Über die Antarktis weiß ich nicht besonders viel. Nur dass der Professor oft unzufrieden war, weil die Mittel des Instituts keine Forschungsreise zum Südpol gestatteten. Für eine so großangelegte Expedition in eine noch dazu so ausgesetzte Region mangelte es einfach an allem, an Zeit, an Personal und an der Risikobereitschaft möglicher Sponsoren.
Ich schaute mir eine Bildergalerie neben der großen Fotowand an und entdeckte einige Luftaufnahmen von Schneefeldern, Eisseen, Berggipfeln, Felsgraten und weiten, unwirtlichen, menschenleeren Tälern. Hastig überflog ich die neben den Bildern angebrachten kleinen Beschriftungstafeln, bekam jedoch ein mulmiges Gefühl, als ich plötzlich drei mir wohlbekannte Namen entdeckte: Prinzessin Martha, der Name meiner Mutter, und Boreas und Passat, die Namen der Engel, die meine Mutter damals mit einem roten Blütenregen aus ihrer Heimat verabschiedet hatten, als sie nach Deutschland aufgebrochen war. Den Informationen auf den Tafeln zufolge war Prinzessin Martha jedoch der Name einer Küstenregion in der Antarktis und Boreas und Passat zwei kleine Flugboote, die über diesem Gebiet zur symbolischen Inbesitznahme durch die Nazis kleine metallene Reichsflaggen abgeworfen hatten.
Ich berührte vorsichtig die Fotos und die daneben aufgehängten Infoschildchen. Ich hatte das Gefühl, mich davon überzeugen zu müssen, dass ich nicht träumte. Wieso trug ein eisiger Küstenstreifen den Namen meiner Mutter? Was klang plausibler? Engel? Oder Flugboote? Und was hatte es mit den roten Blütenblättern auf sich? Waren sie am Ende aus Metall und trugen ein auf die Spitze gekipptes schwarzes Hakenkreuz in der Mitte? Ich tastete mich an der Wand entlang, bis ich zu der Vitrine kam, unter der ein Modell des an der Expedition beteiligten Forschungsschiffs ausgestellt war. Die Vitrine war im Prinzip ein auf den Kopf gestelltes Aquarium auf einem Sockel. Ich ging einmal darum herum und betrachtete das Schiff von allen Seiten. Auf dem Heck befanden sich die beiden erwähnten Flugboote, an einem Mast in der Mitte wehte eine rote Flagge und vorne am Bug prangte ein Schriftzug: Schwabenland. Diese Aufschrift verwunderte mich, da das Schiff meiner Mutter laut Miladas Erzählungen den Namen Schwarzenfels getragen hatte. Ich schaute mir erneut die Bilder an der Wand an und wurde schließlich auf eine Fotografie aus dem Jahre 1915 aufmerksam, die den Stapellauf der Schwabenland zeigte. Das Bild war zwar ein wenig unscharf und verkratzt, doch wenn man wusste, wonach man suchte, konnte man den Schriftzug an der Bordwand entziffern: Schwarzenfels.
Das Puzzle war komplett und die Teile lagen wohlsortiert vor mir. Ich musste sie nur noch zusammensetzen. Doch in diesem Moment bemerkte ich, dass ich in dem Getümmel der anderen Museumsbesucher Elli verloren hatte. So schnell es ging, bahnte ich mir meinen Weg durch die Menschenmassen Richtung Ausgang. Ich schob ganze Schulklassen zur Seite, zwängte mich zwischen den Vitrinen hindurch und stolperte durch eine Besuchergruppe, die gerade den Erklärungen ihres Museumsführers lauschte, bis ich schließlich Eliot entdeckte. Er hatte inzwischen ebenfalls bemerkt, dass er mich verloren hatte, und ließ gerade seinen Blick wie den Lichtkegel eines Suchscheinwerfers über die Köpfe der Besucher schweifen. Als er mich erkannte, winkte er mir zu. Ich entschuldigte mich bei dem Museumsführer und hastete weiter. Auf Eliots Frage, ob ich etwas Interessantes entdeckt hätte, schüttelte ich nur den Kopf. Er bohrte nicht weiter nach, sondern zog mich wieder an dem unsichtbaren Faden hinter sich her durch die übrigen Ausstellungsräume.
Was ich über Prinzessin Martha, Boreas, Passat und die Schwarzenfels gelesen hatte, bereitete mir jedoch so starkes Kopfzerbrechen, dass ich Eliot später beim Essen fragte, ob er schon einmal von der Deutschen Antarktischen Expedition gehört habe.
»Du meinst die Deutsche Antarktische Expedition von 1938?«, lautete seine Gegenfrage. Ich nickte und stocherte in meinem Gemüse herum.
»Natürlich«, fuhr er fort: »Eine spannende Geschichte. Darüber gab es sogar einmal einen Fernsehbericht. Wie hieß das Schiff doch gleich?«
»Schwarzenfels«, murmelte ich.
»Schwarzenfels?«, wiederholte Elli nachdenklich: »Nein, sie hieß nicht Schwarzenfels. Sie hieß – Moment, ich hab’s gleich – Schwabenland. Genau, sie hieß Schwabenland.« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, deutete er deutete mit seiner Gabel auf mich. Ich nickte wieder und ließ ihn weitererzählen: »Nach dem Schiff wurde doch auch die dortige Region benannt: Neuschwabenland.« Plötzlich beugte sich Elli verschwörerisch zu mir herüber und fügte er in einem Flüsterton hinzu: »In unseren Geheimarchiven in Grafschaft gibt es sogar Akten über diesen verwunschenen Ort.«
»Verwunschen?« Ich lachte.
»Ja, verwunschen«, protestierte Elli: »Um diesen Ort ranken sich unzählige Mysterien: Dort sollen Ufos gesichtet und die erfrorene Leiche einer prähistorischen oder außerirdischen menschlichen Lebensform entdeckt worden sein. Ich habe die Akten nie gesehen, sondern kenne nur das Hörensagen und den Fernsehbericht.«
»Und was weißt Du über diesen gefrorenen Leichnam?«
»Nichts, nur dass man im Dritten Reich angeblich versucht haben soll, eine aus den Eingeweiden der Eismumie geborgene Eizelle im Reagenzglas zum Leben zu erwecken. Aber das gehört alles in den Bereich der Märchen, Mythen und Legenden.«
»Hatte die Mumie einen Namen?«
»Du meinst, ob man beim Durchsuchen ihrer Kleidung einen Ausweis gefunden hat?«, scherzte Eliot: »Nein, ich denke nicht. Vielleicht hat man sie Frau Schwabenland getauft. So wie man der letztes Jahr im Ötztal gefundenen Gletscherleiche den Kosenamen Ötzi verpasst hat.«
Vielleicht wurde sie aber auch an der Prinzessin-Martha-Küste gefunden und man hat ihr den Namen Prinzessin Martha gegeben, dachte ich bei mir, während Eliot weiter über den Mann aus dem Eis redete und dabei sein Essen in sich hineinstopfte. Seine unverkrampfte Art wirkte ansteckend und ich beschloss, die Sache mit Martha, Boreas und Passat gut sein zu lassen. Wahrscheinlich war die Geschichte nie mehr gewesen als Miladas gutgemeinter Versuch, mich über mein Anderssein hinwegzutrösten, und vielleicht hatte sie sich damals tatsächlich von der Geschichte des Expeditionsschiffs Schwabenland inspirieren lassen.
Nachdem ich meine Gedanken ein wenig geordnet hatte, fiel es mir leichter, Ellis Ausführungen über den Mann aus dem Eis zu folgen, und ich ließ mich schließlich sogar dazu hinreißen, ihm zu erzählen, dass ich derjenige gewesen wäre, der damals die Eismumie aus der Gletscherspalte geborgen hätte. Elli war verblüfft und wollte alles ganz genau wissen. Es fiel mir nicht schwer, einen plausiblen Bergungsbericht zusammenzuschustern, aber ich schmückte die Schilderung absichtlich mit immer absurderen Wendungen und Details aus, bis er meine Lügengeschichte schließlich durchschaute. Er lachte und versprach Rache. Unsere ausgelassene Stimmung hielt noch den ganzen Tag über an und die vollkommene und unbeschwerte Gegenwärtigkeit verdrängte schließlich all mein Grübeln über die Vergangenheit.
Doch als er mich abends am Bahnhof absetzte und sich lediglich mit einem müden Winken und einem unverbindlichen Gruß von mir verabschiedete, endete die Gegenwart so abrupt, als hätte es sie nie gegeben. Ich wartete noch, bis Eliots Rücklichter mit dem Glitzern der Nacht verschmolzen, bevor ich die breiten Treppen, die in den hinteren Teil des Bahnhofs führten, hinauf stieg. Eine der gestrandeten Seelen, die dort auf den kalten Stufen ihren Tag absitzen und ihren Kummer mit Wein verdünnen, griff nach mir und beschimpfte mich. Ich machte mich los und ging wortlos weiter, um mich von den hohen Hallen des Hauptbahnhofs schlucken zu lassen, wo ich, nachdem ich den Hindernisparcours aus Menschen und Gepäckstücken und Menschen mit Gepäckstücken erfolgreich gemeistert hatte, schließlich mein Gleis erreichte. Da für den Zug nach Mittenwald jedoch eine Verspätung durchgesagt wurde, stellte ich mich ans Ende des Bahnsteigs, wo die Menschen und die Stimmen aufhörten und die Einsamkeit begann, und zählte die Dinge.
Der Tag hätte an dieser Stelle enden können, doch es geschahen noch zwei weitere Ereignisse: Eine Durchsage informierte die Fahrgäste nach Mittenwald, dass der Zug aufgrund einer Gleisstörung leider ausfalle, der nächste aber aller Voraussicht nach pünktlich abfahren werde, und als sich daraufhin alle am Gleis wartenden Menschen Richtung Bahnhofshalle in Bewegung setzten, eilte eine einzelne schmale Gestalt in einem halblangen, schwarzen Wollmantel in entgegengesetzter Richtung auf mich zu. Es war Eliot. Er hatte in jeder Hand ein Getränk und rief, als er mich sah, laut meinen Namen. Ich winkte und lief ihm entgegen.
»Was machst Du hier?«, fragte ich erstaunt. Ich hatte ihn doch wegfahren und aus meiner Gegenwart verschwinden sehen.
»Ich hörte auf der Heimfahrt im Radio von Zugausfällen«, antwortete er und drückte mir einen Becher mit heißem Kakao in die Hand: »Deswegen machte ich kehrt und schaute mir die Abfahrtszeiten auf der großen Bahnhofstafel an. Als ich sah, dass Du hier festsitzt, dachte ich, dass Dir ein heißes Getränk und ein wenig seelischer Beistand gut tun könnten.«
Ich lachte und probierte einen Schluck von dem Automatenkakao. Er schmeckte scheusslich, aber die Wärme tat gut. Eliot setzte sich auf eine zwischen einem riesigen Pfeiler und einem summenden Stromkasten aufgestellte Sandkiste, tat so, als ob die Bahnhofslichter Sterne wären, und las daraus unsere Zukunft. Er redete dabei einen solchen Unsinn, dass ich davon Seitenstechen bekam. Denn am Ende spielte es keine Rolle, wer ich war, ein Dämon aus einer anderen Welt oder die Auferstehung einer prähistorischen, urmenschlichen Lebensform, solange nur Tomo derjenige war, der er immer war, mein bester Freund, hilfsbereit, witzig und immer geradeaus.
Ich bedauerte fast, dass das Bahnpersonal den nächsten Zug tatsächlich pünktlich vorfahren ließ. Eliot nahm mir den leergetrunkenen Becher aus der Hand und verabschiedete sich mit dem gleichen müden Winken wie zuvor. Doch dieses Mal wirkte es nicht deprimierend auf mich, da ich nun verstand, dass gerade in der Beiläufigkeit das stumme Versprechen eines baldigen Wiedersehens lag: ›Bis demnächst‹, lauteten die unausgesprochenen Worte: ›Wir sehen, sprechen oder hören uns sicherlich bald wieder.‹ Deswegen beließ ich es ebenfalls bei einem beiläufigen Kopfnicken und kletterte in den Zug.
Ich hätte rundum glücklich sein sollen, aber das Gefühl, in Eliot den verloren geglaubten Teil meiner Seele wiedergefunden zu haben, hatte auch eine Kehrseite: die Angst, Verrat an meiner Freundschaft zu Tomo zu begehen. Denn wer war Tomo wirklich? Eliots schlafwandelnde Seele, meine kindliche Vorstellungskraft oder vielleicht doch einfach nur Tomo? Ich versuchte, mich mit dem Gedanken zu trösten, dass unsere Seelenverwandtschaft vielleicht ohnehin nur eine falsch verstandene Abhängigkeit gewesen war. Denn das, was uns am meisten verband, war zugleich das, was uns von allen anderen Menschen auf dieser Erde trennte: Wir waren keine Menschen und brauchten einander, um unsere Ausgestoßenheit vom Rest der Welt ertragen zu können …
~ Wilhelm Fenner