer Gängelei einer echten Abstrafung vorziehen. Mit dem Bürgermeister, der Polizei, dem Betreiber der Mannschaftsküche und den geschädigten Zivilpersonen lässt sich vielleicht reden oder verhandeln. Wenn man dem Eigentümer des gestohlenen Hornschlittens anbietet, dass er diesen Winter keinen Schnee mehr vor seiner Tür zu schippen braucht, weil ein gewisser Herr Falk Theodor Kastl diese Aufgabe fortan für ihn erledigen wird, ist er vielleicht dazu bereit, die Anzeige wegen Diebstahls zurückzunehmen. Auch die Mannschaftsküche wird sich sicherlich über einen Küchenhelfer freuen. Beim Bürgermeister habe ich noch was gut und die Polizei gibt sich vielleicht mit ein paar Flensburger Punkten zufrieden. Die bundeswehrinterne Handhabung wird vermutlich der unangenehmste Teil, da ich Pragen davon überzeugen muss, die Sache nicht zu übertreiben. Außerdem werde ich wohl nicht darum herumkommen, Falk eine Standpauke zu erteilen. Aber nicht heute und auch nicht morgen, sondern erst übermorgen auf unserer Tour durch die Alpen.

Ich klopfte an Falks Tür, um mich bemerkbar zu machen. Als er mich sah, meckerte er wie eine Ziege. Ich werde meinem Ruf als Fürst Myschkin eben in jeder Hinsicht gerecht, aber erst Falks Alberei erinnerte mich daran, dass ich während meiner Pilgerfahrt auf die tägliche Rasur verzichtet hatte. Mein Bart wächst schnell und zwar genau so, wie er in dem Buch, das meinen Namen trägt, beschrieben wird. Bereits nach einer Woche ohne Schaum und Messer erreichen die Härchen in meinem Gesicht ihre volle Länge und Dichte. Die Wangen bleiben dabei jedoch gänzlich kahl und auf der Oberlippe bildet sich nicht mehr als ein weicher Flaum. Nur an meinem Kinn sprießt etwas, das man Bart nennen könnte. Das Gute an diesem widerwilligen Wachstum ist, dass ich meinen Bart im Gegensatz zu dem Wildwuchs auf meinem Kopf nicht schneiden muss, um ihn im Zaum zu halten. Die Barthärchen an meinem Kinn erreichen mit Mühe und Not einen Zentimeter. Dieser Mangel ist mir jedoch lieber als der Überfluss, mit dem manch anderer gesegnet ist. Heidt zum Beispiel tropft nach jedem Schluck aus einem breiten Humpen wie das Gras entlang der Isarböschung.

Als ich während meiner Zeit als Leutnant einen Antrag auf Bartwuchs gestellt hatte und kurz darauf meine ersten Ergebnisse auf dem Kasernengelände mit mir herumtrug, wollte man mir den Bart aufgrund seiner Dürftigkeit nicht genehmigen. Nach einem gründlichen Blick in die Formulierungen der Dienstvorschrift und einigen millimetergenauen Abmessungen mit einem Lineal durfte ich meinen kümmerlichen Ansatz am Ende doch behalten. Zusammen mit meinen blauen Augen und meinem den meisten Menschen hell erscheinenden Haar sah ich meinem Namensvetter so ähnlich, dass ich mich bisweilen fragte, ob diese Ähnlichkeit auch entstanden wäre, wenn man mir einen anderen Namen gegeben hätte. Der Professor sagt, dass Gene fortwährend lernen und sich verändern können. Er nennt diesen Vorgang Genmetamorphose. Ganz abwegig wäre solch ein nachträglicher Entwicklungssprung in meinem Erbgut also nicht.

Nachdem Falk genug über meinen Bart gemeckert hatte, sprang er auf, um mich zur feierlichen Begehung des neuen Jahres allerherzlichst in seinen Schwitzkasten zu nehmen und erst wieder von mir abzulassen, als sich meine Atemnot durch ein ersticktes Keuchen bemerkbar machte. Durch seine Eisenstemmerei hat der Mann einfach zu viel Kraft. Während ich nach Atem rang, fragte er lammfromm, wann denn heute Dienstschluss sei. Es schien mir fast, als ob er den Angriff auf mein Leben nur veranstaltet hatte, um mich dazu zu bringen, ihn schnellstmöglich wieder loswerden zu wollen. Als ich ihn darauf ansprach, gab er es sogar zu: Er habe Anna in diesem Jahr noch nicht gesehen und dabei hätte er ihr Hilfe bei der Ausbesserung ihres durch ein winterliches Unwetter beschädigten Gewächshauses versprochen. Sie habe die zerbrochenen Fenster bisher nur notdürftig mit Plastikplanen abgeklebt und jeder Tag ohne schützende und sonnenlichtdurchlässige Glaswand stelle eine Gefahr für ihre Blumen dar. Da auch ich andere Pläne hatte, versprach ich ihm, den Tag nicht allzu lang werden zu lassen, und überlegte, wie ich ihn mir bis zu einem vorzeitigen Dienstende zur Mittagszeit vom Hals schaffen konnte.

Da es immer genug zu tun gibt und Falk nicht besonders zimperlich ist, kam mir auch gleich eine Idee: Wir hatten im vergangenen Jahr, kurz vor Weihnachten die Ausrüstung unserer Stabsabteilung sondiert, alten Kram ausgemustert, frisches Material nachgekauft und alles neu inventarisiert. Ich bat Falk, die alten Seile, Schlingen und Gurte zu verbrennen. Danach könne er mit seinem Tag anfangen, was er wolle. Er rieb sich freudig die Hände, fragte jedoch nach, wozu es nötig sei, das alte Material zu vernichten. »Damit sie niemand stiehlt«, sagte ich und ließ den Feuerteufel, dem mein Argument nicht so recht einzuleuchten schien, ans Werk gehen.

Kletterausrüstung ist unheimlich teuer, angefangen bei den Seilen bis hin zu zusätzlichem Firlefanz wie die neuesten Klemmkeil- und Karabinergenerationen. Die Ausrüstung für den Winter schlägt eine noch tiefere Scharte in den Geldbeutel: Neben wetterfester Kleidung braucht man Skier, Stöcke und Steigfelle sowie Eisgeräte und Biwakmaterial. Als junger Rekrut hat mich dies zunächst entmutigt, denn die Ladensumme geht dabei sehr schnell in die Tausende, viel mehr als mein damaliger Sold hergab. Ich hatte zwar wie jeder Gebirgssoldat eine Grundausrüstung, aber für unsere Touren durch die winterlichen Hochlagen der Alpen bekamen wir zusätzliches Material wie Rohrschrauben, Eispickel und Grödel gestellt. Dieses Arsenal an Eisen, Aluminium, Chrom und Synthetikschlaufen war für mich damals der reinste Schatz, der jedoch leider nach jeder Tour wieder abgeben werden musste. Sicher hätte ich auch ohne das ein oder andere Gerät auskommen können, aber ich war eben von Berufs wegen Luxus gewöhnt.

Da es mir somit auf meinen einsamen Wochenendexkursionen durch Schnee und Eis an allem mangelte, kam ich bald auf ziemlich verwegene Ideen. An meinen Kniebundhosen waren links und rechts zwei große Taschen angebracht. Wirklich riesige Taschen, so groß wie kleine Säcke. Darin konnten mit Leichtigkeit ein Satz Klemmkeile, ein Bündel Reepschnüre oder auch eine Stirnlampe verschwinden. Natürlich war mir trotz der mir nachgesagten Weltfremdheit klar, dass dies Diebstahl wäre. Doch während ich die klingenden Karabiner, singenden Wandnägel und klirrenden Keile immer wieder durch meine Hände gehen ließ, überlegte ich hin und her, wie ich mir am schnellsten eine wintertaugliche Ausrüstung für meine privaten Klettereien zusammenhamstern konnte, und kam dabei auf die naheliegende, wenngleich absurde Idee, dass ich während eines Gebirgsmanövers meine Ausrüstung verlieren und später bei einem Spaziergang wiederfinden könnte. Bei solchen Unternehmungen gab es immer ein wenig Materialschwund zu verbuchen. Seile surrten unrettbar in die Tiefe. Ein Eisgerät entschlüpfte beim Standmachen dem unaufmerksamen Griff seines Herrn. Hauen brachen. Mauerhaken ließen sich nicht mehr aus der Wand herausarbeiten.

Während einer der unzähligen Expeditionen in die Bergwelt meines Heimatstandorts malte ich mir aus, wie ich meine Eispickel in eine Schlucht hinabwarf, den Verlust am Abend abschrieb und das bedauerlicherweise verloren gegangene Material am nächsten Morgen ganz zufällig wiederfinden würde. Noch besser wäre es, überlegte ich, meinen kompletten Ausrüstungssack in die Tiefe zu stoßen, um am nächsten Tag gleich eine vollständige Felsausrüstung bergen zu können. Ich war wirklich verzweifelt. Für meinen Plan benötigte ich jedoch eine gute Stelle, wo man mich nicht hinunterschicken würde, nur um eine Handvoll für die Bundeswehr leicht verschmerzliches Material zu bergen. Vielleicht während eines Quergangs oder beim Überbrücken einer menschenfeindlichen Schlucht. Ich dachte angestrengt darüber nach, wie ich es anstellen sollte, dass mir meine beiden Eisgeräte und mein gesamter Ausrüstungssack abhandenkommen sollte. Es war ja alles angeschnallt und festgeschlauft. Außerdem machte ich mir darüber Sorgen, ob die Geräte den Aufschlag aus so großer Höhe überhaupt verkraften würden. Mein Plan ging irgendwie hinten und vorne nicht auf.

»Denk noch nicht einmal daran«, sagte Oheim plötzlich mit leiser, aber strenger Stimme. Er war von hinten an mich herangetreten, hatte mich an der Schulter zu sich hergedreht und sah mir nun fest in die Augen. Er konnte anscheinend Gedanken lesen. Entweder, weil mein sehnsüchtiger Blick auf die Gerätschaften meine Absichten verraten hatte, oder einfach, weil jeder so dachte, der sich von seinem schmalen Monatssold eine mehrere tausend Mark teuere Ausrüstung zusammensparen musste. Vielleicht hatte er ja selbst einst so gedacht.

Mir blieb nichts anderes übrig, als den langen, zähen Weg zu gehen und mir die Ausrüstung vom Mund abzusparen. Deswegen war ich vor Freude außer mir, als ich eines Tages erfuhr, dass die Winterkampfschule altes Zeug aussortierte und einfach wegwarf. Nach Dienstschluss furagierte ich daraufhin wie eine hungrige Ratte den großen Müllcontainer der Winterkampfschule nach verwertbarem Material. Es störte mich nicht, dass die Seile verkrangelt, aufgesplisst, angeschimmelt, abgewetzt, nass und schmutzig waren, sondern ich war euphorisch, dass ich nun Seile in allen möglichen Längen und Stärken besaß. Diese Euphorie dauerte allerdings nur solange an, bis das erste Seil riss. Ich hatte – vielleicht aus Kühnheit, vielleicht aus Bequemlichkeit, das weiß ich nicht mehr so genau – auf eine falsche Seilstärke gesetzt und zudem über eine scharfe Bergkante gespannt. Aber es war die Schwäche des Materials gewesen, die den Seilriss am Ende unvermeidlich werden ließ. Heute weiß ich, dass Nässe, Schmutz, Licht und Alter ein Seil für die Bergsteigerei am Ende untauglich machen, und bestehe darauf, ausgedientes Material zu vernichten, damit niemand, auf die Idee kommt, es weiterverwenden zu wollen.

Diese Geschichten liegen inzwischen so weit zurück, dass es teilweise schwer vorstellbar ist, dass diese Zeit jemals Wirklichkeit und Gegenwart gewesen sein soll. Ich kann fast nicht glauben, dass ich das damals war: dieser unfertige, dumme und junge Mensch. Genauso wenig möchte ich wahrhaben, dass ich Oheim seit nun bald zehn Jahren nicht mehr gesehen habe. Abschiede sind vor allen Dingen immer schlimm, und dass Hanns Oheim unser Bataillon verließ, erfuhr ich erst am Tag seiner Abreise.

Er fing mich nach einem langen Seminartag im Studiersaal ab und teilte mir, da er wohl ahnte, wie schwer mich die Nachricht treffen würde, fast verlegen mit, dass in Bonn ein Schreibtisch darauf warte, von ihm in Beschlag genommen zu werden. Seine Siebensachen seien bereits in seine neue Heimat evakuiert und sein Zug würde in nur zwei Stunden zur Abfahrt pfeifen. Wie so oft, wenn sich die Dinge plötzlich ändern, ergriff mich eine Unsicherheit. Die Veränderung erschien mir zu groß, als dass ich ihre Bedeutung für mich hätte überschauen können. Oheim bemerkte meine Irritation und struwwelte mir mitfühlend durchs Haar. Von seiner anschließenden Trostrede ist mir vor allem sein Versprechen, dass ich Tomo eines Tages wiedertreffen würde, in Erinnerung geblieben.

Es lag wohl an der Endgültigkeit des Abschieds, dass ich mich dazu hinreißen ließ, einem fremden Menschen von Tomo zu erzählen. Ich verriet Oheim natürlich nicht, wer Tomo wirklich war. Er kam sehr schnell selbst zu dem falschen Ergebnis, dass Tomo ein Jugendfreund aus der Nachbarschaft meines Elternhauses gewesen sein müsse. Da ich in jenem Gespräch ohnehin kaum ein Wort sprach, korrigierte ich seinen Irrglauben nicht.

»Die Welt ist klein, Myschkin. Wir werden uns genauso sicher wiedersehen, wie Du Deinen Freund wiedertreffen wirst.«

Ich widersprach und zeigte auf die Weltkarte, die neben der Wandtafel hing. Im Gegenteil, die Welt sei unüberschaubar und furchteinflößend groß. Nicht umsonst packe mich jedes Mal, wenn ich vom Gipfel auf die Welt zu meinen Füßen hinunter starrte, eine immense Angst, wieder dort hinabzusteigen und in den endlosen Weiten verloren- und unterzugehen.

»Du irrst, Mysch.« Mit erhobenem Zeigefinger schnitt mir Oheim das Wort ab, nahm die in einen riesigen und schweren Holzrahmen eingespannte Karte von der Wand und hievte sie auf das Lehrpult. Verschwörerisch rief er mich zu sich.

Gehorsam, aber ohne das sonst übliche Jawohl folgte ich der Anweisung meines nun ehemaligen Kompaniefeldwebels und blickte auf die leicht eingestaubte Welt. Oheim nahm eine Handvoll roter Truppenmarken aus einer Schreibtischschublade und pflanzte zwei davon in Mittenwald auf: »Hanns Johannes Oheim und Wilhelm Fenner, da hätten wir ja schon mal zwei. Wen kennst Du noch?« Mit einem strengen Blick forderte er mich auf, weitere Truppenmarken aufzustellen. Zögerlich tippte ich auf die Karte und zählte hier und da ein paar Namen auf: meine Pflegeeltern in Calden, Professor Meissmann in Koblenz sowie alle meine Lehrer, Ausbilder, Mitschüler, Kameraden und Seilgefährten. Oheim platzierte für jeden Namen, den ich ihm nannte, einen roten Stein auf der grauen Karte. Als ihm die roten Truppenmarken auszugehen drohten, unterbrach er mich und hielt den letzten roten Stein wie einen Siegerpokal in die Höhe: »So und das hier ist Dein verlorener Freund. Wie heißt er doch gleich?«

»Tomo«, flüsterte ich stockend, da mir die beiden Silben plötzlich nicht mehr über die Lippen kommen wollten.

»Und wo bist Du ihm zuletzt begegnet?«, flüsterte nun auch Oheim. Ich deutete vage nach Osten: »Hier irgendwo. In der Nähe von Riga, glaube ich.« Ich flüsterte noch immer.

Oheim setzte Tomo auf ein grünes Fleckchen Erde am Rigaischen Meerbusen und schüttete anschließend eine Dose gelber Steine auf den Tisch: »Fünf Milliarden Seelen tummeln sich derzeit auf dieser Erde, sechzig Millionen davon in der näheren Nachbarschaft«, sagte er und mischte die gelben Steine wahllos unter die sorgfältig postierten Roten. Seine Stimme hatte zu flüstern aufgehört. Sie schallte donnernd laut in meinen Ohren und hallte durch den leeren Hörsaal: »Und nun sieh genau hin!«, fuhr er fort. Ich sah genau hin.

»Siehst Du es?«, fragte er mich, aber ich schüttelte nur ahnungslos den Kopf. Als Oheim meine Begriffstutzigkeit erkannte, hielt er seine gespreizten Finger so über den Tisch, dass plötzlich ein Netz aus Linien über der Karte und den darauf platzierten Steinen lag: »Diese Steine sind durch verwandtschaftliche, berufliche oder geographische Gegebenheiten oder durch gemeinsame Interessen und Ziele miteinander verbunden. Man kann diesen Verbindungslinien folgen wie einem roten Faden und einer dieser Fäden führt auch zu Deinem verlorenen Freund«, stellte er fest und bewegte dabei den einsamen Stein im Osten Europas nach Mittenwald: »Ihr werdet einander wiederbegegnen. Davon bin ich überzeugt.«

Ich verzog das Gesicht. Oheim konnte ja nicht wissen, dass ich Tomo getötet hatte. Nein, dass Tomo eigentlich nie gelebt hatte, sondern nur die Einbildung eines Patienten aus Professor Meissmanns privater Irrenanstalt war.

»Jeder von uns trägt seine eigene kleine Welt in sich und an den Stellen, wo sich die Welten zweier Menschen berühren, kommt es zu einer Begegnung«, erklärte Oheim geduldig: »Ich bin nun auf dem Weg in unsere rheinische Bundeshauptstadt.« Oheim verschob sein rotes Steinchen von Mittenwald nach Bonn: »Aber ich bleibe sozusagen in Sichtweite.« In einer durch diese neue Betrachtungsweise stark zusammengerückten Welt konnte ich dies kaum bestreiten, verstand jedoch nicht, wie er sich so mir nichts Dir nichts, von der Bergwelt verabschieden könne. Auch in Bonn gebe es Möglichkeiten, sich in der Kletterkunst zu üben, antwortete Oheim schmunzelnd. Besonders die Hardthöhe eigne sich dafür. Er lachte über mein fragendes Gesicht und versprach mir, mich beizeiten auch in diese besondere Art der Gipfelstürmerei einzuweihen.

Als eine Gruppe junger Rekruten draußen auf dem Kasernenhof lautstark ihren sauer verdienten Feierabend begrüßte, schob Oheim erschrocken seinen Jackenärmel hoch und schaute auf seine Armbanduhr. Es war Zeit zu gehen. Zum Abschied küsste er mich fest auf die Stirn und nahm mich in die Arme. Nie zuvor waren wir uns so nah gewesen. »Ich werde Dich lieb behalten, Fürst Myschkin«, versprach er mir, »und jetzt geh Deinen Weg, marsch, marsch!« Nachdem Oheim den Schulungsraum verlassen hatte, lief ich zunächst unschlüssig im Zimmer auf und ab und stürzte schließlich wie von Sinnen zum Fenster. Als Oheim die Fensterriegel hörte, drehte er sich noch einmal nach mir um und rief: »Und räum den Seminarraum auf, Fürst.« Es lag keine Wehmut in seiner Stimme, eher Albernheit und gute Laune. Ich schaute ihm noch lange nach, bevor ich das Fenster schloss und mich unglücklich und einsam gegen den großen Heizkörper neben dem Lehrpult lehnte. Es war bereits dunkel, als ich anfing, den Seminarraum wieder in Ordnung zu bringen.

Ich habe Oheim seither nur ein einziges Mal wiedergesehen. Er kam in Begleitung dreier finster dreinblickender Herren. Die beiden jungen Feldwebel an Oheims Seite erkannte ich an ihrem Weißzeug und Ärmelabzeichen als Murnauer Kettenhunde. Ein Offizier im dunklen Dienstanzug, der sich später als Kölner Geheimdienstagent herausstellte, führte den Tross an. Als ich Oheim sah, jubilierte ich innerlich. Ich war mir sicher, dass er viel zu erzählen hatte, und brannte darauf, seine Geschichten zu hören. Außerdem hatte ich auch so einiges zu prahlen. Erwartungsvoll lief ich dem seltsamen Vierergespann entgegen.

Als Oheim mich jedoch bemerkte, war sein Blick so kalt und abweisend, dass ich meinte, er wäre mir spinnefeind. Mit versteinerter Miene warf er mir einen kaum wahrnehmbaren Augenaufschlag zu. Da ich nicht verstand, was er mir damit andeuten wollte, antwortete ich mit einem verunsicherten Lächeln. Erst sein nachdrückliches, wenngleich wieder kaum merkliches Kopfschütteln, rüttelte meine Alarminstinkte wach. Ich spürte, dass ich gerade dabei war, nach einem vergifteten Becher zu greifen. Ich unterdrückte mein Lächeln und tat so, als ob ich Oheim nicht kennen würde. Anstatt ihn mit einem herzlichen Horridoh willkommenzuheißen, passierte ich den Trupp mit einem ordnungsgemäßen, aber beiläufigen Gruß. Für den Bruchteil einer Sekunde kreuzten sich alle Blicke: Es wurden Kappenränder getippt und Köpfe geneigt. Dann war es vorbei. Obwohl ich die Gefahrenzone heil umschifft hatte, machte sich plötzlich eine irrationale Furcht in mir breit und ließ ziellos einen Fuß vor den anderen setzen. Erst jenseits des Kasernenschlagbaums kam ich zum Stehen und schaute zurück. Doch die seltsame Prozession war jedoch längst in einem der Dienstgebäude verschwunden.

Am nächsten Tag schlugen die beiden Feldjäger und der Geheimdienstoffizier mit einem fünfköpfigen Verstärkungstrupp erneut bei uns auf, um unter den Soldaten des Mittenwalder Gebirgsjägerbataillons Befragungen im Fall Oheim vorzunehmen. Ich selbst blieb vor den Verhören glücklicherweise verschont, aber kurz nach dieser mysteriösen Stippvisite schied Oheim aus dem Dienst. In der Offiziersmesse erzählte man sich schreckliche Geschichten über ihn, die ich lieber nicht hören wollte. Einige behaupteten zynisch, er habe den Dienst freiwillig quittiert, weil ihm die dünne Luft auf der Hardthöhe nicht bekommen sei, andere machten ein ärztliches Gutachten für sein plötzliches Ausscheiden verantwortlich, während wieder andere die Rede in Umlauf brachten, dass der Geheimdienst tatsächlich Leichen in Oheims Keller gefunden hätte. Ich hingegen glaube nach wie vor an seine Unbescholtenheit sowie an seine Lehre von einer kleinen, sehr sehr kleinen Welt. Auch wenn diese Regel wahrscheinlich nicht für Schatten und Tote gilt, hilft mir der Gedanke, mich Elli ganz nah und verbunden zu fühlen. Ich brauche nur mit dem Finger auf der Landkarte dem blauen Band der Isar zu folgen oder den Telefonhörer abzunehmen und neun Ziffern einzugeben.

Ich zitterte, als ich seine Nummer wählte, und meine Finger hinterließen feuchte Abdrücke auf den schwarzen Tasten. Es war fast wie damals im Institut, als mir mein Bewusstsein Streiche spielte, die nicht auf der physischen Realität gründeten. Meissmann konnte sowohl meine vegetativen und somatischen Körperfunktionen als auch mein intuitives Schlussfolgern beeinflussen. Er ließ mich schwitzen, obwohl ich fror, zwang mich zu unwillkürlichen Bewegungen oder redete mir ein, etwas zu mögen, was ich eigentlich als gefährlich, schmerzhaft oder abstoßend beurteilt hätte. So ähnlich erging es mir nun bei dem Gedanken, Elli in nur wenigen Sekunden am Telefon sprechen zu können. Vorsichtshalber hatte ich mir alles aufgeschrieben, was ich sagen wollte, aber es stellte sich schnell heraus, dass es auch ohne Gedächtnisstütze ging. Wie an den beiden Abenden zuvor sprachen wir eine gemeinsame Sprache, die uns vielleicht nicht nur verband, sondern sogar ureigen war.

Tomo hat mich immer und in jeder Sprache verstanden, wenngleich er nur selten guthieß, was ich dachte, meinte, sagte und tat. Er konnte mich trösten, ohne mich dabei zu verhätscheln, tadeln, ohne zu verletzen. Er fegte mit mir krakeelend durch die langen Korridore des Instituts und teilte mit mir Momente ohne Worte.

Wir redeten und schwiegen dabei in einer Sprache, die nur uns beiden gehörte, da niemand sonst die selbsterdachten Worte verstand oder die eigentümliche Grammatik beherrschte. Später als ich mich dem Thema von einer kindlich wissenschaftlichen Seite her zu nähern versuchte, nannte ich sie Ursprache oder hontonihontoniyorusu, was aus der Ursprache ins Deutsche übersetzt so viel heißt wie ›echt‹. Unsere Worte neigten dazu entweder sehr kurz oder sehr lang zu sein, wobei sich die Längen dabei in der Regel aus Dopplungen und verschiedenen Wortanhängen ergaben. So auch das Wörtchen hontonihontoniyorusu. Durch die Wiederholung des Wortstamms verlieh man der Aussage Kraft und Nachdruck, während der Wortschweif ›yorusu‹ das Wort einfach nur in den melodischen Singsang unserer Sprache eingliederte.

Es gab noch jede Menge anderer Wortendungen und bemerkenswerterweise lag die Betonung stets auf dem angehängten und nie auf dem eigentlich sinntragenden Teil des Begriffs. Worte für ich, du, er, sie, es, wir, ihr und sie gab es nicht, sondern nur die Möglichkeit, das ›eine‹ vom ›anderen‹ abzugrenzen. Wenn man damit eine bestimmte Person meinte, musste man auf denjenigen zeigen oder dessen Namen nennen. Mein Versuch, die Struktur der Sprache in allgemeine Regeln zu fassen, hört es sich komplizierter an, als es tatsächlich war, denn Tomo und ich waren immer allein und viele Dinge verstanden sich von selbst und ganz ohne Reden.

Das kürzeste Wort bestand aus nur einem einzigen Buchstaben und bedeutete so viel wie: ›Das ist mein voller Ernst‹ oder ›Ich meine das aus tiefstem Herzen‹. Diese Redewendung benutzten wir oft. Auch das Wort für ›jemanden oder etwas lieben‹ bestand nur aus einem einzigen Laut. Um die Bedeutung zu verstärken, wurde jedoch nicht der Wortstamm verdoppelt, sondern die Endung für starke Gefühle angehängt: nana.

~ Wilhelm Fenner

Donnerstag, 2. Jan.. 1992
Bezugsdatum
Donnerstag, 2. Jan.. 1992
Kapitel
8
Dateinummer
802